Grenzgänge Band 1. Studien in philosophischer Anthropologie, hgg. von Reiner Anselm, Martin Heinze und Olivia Mitscherlich-Schönherr
Walter De Gruyter, Berlin/Boston 2019, ISBN 978-3-11-059993-0, 352 Seiten, Hardcover gebunden, Format 23,5 x 16,2 cm, € 109,96 / $126.99 / £100.00
Die ›ars moriendi‹, die Kunst, gut zu sterben galt in früheren Jahrhunderten als Frucht einer lebenslangen geistlichen Übung. Die mit der englischen Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Strode Saunders und der in der Schweiz geborenen US-amerikanischen Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross verbundene Hospizbewegung und die daraus hervorgehende Palliativmedizin haben den Gedanken eines guten Sterbens aufgegriffen, Sterbehäuser nach dem Vorbild des St. Christophers Hospice in London eröffnet und die moderne Sterbeforschung initiiert. Die Vorstellung vom guten Sterben war und ist in der Hospizbewegung nicht selten mit den von Kübler-Ross im Gespräch mit Sterbenden erschlossenen fünf Phasen des psychischen Erlebens beim Sterben verbunden, insbesondere mit der Phase der Zustimmung. Dass aber bei weitem nicht jedes Sterben einverständig endet und der Aufschrei gegen den Tod allgegenwärtig bleibt, kann jeder Seelsorger bezeugen. Unter anderem deshalb hat der heute im Städtischen Klinikum Wolfenbüttel als Krankenhausseelsorger tätige Pfarrer Volkmar Schmuck schon 2012 eine pastoralpsychologische Supervision der Sterbebegleitung gefordert, die in kreatürlicher Solidarität zum Anwalt für ein Menschenbild wird, das die existentielle Fragmentarität menschlichen Lebens genauso betont wie die Sehnsucht nach Transzendenz (vergleiche dazu Volkmar Schmuck, Wider die Tyrannei des gelingenden Sterbens. In: Wege zum Menschen, November 2012, Band 64, Ausgabe 6, S. 515 – 40).
Nach Olivia Mitscherlich-Schönherr ist es das Ziel des vorliegenden Bandes‹, „unterschiedliche Vorstellungen über gutes bzw. gelingendes Sterben, die unser gegenwärtiges Verhältnis zum Sterben und zum Tod bestimmen, zu reflektieren und kritisch zu diskutieren“ (Olivia Mitscherlich-Schönherr S. 2). Sie favorisiert trotz Schmucks Intervention den Begriff des gelingenden Sterbens und zieht ihn dem des guten Sterbens vor, weil er nach ihrem Verständnis neben den Aspekten der Selbstbestimmung und der aktiven Lebensführung, die im Begriff des guten Sterbens im Vordergrund stehen, auch die pathischen Aspekte des Widerfahrenden abdeckt, individualethische mit moralischen, politischen und lebensphilosophischen Fragen verschränkt und den Komplex anthropologischer Fragen nach einer genuin menschlichen oder personalen Form des Sterbens anklingen lässt. Die von den Beiträgern des Bandes vertretenen Disziplinen geben den Rahmen des Diskurses vor; er konzentriert sich im Wesentlichen auf das Hier und Jetzt des in Europa geführten Diskurses über das Sterben unter anderem in der Palliativmedizin, der Gerontologie, der Philosophie und der Ethik. Fernöstliche, antike und überkommene christliche Auffassungen findet man nur am Rande. Damit wird das europäische Hier und Jetzt trotz aller Transdisziplinarität und entgegen der beschworenen Offenheit zur Norm. Man kann sich deshalb fragen, ob der skizzierte Rahmen nicht die Ergebnisse des Nachdenkens vorwegnimmt, auf heute gesuchten Formen authentischen individuellen Sterbens fokussiert und über Jahrhunderte bewährte Formen wie das seelsorgerisch begleiteten Sterben in den Hintergrund drängt.
Im ersten Kapitel diskutieren Hans-Peter Krüger und Andrea Esser ein nicht-reduktionistisches Verständnis des Todes, das den Tod weder in das Leben integrieren will, noch ihn als das schlechthin Andere dem Leben entgegenstellt, noch das ästhetisch-praktische Wissen um die je eigene Sterblichkeit verdrängt.
Eine zweite Gruppe von Aufsätzen fragt nach dem Gelingen des menschlichen Lebens im bzw. angesichts des Sterbens. Für Thomas Rensch setzt das Gelingen des Lebens im hohen Alter das Begreifen der eigenen Endlichkeit und der tief greifenden Verklammerung von Endlichkeit und Sinn voraus. Zum gelingenden Sterben gehört für ihn weiter ein ganzheitliches Lebensverständnis, das Begreifen unserer einmaligen Individualität und Lebenszeit und ihrer sinnkonstitutiven Verbindung, die gesellschaftliche Anerkennung des Alterns, der Hochaltrigkeit und Hilfsbedürftigkeit im Hilfe- und Pflegefall als zentraler sozialer und humaner Aufgabe und die gesellschaftliche Institutionalisierung der Frage nach einem gelingenden Leben im Altern und im hohen Alter. Héctor Wittwer fragt, ob unser Leben notwendigerweise fragmentarisch ist, weil wir sterben müssen und grenzt sich dann von Henning Luthers Verknüpfung von Vollkommenheit und Ganzheit ab, die er in seinem einflussreichen Aufsatz ›Leben als Fragment‹ aus dem Jahr 1991 vorgeschlagen und der er seine Vorstellung vom Leben als Fragment gegenüber gestellt hat: „›Gegen das Ideal der Ganzheit und Vollkommenheit möchte ich die Vorstellung vom Leben als Fragment ins Spiel bringen‹“ (Henning Luther nach Héctor Wittwer S. 144). Luther verbindet in seinem Verständnis von Fragment das Unvollendete und Unvollkommene, das, was noch nicht oder nicht mehr ‚ganz‘ ist. „Diese Vermengung der beiden Aspekte Unvollendetsein und Unvollkommenheit ist jedoch problematisch, weil sie nicht mit der Bedeutung übereinstimmt, die das Wort ‚Fragment‘ im üblichen Verständnis hat“ (Héctor Wittwer S. 144 f.). Wittwer erklärt sich die verbreitete Meinung, dass viele Menschen zu früh sterben, alternativ erstens durch die Beobachtung, dass manche Menschen nicht alle Phasen der Individualentwicklung zwischen Geburt und Tod erreichen. „Zweifellos wird die Klage darüber, dass ein 25-Jähriger zu früh gestorben ist, nicht auf Widerspruch stoßen“ (Héctor Wittwer S. 147 f.). Zweitens hört ein Mensch nie auf, sich etwas zu wünschen oder etwas tun und erreichen zu wollen und drittens kann ein menschliches Lebens nicht so vollendet sein wie eine erzählte Geschichte. „Wäre ich nur der Autor meines Lebens, dann könnte ich [… meine] Geschichte zu dem Zeitpunkt enden lassen, der mir am passendsten erschiene. Tatsächlich bin ich aber nicht der Autor meines Lebens, sondern dessen Subjekt. Für denjenigen, der sein Leben führt, ist das Leben […] stets unvollendet“ (Héctor Wittwer S. 149).
Eine dritte Gruppe von Autor_innen rückt die Frage nach einer gelingenden Begleitung beim Sterben über den Tod hinaus ins Zentrum, darunter auch Jean-Pierre Wils. Wils geht von der Beobachtung aus, dass die Gegenwart der Toten prekär geworden ist und sich die Orte ihrer Aufbewahrung vervielfältigt haben. „Der einstige Friedhof, wo die Lebenden und die Toten sich trafen, ist […] zum Gegenstand unterschiedlicher und neuer Gestaltungen geworden. Es gibt Friedhöfe für jeden Geschmack. Am einen Ende der Skala findet eine Renaturierung der Toten statt. Wälder und Meere, Wiesen und Berge laden zum Ausstreuen der Asche ein und versprechen einen Trost, der sich der Semantik der Tradition, vor allem der christlichen, weitgehend nicht mehr bedient […]. Am anderen Ende der Skala stoßen wir auf architektonische Großprojekte, auf geplante Totentürme mit gigantischem Ausmaß, also auf Friedhofs-Wolkenkratzer, wie in Verona oder Mailand, auf stockwerkartig angelegte unterirdische Gewölbe zur Sammlung der Toten am Ort ihrer Auferstehung, wenn der Messias kommt, wie in Jerusalem […]. Auf den klassischen Friedhöfen manifestiert sich inzwischen die ›Gesellschaft der Singularitäten‹ (Andreas Reckwitz 2017), indem die Grab- und Gedächtniskultur ihren Authentizitätsimperativ bis in die postmortale Phase verlängert. Hier findet eine ‚Verwilderung des Gedenkens‘ statt, um eine Formulierung von Philippe Ariès zu variieren, womit gemeint ist, dass fortan keine Deutungshoheit mehr existiert, die Riten, Symbole und Sprachspiele homogenisiert. Die Hegemonie über die Erinnerungspraktiken ist verschwunden. Die Ästhetik des Totengedächtnisses hat sich verflüssigt. Vor diesem Gedenken macht auch die Digitalisierung keinen Halt: Auf etlichen Grabsteinen befinden sich bereits QR-Codes – Quick-Respons-Codes –, die mittels einer App gelesen werden und den Nutzer mit einer Website verbinden, die die Lebensgeschichte der dort liegenden Person erzählt“ (Jean-Pierre Wils S. 220).
Damit wird die Gedächtniskultur anarchisch: Auf der einen Seite steht das schnelle Verschwinden und eine Vergessensbeschleunigung – Tote außer Sicht sind Tote ohne Erinnerungsstütze –, auf der anderen Seite suchen Betroffene und Trauernde Zuflucht zu eigenen Gedächtniskulturen unter anderem an kleinen Hausaltären. „Aber auch die Aufbewahrungen der Toten in ihren Urnen in privater Umgebung, sobald die Friedhofspflicht aufgehoben ist, oder die Verdichtung der Totenasche zu Zierraten, sogar ihre Eintätowierung als verflüssigte Asche unter die Haut, legen Zeugnis von dieser idiosynkratischen Gedächtniskultur ab. Die Nähe der Toten wird hier zu einer Form permanenter Anwesenheit, als wäre die ›häusliche Religion‹ […] wiedergekehrt“ (Jean-Pierre Wils S. 221f.). Wenn der Tote keinen Ort mehr hat, „muss die Erinnerung an ihn notwendigerweise introvertiert werden. Diese Reduktion auf eine mentale Erinnerungsspur führt notwendigerweise zu einem Triumph der Zeit über den Raum. Aber während der Raum vergleichsweise stabil ist und in aller Regel mit anderen in kommunikativer Absicht geteilt wird, weist die Zeit des Erinnerns eine solche Robustheit nicht auf“ (Jean-Pierre Wils S. 230f.). Unter anderem deshalb braucht es nach Wils Orte der Erinnerung. Sie dienen den Einzelnen als Stützen für die individuelle Erinnerung und vermitteln der Gemeinschaft kulturelle Kohärenz.
Den Abschluss des Bandes bilden Aufsätze, die sich mit der Frage nach einer guten politischen Ordnung der Sterbehilfe auseinandersetzen.
ham. 27. Dezember 2019