Von Pia Beckmann (Herausgeberin) mit Texten von Pia Beckmann, Sabine Emmrich, Julia Hackober, Friederike Haupt, Philo Holland, Vivian Kube, Andreas Nentwich, Uli Rothfuss, Angelina Schülke, Christoph Tannert, Pauline Weller, Porträts von Anke B., Erika Beck, René Dexheimer, Uta Eisenhardt, Ronny Hemmann, Muhterem Konal, Sabine Schummy, einem Grußwort von Hans-Michael Borges, einem Gespräch zwischen Pia Beckmann und Winfried Muthesius und Werken von Winfried Muthesius
Verlag für moderne Kunst, Wien, 2020, ISBN 978-3-903796-13-3, 160 Seiten, 48 Farbabbildungen, Klappenbroschur, Format 24 x 17 cm, € 24,00
Im Kriminalgericht Berlin-Moabit mit seinen heute über 90 Sitzungssälen und um die 2100 Mitarbeitern (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Kriminalgericht_Moabit) werden seit Anfang des 20. Jahrhunderts Prozesse wie dir gegen Wilhelm Voigt, den „Hauptmann von Köpenick“ (1906), gegen die Soldaten des Freikorps, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet hatten (1919), gegen Arthur Schnitzler wegen des „unsittlichen Inhalts“ seines Theaterstücks ›Reigen‹ (1921), gegen den früheren Staats- und Parteichef der DDR Erich Honecker wegen der Mauertoten (1992) und wegen des Goldmünze-Raubs aus dem Bode-Museum vom 27. März 2017 (2019/20) geführt und damit Fragen der Menschen-, Eigentums- und Freiheitsrechte verhandelt. Opfer und Täter erhoffen sich Wertschätzung, faire Prozesse, gerechte Urteile und einen offenen Weg in die Zukunft.
Als der unter anderem durch seine „golden fields“ (vergleiche dazu https://muthesius.com/werk/gold/) an Nichtorten wie einer Straßeninsel am Bahnhof Zoo, über dem Schlafplatz eines Obdachlosen, unter einer Brücke in Moabit, in Unterführungen und U-Bahnstationen (https://muthesius.com/werke/himmel-unter-berlin/), in Kirchen wie der St. Matthäuskirche (vergleiche dazu http://www.stiftung-stmatthaeus.de/service/notabene/artikel/winfried-muthesius-ausstellung-in-der-st-matthaeus-kirche/) und in der Glyptothek München (vergleiche dazu https://muthesius.com/werke/tabula-aurea/) bekannt gewordene Künstler Winfried Muthesius 2019 im zweiten Anlauf die Erlaubnis bekam, seine „golden fields“ auch im Kriminalgericht und der JVA Moabit zu installieren (vergleiche dazu https://muthesius.com/werke/free-kunstaktion-im-kriminalgericht-berlin-moabit/ und https://muthesius.com/free-audiokommentar-zur-kunstaktion-in-kriminalgericht-und-jva-moabit-bezirk-berlin-mitte/), ging es ihm auch dort darum, Zeichen und kleine Akzente an Orten zu setzen, an denen man sie nicht erwartet.
„Gold glänzt ja besonders intensiv, wenn kein Licht da ist, in der Nacht, im Dunkeln. So entstehen an manchen trostlosen Orten sehr interessante Konstellationen …: Lichtpunkte, die Glanz abgeben, an ihre Umgebung und auch an die Menschen, die sich dort aufhalten“ (Winfried Muthesius S. 145). Der Titel der Installation „›free‹ spielt zunächst auf ›Gefangen-Sein‹ und all das an, was im Gericht passiert. Aber: Wir sind alle in unserem Leben gefangen, selbst wenn wir uns für frei halten und das Gefühl haben, wir könnten alles tun, was wir wollen. Wir sind jeden Tag aber so etwas von gefangen in unseren eigenen kleinen Abläufen, in den Dingen, die wir unbedingt zu brauchen glauben. Wenn wir ehrlich sind und mal einen Schritt zurücktreten, dann sehen wir, manches könnte auch anders sein … Von daher steckt hinter ›free‹ die Idee, sich ein Stück frei zu machen von scheinbaren Automatismen. Man kann die Inspiration gewinnen, sein Leben zu überdenken und vielleicht auch mal etwas zu verändern. Sich ein Stück Freiheit erobern, im Kleinen, aber auch im Großen“ (Winfried Muthesius S. 144 f.).
Der jetzt zur Installation in Moabit vorgelegte Katalog zeichnet sich durch seine konsequente Ausrichtung an der Betrachterperspektive und die Ausweitung der Freiheitsthematik auf aktuelle Fragestellungen aus: So ließ sich die Vizepräsidentin des Kriminalgerichts durch die „golden fields“ dazu anregen, sie mit den hohen, „glänzenden“ Werten von Freiheit und Recht zu vergleichen. Die vom Künstler gewählten Mittel passen besonders gut zu Recht und Freiheit, „weil die Installation nicht kreischt, nicht schrill ist. Sie drängt sich – wie die Justiz – nicht vor und greift nicht an. Die Felder suchen sensibel Aufmerksamkeit, ohne nach ihr zu heischen“ (Sabine Emmrich S. 18). Die Reinigungskraft Muhterem Konal hat auf den goldenen Feldern kurze Liebesbriefe entdeckt und geht schon deshalb besonders vorsichtig mit ihnen um, wenn sie sie putzt. Gold ist für sie aber auch Zukunft und gleichbedeutend mit Geld. „Wenn man es hat, ist es schön“ (Muhterem Konal S. 44). Die Mutter weiß, wovon sie spricht. Sie hat ihre Söhne großteils allein großgezogen und musste immer Geld verdienen, um die Familie über Wasser zu halten. „Meine Heimat ist das Schwarze Meer. Aber das Gericht ist mein Zuhause“ (Muhterem Konal S. 45).
Die Rechtsreferendarin Vivian Kube und die Juristin Pauline Weller beleuchten die Versammlungsfreiheit und ihre Grenzen in Zeiten der Corona-Pandemie. Sie kommen zu dem Schluss, dass sich die demokratischen Freiheitsrechte als widerstandsfähig erwiesen haben und die Versammlungsfreiheit dank engagierter Bürger gestärkt aus der Krise hervorgegangen ist. Der ehemalige Kriminalbeamte und derzeitige Rektor der Akademie Faber-Castell in Stein bei Nürnberg Uli Rothfuss zeichnet nach, wie gewaltbereite Jugendliche durch kunst- und kulturpädagogische Ansätze dazu angeregt werden, über ihr Leben nachzudenken und dabei die Freiheit gewinnen, ihre Verhaltensmuster aufzubrechen und zu ändern.
Schließlich beschreibt der Kunsthistoriker und Geschäftsführer des Künstlerhauses Bethanien Christoph Tannert die „golden fields“ als ein an die Betrachter gebundenes Format und als ‚work in progress‘: „Muthesius’ golden fields sind ein hochflexibles Format, das vor Ort jeweils kontextbezogen ausgearbeitet wird. Wo der Künstler in Zukunft neue golden fields setzen wird, ist genauso offen, wie die Gedanken der Besucher, die sein Kunstwerk durchwandern, frei sind. Einmal gesehen, bekommt man die Umstände der golden fields-Verteilung nicht so schnell aus dem Kopf. Wird das Erleben weitergegeben, übernehmen die Zuhörenden womöglich eine Sichtweise, verschiebt sich die Deutung um ein Winziges. So erweitert sich auch der Freiheitsraum des Erlebens, sofern wir selbst angesteckte Beteiligte sind“ (Christoph Tannert S. 121).
ham, 5. Januar 2021