Katalog zu den gleichnamigen Ausstellungen vom 18.5. – 18.9. 2016 in der Tate Liverpool und vom 7.10.
2016 – 8.1. 2017 in der Staatsgalerie Stuttgart, herausgegeben von der Staatsgalerie Stuttgart, Ina Conzen mit
Texten von Lauren Barnes, Pia Littmann, Christian Spies, Martin Lewis Harrison, Peter Scholz und der
Herausgeberin
Staatsgalerie Stuttgart / Prestel Verlag München 2016, ISBN 978-3-7913-5576-4, 256 Seiten, zahlreiche
Farbabbildungen, Hardcover gebunden, Format 28,6 x 23,6 cm, € 39,95 (D) / 41,10 (A) / CHF 48,50
Der 1909 als Sohn britischer Eltern in Dublin geborene und 1992 in Madrid verstorbene Francis Bacon
gehört nach allgemeiner Einschätzung zu den eigenwilligsten Malern des 20. Jahrhunderts. Wer sich zum
ersten Mal mental auf seine Gemälde und die in ihnen verhandelten Themen Religion, Tod, Gewalt, Isolation
und Sexualität eingelassen hat, wird in aller Regel verstört reagieren und sich fragen, ob das in ihnen
gezeichnete Bild eines in sich selbst gefangenen, in Käfigen isolierten und gewalttätigen Menschen die
Normalität der menschlichen Existenz trifft oder vielleicht doch überzeichnet ist. Seine 1985 in der
Staatsgalerie Stuttgart zusammen mit der Tate Gallery, London erarbeitete, retrospektiv angelegten
Ausstellung hat nachhaltig aufgewühlt und verstört. 30 Jahre später ist der Blick auf Bacon ein anderer
geworden. Das weiß auch Christiane Lange, die Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart, wenn sie in ihrem
Vorwort daran erinnert, dass das Leben und die Kunst von Francis Bacon längst „in allen Facetten nicht nur
in Büchern und Dokumentationen, sondern sogar in Spielfilmen beleuchtet worden“ ist. „Längst sind die
vielfältigen visuellen Einflüsse, die von medizinischer Fachliteratur über Eadweard Muybridges
Bewegungsstudien bis hin zu Filmstills reichen, ebenso genau erforscht wie seine lebenslange
Auseinandersetzung mit der Kunst der Alten Meister, die er vorwiegend über fotografische Reproduktionen
rezipierte. Längst liegen die Preise für seine Gemälde im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich, und es
vergeht kaum mehr ein Jahr, in dem weltweit nicht eine oder mehrere Bacon-Ausstellungen zu sehen sind.
Längst gehört Bacon also zu den völlig unumstrittenen Klassikern der Moderne“ (Christiane Lange Seite 7).
Warum dann aber die aufwändige und mit hohen Kosten verbundene Ausstellung? Und warum ein mit sechs
eigens für den Anlass erarbeiteten Essays bestückter, alles in allem exzellenter Katalog? Christiane Lange
berichtet, dass ihr aufgefallen ist, dass das einzige der Staatsgalerie Stuttgart gehörende, einen schreienden
Schimpansen darstellende Bacon-Gemälde mit anderen Bacon-Gemälden aus den Jahren um 1955 „nicht nur
das markante Motiv der die Zähne fletschenden Grimasse, sondern vor allem seine bildimmanente
Käfigstruktur“ teilt. „Geschäftsleute, Päpste, Menschenaffen werden in solchen nicht genau zu
entschlüsselnden Räumen gleichsam zur Schau gestellt. Interessanterweise war dieses in allen Werkphasen
des Malers anzutreffende architektonische Motiv, das inhaltlich ebenso spannend ist wie formal als
Kompositionselement, noch nie Ausgangspunkt einer Ausstellung“ (Christiane Lange a. a. O.). Damit war
der Fokus der letztlich von Ina Conzen erarbeiteten Ausstellung markiert und die Grundidee geboren. Die
Ausstellung vereinigt dann auch eine opulente Auswahl von Gemälden und Zeichnungen zum Thema und
nimmt unter anderem auf die Deutung von Bacons Raumkonzepts durch den französischen Philosophen
Gilles Deleuze Bezug:
„Ein Rund begrenzt oft den Ort, an dem die Person, d. h. die Figur, sitzt. Sitzt, liegt, kauert oder sonstwas.
Dieses Rund, dieses Oval nimmt mehr oder weniger Raum ein: Es kann die Ränder eines Gemäldes
überragen, im Zentrum eines Triptychons liegen usw… Oft wird es verdoppelt oder ersetzt durch das Rund
des Stuhls, auf dem die Person sitzt, durch das Oval des Bettes, auf dem die Person liegt […]. Kurz, das
Gemälde enthält eine Bahn, eine Art Zirkusarena als Schauplatz. Es ist dies ein ganz einfaches Verfahren, das
in der Isolierung der Figur besteht. Es gibt andere Verfahren zur Isolierung: die Figur in einen Kubus stellen
oder eher in ein Parallelflach aus Glas oder Eis; sie auf eine Schiene, auf eine langgezogene Stange
festkleben, gleichsam auf den magnetischen Bogen eines unendlichen Kreises; all diese Mittel – das Rund,
den Kubus und die Stange – miteinander kombinieren, wie in jenen ausladenden und geschwungenen Sesseln
bei Bacon. Das sind Orte, Schauplätze. Jedenfalls verbirgt Bacon nicht den nahezu rudimentären Charakter
dieser Verfahren, trotz der Subtilitäten ihrer Kombinationen. Wesentlich ist, dass sie die Figur nicht zur
Bewegungslosigkeit nötigen; im Gegenteil, sie müssen eine Art Fortschreiten, eine Art Sondierung der Figur
auf dem Schauplatz oder auf ihr selbst spürbar machen. Das ist das Operationsfeld […]. Tatsache ist…, was
stattfindet… Und die derart isolierte Figur wird zu einem Bild, zu einem Ikon“ (Gilles Deleuze, Francis
Bacon. Logik der Sensation. Aus dem Französischen von Joseph Vogl, München 1995, S. 9).
Ina Conzen erinnert in ihrem einleitenden Essay zu den »unsichtbaren Räumen« von Francis Bacon an
Alberto Giacomettis Skulptur Der Käfig (Erste Fassung) von 1950 ebenso wie an Wieland Schmieds vom
Mannheimer Papststbildnis von 1991 ausgehende Beobachtung, dass „der Raum“ bei Bacons schreienden
Päpsten „um den Schrei herum konstruiert erscheint […]. Bacons Schrei, kreatürliche Lebens- wie
Todesäußerung, wird zum »Schrei nach Raum«, der sich gegen die engen Glasgehäuse richtet […]. Francis
Bacons Tierdarstellungen wie […] Chimpanzee (1955) oder Study for Chimpanzee (1957) bringen eine
Verschmelzung von animalischem und menschlichen Wesen zur Anschauung […]: bei den Päpsten und
Geschäftsmännern vor allem konzentriert in der verzerrten Physiognomie und dem schreiend geöffneten
Mund, bei den in unsichtbaren Kuben und hinter Vorhangschlieren kauernden Akten von um 1951 in ihrer
kaum noch als menschlich zu bezeichnenden Kreatürlichkeit“ (Wieland Schmied / Ina Conzen S. 25). Beide,
Menschen und Tiere gehen ausweglos auf den Tod zu. Deshalb hat Bacon sich auch durch Fotos, die Tiere
auf dem Weg in den Schlachthof zeigen, anrühren lassen und gemutmaßt, dass sie alles täten, um zu
entkommen. »Nun, wir sind ja schließlich selbst Fleisch, potentielle Kadaver. Jedesmal, wenn ich einen
Fleischerladen betrete, bin ich in Gedanken überrascht, daß nicht ich dort anstelle des Tieres hänge«.
Berühmt ist ein Foto des Künstlers, das ihn mit nacktem Oberkörper vor zwei aufgehängten Rinderhälften
zeigt – ein Memento mori im […] vitalistischen Sinne. In dem erschütternden Gemälde Figure with Meat
von 1954 wird der Besuch im Schlachthaus zu einem ausweglosen Drama. Nun ist es nicht mehr der
Künstler, sondern der Papst, der vor dem monumental hinter ihm aufragenden Tierkadaver klein und
verletzlich wirkt. Der Stellvertreter Christi auf Erden wird zum Gekreuzigten in einer engen
Kammer“ (Francis Bacon / Ina Conzen S. 29). Francis Bacon will diese kreatürliche Realität, dieses
Ausgeliefertsein an den Tod in seinen Bildern nicht vordergründig abbilden, sondern so verdichten, dass sie
unmittelbar auf die Sinne wirken. Der Schrei wird darüber zu einer der wenigen Möglichkeiten, aus diesem
Gefängnis auszubrechen. Im Alltag sind für Bacon das Malen, der Rausch und die sexuelle Ekstase die
bevorzugten anderen Möglichkeiten geworden.
Wer sich vor diesem Hintergrund auf die weiteren, eigens für den Katalog erarbeiteten Essays und das in
ihnen aufscheinende Bild von Bacons unsichtbaren Räumen einlässt, wird zwar auch, aber eher wie nebenbei
mit den Absurditäten der kreatürlichen Existenz konfrontiert. Im Mittelpunkt des Interesses steht aber
anderes. Man wird, im Bild gesprochen, an die Hand genommen und nicht auf die Höhen der Schädelstätten
der kreatürlichen und menschlichen Existenz, sondern auf die Höhen eines ausgefeilten kunsthistorischen
Diskurses geführt, genauer auf die Höhen eines Diskurses zweiter Ordnung, eines Diskurses über Bacon-
Diskurse. Wenn über Bacon schon fast alles gesagt ist, gibt es ja vielleicht auch gar keine andere
Möglichkeit. Diskurse zweiter Ordnung werden komplex und sind deshalb auch anstrengend. Man kann
diese abgesicherten, historisch überprüfbaren und ohne jeden Zweifel luziden Diskurse zwar auch als eine
Art Verdichtung und Aufstieg in die höheren Sphären des Geistes betrachten und die dort dünner werdende
Luft genießen. Aber man kann sich auch fragen, ob sie die von Bacon angestrebte Verdichtung noch
erreichen können, die Verdichtung, die unmittelbar auf die Sinne wirkt. Für mich wäre deshalb in diesem
Fall weniger Diskurs in der dünnen Luft der Höhenlagen mehr gewesen.
ham, 6. Dezember 2016