Luchterhand Literaturverlag, München 2017, ISBN 978-3-630-87591-0, 192 Seiten, Hardcover gebunden,
Format 16 x 11 cm, € 10,00

Der 1932 in Halberstadt geborene Schriftsteller, Drehbuchautor, Filmemacher und promovierte Jurist
Alexander Kluge und der und der eine Generation später 1964 in München geborene Strafverteidiger,
Dramatiker, Schriftsteller und Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach Ferdinand von
Schirach mutmaßen, anders als manche Meteorologen, Stratosphärenforscher und Physiker, dass das im
Weltall aufscheinende irisierende Blau der Erde auch von der Geistestätigkeit großer Denker wie Sokrates,
Voltaire und Kleist herrührt und nicht bloß vom Wetter und der besonderen Zusammensetzung der Elemente.
Wenn sie ihre fünf Gespräche über „Sokrates oder das Glück der Bescheidenheit“, „Voltaire oder die Freiheit
durch Toleranz“, „Kleist oder das Wissen um den Wert des Menschen“, „Terror oder die Klugheit des
Rechts“ und „Politik oder das Lob der Langsamkeit“ im Titel „Die Herzlichkeit der Vernunft“
zusammenfassen, deuten sie an, dass in ihren Gesprächen auch die mit dem Herzen konnotierte Farbe Rot
eine Rolle spielt, auch wenn aufs Ganze gesehen das Blau und damit die Farbe des Geistes dominiert.

Und so begegnet man in ihrem Austausch über Grundfragen des Menschseins wie das Böse, die Wahrheit,
das Schöne und das Recht dann auch hochgebildeten und präzise beobachtenden Zeitgenossen, die sich
genauso gut informiert und klug über die Frage unterhalten können, warum Sokrates Xanthippe zur Ehefrau
genommen hat wie über die Frage, warum das Strafrecht an keiner Stelle das Böse definiert, aber beschreibt,
was Verbrechen und Vergehen sind. „Das ›Böse‹ wird aufgelöst in Tat, Rechtswidrigkeit und Schuld.
Menschliche Handlungen werden geprüft, erfasst, geordnet. Am Ende urteilt ein Richter. Seine Begriffe sind
Freiheitsstrafe, Sicherungsverwahrung und Führungsaufsicht – nie aber Hölle und Verdammnis“ (Ferdinand
von Schirach S. 80).

Über die Frage, wie sich die eigene Herkunft auf die persönliche Verantwortung auswirkt, entwickelt sich
folgender Austausch:

„Kluge
Was sich in einer Generationskette sammelt, ist extrem unterschiedlich, wie die eignen DNA.
Schirach
Ja, und vergangene Generationen bedeuten weder Verdienst noch Schuld. Für mich jedenfalls bedeuten sie
nur Verantwortung. Wir besitzen Anteile unserer Vorfahren, aber wir sind nicht diese Anteile.
Kluge
Wir sind verschieden wie ein Fingerabdruck.
Schirach
Und wir entscheiden, wer wir sein wollen. Wenn wir das nicht glauben, müssen wir aufgeben.
Kluge
Dann ist der Dämon des Sokrates eingesperrt. Diese Individualität, diese Eigensinnigkeit ist unzähmbar.
Wolf Singer sagt, da zwitschert etwas im Kopf. Die Neuronen geben Töne von sich wie junge Vögel,
während sie arbeiten. Das Gehirn ist eine Stadt für sich. Es handelt sich um ein Kauderwelsch, das wir nicht
verstehen, das nicht Sprache ist, wodurch sich Neuronen untereinander verständigen. Das ist nicht die
Sprache der Außenwelt. Die Außenwelt, geprägt von den Hirnen, und die Hirne, geprägt von der Außenwelt,
haben sich in der langen Zeit der Evolution aneinander angepasst.
Schirach
Mich beeindruckt Singer: Aber wir sollten vorsichtig sein. Wenn es keinen freien Willen gibt, ist das das
Ende unserer Freiheit, unserer westlichen Gesellschaft.
Kluge
Dann tun wir so, als wären wir frei. Notfalls sind wir die Schauspieler unseres Glücks. Es gibt andere
Forschungen, die zeigen, wie komplex das ist. Da sind dann kleine Beamte in unserem Kopf, einige
Milliarden, die unheimliche subtil sind, und jeder einzelne hält sich für ein Individuum. Die Freiheit ist
eingebaut ins Nervensystem“ (Alexander Kluge / Ferdinand von Schirach S. 169 f.).

ham, 16. April 2018

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