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Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 23. Oktober 2020 – 14. Februar 2021 im Jüdischen Museum Frankfurt, herausgegeben von Eva S. Atlan, Michaela Feurstein-Prasser, Felicitas Heimann-Jelinek, Mirjam Wenzel 

Mit Texten von Eva Atlan, Ruth Direktor, Michaela Feurstein-Prasser, Eckart J. Gillen, Felicitas Heimann-Jelinek, Amelia Jones, Moshe Idel, Angelika Neuwirth, Jochen Sander, Sara Soussan, David Sperber, Debra Wacks, Kathleen Wentrack, Mirjam Wenzel und künstlerischen Arbeiten unter anderem von Judy Chicago, Hanna Wilke, Maria Lassnig, Joan Snyder, Jacqueline Nicholls, Anselm Kiefer, Shlomit Bauman, Kiki Smith und R.B. Kitaj

Kerber Verlag, Bielefeld 2020, ISBN 978-3-7356-0651-8, 288 Seiten, 113 farbigen und 9 s/w Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 28,5 x 23,6 cm, € 48,00

Wenn Gott den Menschen nach dem jüngeren Schöpfungsbericht der hebräischen Bibel „zu seinem Bilde“ und „als Mann und Frau“ geschaffen hat (vergleiche dazu 1. Mose 2, 27), sollte eigentlich klar sein, dass Gott männliche und weibliche Anteile hat. Aber die weibliche(n) Seite(n) Gottes werden in der Thora zunehmend verdrängt und mit den bekämpften paganen Gottesbildern verbunden. Im Laufe des 7. bis 5. vorchristlichen Jahrhunderts ist dann „aus dem allein verehrten einen Jahwe der einzige Gott geworden“ (Otto Kaiser, Gott. In: RGG 4. Auflage Band 3, Tübingen 2000, Spalte 1103). Im Christentum wird Gott zum Vater Jesu Christi und seine Mutter Maria zur Gottesgebärerin.

Im 12. Jahrhundert entdecken das Judentum und das Christentum die Weiblichkeit Gottes fast gleichzeitig wieder neu (vergleiche dazu Peter Schäfer, Weibliche Gottesbilder im Judentum und Christentum, Verlag der Weltreligionen, Berlin 2008). Aber diese Wiederentdeckung bleibt über Jahrhunderte mehr oder weniger unter der Decke und erst unerschrockene und weltoffene Theologen wie der reformierte Schweizer Kurt Lüthi (vergleiche dazu K. Lüthi, Gottes neue Eva. Wandlungen des Weiblichen, Kreuz Verlag, Stuttgart 1978) und Papst Johannes Paul II. („Gott ist Vater, mehr noch, er ist uns auch Mutter“, 1978) und feministische Theologinnen wie Catharina J.M. Halkes (vergleiche dazu C.J.M. Halkes, Gott hat nicht nur starke Söhne, Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1980) und Christa Mulack (vergleiche dazu C. Mulack. Die Weiblichkeit Gottes. Matriarchale Voraussetzungen des Gottesbildes, Kreuz Verlag, Stuttgart 1983) machen die weiblichen  Anteile Gottes einer breiteren interessierten Öffentlichkeit zugänglich. Damit stoßen sie ein erneutes Nachdenken über die anthropomorphe Fundierung zahlreicher Gottesbilder an. 

Im Jahr 2010 kommt dieses Nachdenken im Diözesanmuseum Bamberg in der Ausstellung „Gott weiblich. Eine verborgene Seite des biblischen Gottes“ visuell auf den Punkt. Gezeigt werden Göttinendarstellungen, Amulette, Stempel- und Rollsiegel, insgesamt rund 250 Exponate, die bis ins 10. Jahrtausend vor Christus zurückreichen und die Entwicklung des biblischen Gottesbildes nachzeichnen. In der 2020 im Jüdischen Museum Frankfurt vorgestellten Ausstellung ›Die weibliche Seite Gottes‹ wird die Frage nach Gottes weiblichen Anteilen um den Islam und Exponate der Gegenwartskunst erweitert und mit kulturhistorischen Spuren verbunden. Damit schlägt die Ausstellung einen großen Bogen von antiken archäologischen Figurinen über mittelalterliche hebräische Bibelillustrationen und Madonnenbilder der Renaissance bis hin zu zeitgenössischen Positionen. Die 2017 im Jüdischen Museum Hohenems vorgestellte gleichnamige Vorläuferausstellung (vergleiche dazu etwa https://www.jm-hohenems.at/ausstellungen/rueckblick/die-weibliche-seite-gottes und https://www.jm-hohenems.at/static/uploads/2014/01/Impressionen_Weibliche_Seite_Gottes_Ausstellung_Eroeffnung_0.pdf) wurde für Frankfurt weiterentwickelt und erweitert. Im Vordergrund steht jetzt die Visualität des Themas, verkörpert etwa in einem aus Ton gebrannter Altar aus der Eisenzeit, in der Marienkrönung des Luccheser Meisters von 1460 und in Anselm Kiefers Malerei ›Schechina‹, 1999, Öl, Tempera, Acryl, Blei und Aluminiumdraht auf Leinwand (vergleiche dazu https://www.juedischesmuseum.de/besuchen/detail/weibliche-seite-gottes/ und https://www.google.de/search?sxsrf=ALeKk00CpsM8t5HOnhxCikc8ynXPTkEksg:1605780621579&source=univ&tbm=isch&q=Bilder+zur+weiblichen+Seite+Gottes

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Der in die sechs Kapitel ›Göttinen im Alten Testament‹, ›Frau Weisheit und Gottes Gegenwart‹, ›Bedrohung: Frau‹, ›Glaubensmütter‹, ›Selbstermächtigung‹ und ›Mystische Verbindungen‹ gegliederte anspruchsvolle und auf der Höhe der Zeit argumentierende Katalog diskutiert unter anderem den Aufstieg des Göttlich-Weiblichen in der Kabbala und seinen Niedergang im akademischen Diskurs der Moderne (Moshe Idel), die Weiterentwicklung der jüdisch-christlichen Kontroverse um die Jungfrau Maria in der Koran-Gemeinde (Angelika Neuwirth), Mariendarstellungen in der christlichen Kunst (Jochen Sander) und Mierle Laderman Ukeles’ Kunst im Licht des Große-Göttin-Diskurses der 1970-er Jahre (David Sperber). 

Von den ausgestellten Exponaten werden unter anderem Maria Lassnigs Malerei ›Die große Mutter‹ von 1964, Anselm Kiefers ›Schechina‹ von 1999 (vergleiche dazu https://www.pinterest.de/pin/50172983325559323/) und R.B. Kitajs Malerei ›Kabbalist und Shekhina‹ von 2003 eigens gewürdigt: Zu Lassnigs ›großer Mutter‹ wird gesagt, dass sie mit ihrem stiliserten Kopf, ihrer hockenden Haltung mit den weit geöffneten, das Gebären betonenden Schenkeln sämtlich Ingredienzien einer archaischen Muttergöttin mitzubringen scheint. „Im Unterschied zu christlichen Ikonografie, die das Nährende, Fürsorgliche und Schutzbietende des Mütterlichen betont, hat Lassnigs Große Mutter etwas Monströses: Die Beine sind nach hinten verdreht; Teile des Knochengerüsts sind wie der Panzer einer Schildkröte nach außen gewandert; ein Kind ist wie ein siamesischer Zwilling am Unterleib der Mutter festgewachsen, wobei ihre Schamlippen mit dessen Hinterbacken verschmelzen. Während sich das Kind an die Mutter klammert, bietet ihm diese weder ihre nährende Brust noch eine liebevolle Umarmung, sondern nur ihr panzerartiges Brustbein zum Anlehnen. Selbst das Gesicht mit herabgezogenen Mundwinkeln und abgewandtem Blick wirkt abweisend“ (Natalie Lettner S. 38).

Zu Kiefers ›Schechina‹ wird ausgeführt, dass die Schechina in der Kabbala für die weibliche Präsenz Gottes steht. „Im Werk ist sie verkörpert als weißes Brautkleid – eingezäumt von einer Reihe vertrockneter Sonnenblumen –, oben mit einer rostenden Eisenfalle versehen und, unter anderem, mit dem Namen Schechina beschriftet. An anderer Stelle mit Scherben zerbrochenen Glases verziert und Sefiroth (2010) … benannt – dringt sie zu uns, wie schon zu Kiefer, über das Werk von Rabbi Isaak Luria, einem Kabbalisten des 16. Jahrhunderts, und … über Gerschom Scholem … Laut Scholem … tritt Schechina – wörtlich eine Wohnstätte oder ein Gefäß – als Manifestation göttlicher Präsenz in der Welt hervor. Vom Geschlecht weiblich ist die Schechina die zehnte Emanation der Sefiroth, einem hierarchischen Schema zur Beschreibung der moralischen Konzepte und Eigenschaften, die sowohl spirituelle als auch materielle Welten untermauern. Sefiroth gerinnt zur visuellen Form mithilfe Kiefers wiederkehrendem Repertoire von Objekten und Materialien: Baumwurzeln und Leitern, Eisen und Blei, Lack und Asche. Und wie bereits im Falle der Vitrine von 2010 erscheint ein weißes Brautkleid aus Satin, all dies stets durch Beschriftung mit Zahlen und Namen in die mystische textuelle Tradition des Ursprungs rückgebunden. Ertragend und duldend schwebt der Symbolismus der Schabbat-Braut … als Schechina in Kiefers künstlerischer Fantasie und spukt in der Szene, sei es als Malerei oder Skulptur, herum: eine entkörperte Figur, abwesend und doch gegenwärtig“ (Lisa Saltzmann S. 56 ff.)

Kitajs Gemälde ›Kabbalist und Shekhina‹ (vergleiche dazu http://rbkitaj.org/kabbalist-and-shekhina) „lässt uns in eine Raumsituation hineinschauen, die an ein Spiegelkabinett erinnert. Auf einem gelben Boden mit gewellten Linien, die Dielenbretter andeuten, erblicken wir die Rückenansicht einer Figur in roten Hosen mit einem Umhang, auf dem sich zwei nackte weibliche Torsi silouetttenhaft abzeichnen. Diese Figur ist, wie der Bildtitel nahelegt, ein Kabbalist, also ein jüdischer Mystiker, auf der Suche nach seiner ›Schechina‹, dem weiblichen Anteil seines Selbst (und Gottes). Sie wird von der nackten weiblichen Gestalt im Halbprofil verkörpert, die wie in einem Spiegel vor ihm auf schwarzem Hintergrund erscheint. Vergeblich sucht der Kabbalist Kontakt zu seiner Schechina, die ihm den Rücken zuwendet. Kataj schlüpft hier in die Rolle des Kabbalisten, der Religion zu seiner Privatsache macht, zu einer Angelegenheit des subjektiven Empfindens … Kitaj … ordnet das Bild in den Zusammenhang seiner 29 sogenannten Los Angeles Bilder (vergleiche dazu https://lalouver.com/exhibition.cfm?tExhibition_id=437), die er zwischen 2000 und 2003 in der ›Stadt der Engel‹ gemalt hat“ (Eckart J. Gillen S. 268).

ham 19. November 2020

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