Einige Anmerkungen zu Wolfgang Laibs Publikation und Ausstellung ›The Beginning of Something Else‹

im Kunstmuseum Stuttgart

Hirmer Premium, Kunstmuseum Stuttgart / Hirmer Verlag München 2023, ISBN 978-3-7774-4228-0 / ISBN 978-3-7774-4196-2, 362 Seiten, 150 Abbildungen in Farbe, Klappenbroschur, mit Schutzumschlag aus Pergamentpapier, Freirücken und Lesebändchen, Format 18 x 13,4 cm, Museum 37 € / Buchhandel 39,90 €

Wer sich an das Werk des 1950 in Metzingen geborenen und heute bei Biberach an der Riß, in den Bergen von Madurai in Südindien und in New York lebenden und arbeitenden Weltkünstlers Wolfgang Laib (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Laib) annähern will, kann das über so weit auseinander liegende und teilweise konträre Positionen, Rituale und Erfahrungswege wie Mahatma Gandhis Lebensweg der Gewaltlosigkeit, Agnes Martins Beschwörung der geistigen Unabhängigkeit des Künstlers, das Gilgamesch-Epos, Friedrich Nietzsches Propagierung des Übermenschen, die Milch- und Reisopfer in der Shatrunjaya-Hügelkette im Südosten der Halbinsel Kathiawar im indischen Bundesstaat Gujarat und in vedischen Shrauta-Ritualen, die spätvedischen Mantren der Upanischaden, Laotses Tao-Te-King, Daisetz Teitaro Suzukis Bejahung des einfachen Lebens im Zen, Kōbō Daishis ultmative Kontemplation jenseits von Leben und Tod, Plotins Vorstellung von Seelengröße in den Enneaden, Johannes Klimakos’ Bild von der Himmelsleiter, Franz von Assisis Gebet vor dem Kruzifix von San Damiano, Rumi, den Jaina-Pfad der Läuterung, Friedrich Wilhelm Schellings Naturphilosophie und seine Suche nach der Überwindung der Endlichkeit oder Novalis’ 1802 posthum veröffentlichtes Romanfragment ›Die Lehrlinge von Sais‹ tun, das den Zusammenhang von Selbst- und Naturerkenntnis auf den Plan ruft und für die Integration des Menschen in den Organismus der Natur wirbt. 

Alle genannten Texte, Bezüge, Gedichte, Rituale und Bilder haben Wolfgang Laib so stark beeindruckt, dass er sie in seinen als „Wolfgang Laib-Bibel“ apostrophierten Katalog zur Stuttgarter Ausstellung ›The Beginning of Something Else‹ aufgenommen hat (vergleiche dazu https://www.hirmerverlag.de/de/titel-1-1/wolfgang_laib-2479/). Sie repräsentieren das Andere, von dem sein im Katalog handschriftlich in Englisch abgedrucktes Gedicht ›The Beginning of Something Else‹ kündet:

„The Beginning of Something Else

here and now –

in our life

but also far beyond

our time, our body, our place

what we do and what we do not

what we think and what we do not think 

what we dream of

to live in and with cultures

of all times and worlds …

with the mind

with the art

with the texts and literature

from 500 years ago, 1000 years ago 

love years ago

10 000 years ago

in the presence with the future and

for the future

in yourself, with yourself

totally new dimensions

in your own life, your own thoughts

your own doing“ 

(Wolfgang Laib, im Katalog S. 6 f.)

„Der Anfang von etwas anderem

hier und jetzt –

in unserem Leben

aber auch weit darüber hinaus

unsere Zeit, unser Körper, unser Ort

was wir tun und was nicht

was wir denken und was wir nicht denken

wovon wir träumen

in und mit Kulturen

aller Zeiten und Welten zu leben …

mit dem Verstand

mit der Kunst

mit den Texten und der Literatur

von vor 500 Jahren, vor 1000 Jahren

Liebe vor Jahren

vor 10 000 Jahren

in der Gegenwart mit der Zukunft und

für die Zukunft

in dir selbst, mit dir selbst

völlig neue Dimensionen

in deinem eigenen Leben, deinen eigenen Gedanken

deinem eigenen Tun“

(Wolfgang Laib)

Mit am stärksten dürften Laibs Bezüge zur Frühromantik sein. Deshalb legt sich nahe, sein Welterleben und seine Kunst von Novalis’ Romanfragment ›Blüthenstaub‹ her zu beleuchten (vergleiche dazu https://www.lernhelfer.de/sites/default/files/lexicon/pdf/BWS-DEU2-0065-02.pdf). Novalis’ Erstlingswerk erschien erstmals 1798 in der von den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel herausgegebenen frühromantischen Zeitschrift ›Athenaeum‹. 

Nach den Büthenstaub-Fragmenten suchen wir überall das Unbedingte und Absolute, aber wir erreichen es nie und wir können es auch nicht darstellen (Fragment 1). Vier Buchstaben bezeichnen Gott; einige Striche eine Million Dinge. Ein Kommandowort bewegt Armeen; das Wort Freiheit Nationen (Fragment 2). Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen. Sie zerstört alle Zeichen des Eigentums. Allen Geschlechtern gehört die Erde (Fragment 13). Leben ist der Anfang des Todes. Durch den Tod wird die Reduktion vollendet (Fragment 14). Die Fantasie verlegt die zukünftige Welt entweder in die Höhe oder in die Tiefe oder in die Metempsychose, die Seelenwanderung. Wir träumen von Reisen durch das Weltall. Aber ist die Welt nicht in uns? Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg (Fragment 16). Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren (Fragment 19). Das Interessante ist die Materie, die sich um die Schönheit bewegt. Wo Geist Schönheit ist, häuft sich in konzentrischen Schwingungen das Beste aller Naturen (Fragment 60). Dichter und Priester waren im Anfang eins, und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der echte Dichter ist aber immer Priester, so wie der echte Priester immer Dichter geblieben ist. Und sollte die Zukunft den alten Zustand der Dinge wieder herbeiführen? (Fragment 71). Es gibt keinen unmittelbaren Zugang zu Gott. Deshalb bedarf es eines Mittlers, eines Mittelglieds zu Gott. Im pantheistischen Sinn kann alles und jedes zum Mittler werden (Fragment 74). Nichts ist poetischer als Erinnerung und Ahndung oder Vorstellung der Zukunft. Sie treiben uns zum Beleben, zum Verkürzen, zur assimilierten Wirksamkeit (Fragment 109). Die Menschenwelt ist das gemeinschaftliche Organ der Götter. Poesie vereinigt sie, wie uns (Fragment 110). 

Klara Schubenz bringt die Fragmente so auf den Punkt: „Die Differenz, die das Endliche, Begrenzte, Sinnliche vom Unendlichen, Transzendenten und Geistigen trennt, gilt es durch synthetisierende Gedankenfiguren der Entgrenzung und Vermittlung von Widersprüchen (wie z. B. dem romantischen Witz, Nr. 57) annäherungsweise zu überwinden“ (Klara Schubenz, Blütenstaub in frischem Grün. In: https://literaturkritik.de/novalis-bluethenstaub-bluetenstaub-frischem-gruen-novalis-erstlingswerk-typographischen-bibliothek,22934.html). 

Wenn man Laibs Kunst in der Tradition von Novalis’ 114 Fragmenten liest, wird sie zur geistigen Nahrung und Speise auf dem Weg in die Ewigkeit, sein künstlerisches Schaffen zur gelebten Religion und der Künstler zum Priester, Heiler und Weltweisen. Laib hat wie sein Vater Medizin studiert, sich aber an der naturwissenschaftlich-materialistischen Ausrichtung der Medizin gestoßen, mitten im Medizinstudium eine Steinskulptur in der Gestalt eines ellipsoiden Welteneis mit dem Titel Brahmanda geschaffen und dann beschlossen, nicht als Arzt, sondern als Künstler zu arbeiten (vergleiche dazu https://buchmanngalerie.com/de/artworks/4211/wolfgang-laib/brahmanda).

Seine 1976 in seiner ersten Ausstellung in der Stuttgarter Galerie Müller-Roth gezeigten Milchsteine (vergleiche dazu https://www.karlundfaber.de/de/auktionen/274/zeitgenoessische-kunst/2740955/) erinnern an zeremoniell mit Milch übergossene Schlangensteine wie den im wohl über 2000 Jahre alten Muthiah Swami Tempel in Kochadai bei Madurai (vergleiche dazu https://www.neuenhofer.de/guenter/tamilnadu/tamil2009.html) und formal an die im Osten von vedischen Ritualplätzen errichtete rechteckige Feuerstellen (vergleiche dazu https://www.neuenhofer.de/guenter/tamilnadu/tamilnadu.html), auf denen in Shrauta-Ritualen Milch, Ghee und Joghurt, Reis, Teile von Opfertieren und Soma geopfert wird (vergleiche dazu und zum Folgenden Silke Bechler, Das vedische Opfer in einer neuen Öffentlichkeit in Indien und Deutschland, Heidelberg 2013 und dort auf den Seiten 52 – 56 die Abbildungen des Opferbeckens für das „Śrī Mahālakṣmī Havana“ am 20.03.2010. In: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/17142/1/Bechler_Endversion%20Diss_Gesamt.pdf).

„Bis ins Zeitalter des klassischen Hinduismus bildeten sich mit den ›häuslichen‹ (gṛhya) Opfern und den ›öffentlichen‹ (śrauta) Opfern zwei Opfertypen heraus, die sich in erster Linie durch die Anzahl der benötigten Opferfeuer unterschieden. Während sich das häusliche Opfer auf das Hausfeuer (gārhapatya) konzentrierte, verlangte das öffentliche Opfer drei Opferfeuer – das im Westen des Ritualplatzes angelegte kreisförmige Feuer des Haushälters (gārhapatyāgni), welches zum Kochen der Opfergaben benötigt wurde; das im Osten errichtete rechteckige Opferfeuer (ahavanīyāgni), in welches die Opfergaben dargebracht wurden; und das halbkreisförmige Feuer im Süden (dakṣiṇāgni), welches zur Abwehr von bösen Mächten errichtet wurde … Der am häufigsten auftretende Opfer-Typus war das ›agnihotra‹, die täglich zweimal erforderliche Opfergabe von Milch (kṣīra) an das Opferfeuer. Auch der darśapūrṇamāsa gehörte aufgrund der Darreichung einer Mischung aus süßer und saurer Milch (sāṃnāyya) am Neu- und Vollmondtag in diese Gruppierung. Des Weiteren wurden am Neumondtag im piṇḍapitṛyajña den Ahnen aus Reis hergestellte Klöße übergeben. Die Opfergabe im āgrayaṇa, die gewöhnlich zweimal jährlich zur Erntezeit vor dem Einbringen der Ernte den Göttern dargereicht wurde, orientierte sich an den verfügbaren Ernteerträgen. So wurden im Frühjahr zumeist Gerstenopfer (yaveṣṭi) und im Herbst Reisopfer (vrīhīṣṭi) gegeben. Ähnlich verhielt es sich mit den caturmāsyāni, die zu Beginn der drei Jahreszeiten im Frühling als vaiśvadeva, in der Regenzeit als varuṇapraghāsa und im Herbst als sākamedha ausgeführt wurden“ (Silke Bechler a. a. O. S. 13 f.).

Damit legt es sich nahe, dass Laib die ursprünglich vedische Praxis der Milchopfer in die rituelle Befüllung seiner Milchsteine und die Praxis der Reisopfer in unbesteigbare Reistürme in seinen Installationen überführt hat (vergleiche dazu https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/kultur/wolfgang-laib-kunstmuseum-chur-utopie-einer-friedlichen-welt-ld.1674106?reduced=true). An seinen Blütenstaub-Feldern ist ihm wichtig, dass er mit ihnen „so vielen Menschen so viel geben“ (Wolfgang Laib am 15. Juni 2023 bei der Pressekonferenz im Kunstmuseum Stuttgart) und sie in ihrem Innersten berühren, ja vielleicht sogar heilen kann. Das ist für ihn „wie Arzt sein“ (Wolfgang Laib bei der Pressekonferenz im Kunstmuseum). Und deshalb ist er sich sicher, dass er sein Werk nie ohne sein Medizinstudium hätte schaffen können und dass er seinen Beruf nicht gewechselt hat. 

ham, 20. Juni 2023

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