Katalog zur Ausstellung im LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster 2022, herausgegeben von Hermann Arnold, LWL-Museum für Kunst und Kultur Münster. Mit Beiträgen von Nathalie Dimic, Ulrike Gärtner, Simone Klein, Franziska Kunze, Tanja Pirsig-Marshall, Meike Reiners, Stephan Sagurna, Alina Jasmin Selbach, Petra Steinhardt und Anna Luisa Walter

LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster / Wienand Verlag, Köln, 2022, ISBN 978-3-86832-679-6, 272 Seiten, 255 s/w-Abbildungen, Broschur, Format 30 x 24 cm, € 32,00

Annelise Silberbach (1903–1987) wuchs als zweites von drei Kindern der großbürgerlichen Familie Silberbach in einem weltoffenen familiären Umfeld auf, in dem Kunst und Kultur einen hohen Stellenwert hatten und Künstler der neuen Sachlichkeit ganz selbstverständlich aus- und eingingen. Über Amateuraufnahmen von ihrer privaten Nordafrikareise im Jahr 1922 mit der Großbildkamera ihrer Mutter, ein Volontariat bei dem Porträtfotografen Leon von Kaenel in Essen (1922 bis 1924), ihre Ausbildung bei Franz Fiedler in Dresden (1924 bis 1928) und den Meisterschülerinnenabschluss kam sie seit 1927 zu ersten Publikationen ihrer Fotografien in Zeitschriften wie Das Atelier des Photographen, der Photographischen Rundschau oder der Illustrierten Die Wochenschau. Als Mitglied der Gesellschaft Deutscher Lichtbildner nahm sie auch an deren Ausstellungen teil. Die Bildfindungen der Aufnahmen ihrer Parisreise von 1928 „entsprechen denen des modernen Flaneurs, sie erfassen meist menschenleere Situationen, die eine gewisse stilistische Nähe zu den grafischen Kompositionen von Florence Henri nicht leugnen lassen. Banale Augenblicke werden zu Ikonen des urbanen Lebens, und einige der Bilder  lassen durchaus Vergleiche mit den damals bereits bekannten Straßenfotografien von Eugène Atget (1857– 1927) zu, andere erinnern in ihrer Komposition aus grafischer Strenge und Nonchalance an André Kertész (1894–1985) oder sogar an die ›expressiven Formanalysen‹ von Germaine Krull (1897– 1985)“ (Simone Klein, S. 18 f.). „Ob verfallene Hinterhöfe oder heruntergekommene Fassaden, ob ausgediente Bistrostühle oder die gusseiserne Verzierung einer halb verwitterten Parkbank – Kretschmers ›poetisierende‹ Bildsprache macht auf das Besondere im Alltäglichen aufmerksam“ (Fotografinnen der frühen Moderne im Rheinland. Annelise Kretschmer (1903–1987). In: https://wwwalt.phil.hhu.de/frauenarchiv/fka_neu/fotografinnen/moderne/kretschmer.php).

1928 heiratet sie den Bildhauer Sigmund Kretschmer und bekommt mit ihm vier Kinder. 1929 kehrt sie nach Dortmund zurück, eröffnet als eine der ersten Fotografinnen in Deutschland im elterlichen Geschäftshaus ein eigenes Atelier für Porträtfotografie und wird vor allem wegen ihrer eindringlichen Porträts zur etablierten Künstlerin. Ihre Arbeiten werden in allen wichtigen Fotografie-Ausstellungen in Berlin, Wien und auch in Paris präsentiert. Als Tochter eines jüdischen Vaters übersteht sie die Zeit des Nationalsozialismus besser als andere und führt auch gelegentlich Aufträge von Funktionären der NSDAP aus, obwohl sie die nationalsozialistischen Ideologien entschlossen ablehnt. Die aus beruflichen Engpässen resultierenden finanziellen Probleme werden durch die Unterstützung ihrer Eltern, von Freunden und von einflussreichen Bekannten aus dem Dortmunder Magistrat abgemildert. 1944 wird ihr Dortmunder Atelier bei einem Bombenangriff zerstört. Nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet sie 1950 ihr Studio neu, schafft Porträtaufnahmen unter anderem von Albert Renger-Patzsch (vergleiche dazu etwa auch https://photography-now.com/exhibition/134003), Gerhard von Graevenitz, Ellice Illiard und Ewald Mataré, arbeitet für verschiedene Zeitschriften und macht Frauenporträts für die Wochenschau (vergleiche dazu etwa Kretschmers Fotografie von Ewald Mataré und seiner Frau von 1959 unter https://sammlung-online.lwl-museum-kunst-kultur.de/werke/der-bildhauer-ewald-matare-1887-1965-und-seine-frau). 

Der instruktive und reich bebilderte Katalog Der Augenblick setzt sich unter anderem mit ihrer fotografischen Handschrift, den Einflüssen ihrer Lehrergeneration von Annelise Kretschmer, ihren Familien-, Kinder- und Modefotografien (vergleiche dazu https://www.dasverborgenemuseum.de/kuenstlerinnen/kretschmer-annelise) und dem Vergleich mit den Bildern von Paula Modersohn-Becker (1867–1907) auseinander. Zur Kunstsammlung ihres Vaters gehörte auch ein Selbstbildnis von Paula Modersohn-Becker, das Kretschmer nach eigener Aussage bei ihrem Vater von der Wand nahm, um es in ihrem Zimmer aufzuhängen. „Das Selbstbildnis zeichnet sich durch seine Frontalität aus und ist im Wesentlichen auf das Gesicht begrenzt. Die Formen sind auf das Einfachste reduziert. Der eng gewählte Bildausschnitt, der das Gesicht nah heranrückt, ist eine Methode, die auf viele der von Kretschmer geschaffenen Porträts ebenfalls zutrifft: Die Motive sind klassisch frontal aufgenommen, flächig und ruhig in der Komposition – eine Gemeinsamkeit beider Künstlerinnen, die besonders in einer vermutlich von Kretschmer gestalteten Montage deutlich wird. In dieser stellt sie die eigene Aufnahme ihrer Tochter Christiane (1940-2021) Modersohn-Beckers Selbstbildnis mit Kamelienzweig gegenüber. Beide Köpfe sind in frontaler Ansicht leicht zur Seite gedreht. Durch das streng gescheitelte, zurückgenommene Haar werden die großen Augen zu Fixpunkten in den Bildern. Es ist anzunehmen, dass Kretschmer hier das Porträt ihrer jüngsten Tochter nach dem Selbstbildnis von Modersohn-Becker modellierte. Das Gemälde zeigt den gleichen Ausschnitt wie die Fotografie, eine ähnlich markante Kette sowie den entrückten Blick, der typisch für antike Statuen oder Mumienportraits ist. Durch diese Zuordnung schafft die Fotografin selbst eine Analogie zu den Werken der Malerin“ (Tanja Pisrsg-Marshall S. 157 f. ; vergleiche dazu https://www.froelichundkaufmann.de/grafiken-und-kunstdrucke/paula-modersohn-becker-selbstbildnis-mit-kamelienzweig-1906-07.html und https://www.fotointern.ch/archiv/2016/12/04/annelise-kretschmer-eine-vergessene-meisterfotografin/).

Annelise Kretschmer hat neben ihrer Familie ihre fotografische Arbeit und wenig aus sich selbst gemacht. Vielleicht ist sie deshalb erst im Zuge der Aufarbeitung der 1929 vom Deutschen Werkbund organisierten Wanderausstellung Film und Foto durch die  Fotohistorikerin und spätere stellvertretende Direktorin des Museums Folkwang Ute Eskildsen wiederentdeckt und 1982 mit einer ersten monografischen Ausstellung unter dem Titel Annelise Kretschmer. Fotografin geehrt worden. Heute gilt sie als bedeutende Vertreterin des „Neuen Sehens“ und ist in die Fotogeschichte eingegangen. 

ham, 14. Januar 2025

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