Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 29. August bis 22. November 2020 im Bündner Kunstmuseum Chur, herausgegeben von Stephan Kunz und Stefan Zweifel mit einem Vorwort der Herausgeber, Essays von László F. Földényi, Luise Maslow und Textcollagen von Stefan Zweifel
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, in Zusammenarbeit mit dem Bündner Kunstmuseum Chur, 2020, ISBN 978-3-03942-000-1, 344 Seiten, 39 s/w und 137 farbige Abbildungen, Broschur mit Schutzumschlag, Format 23 x 16 cm, € 48,00
Die von Stephan Kunz und Stefan Zweifel kuratierte Ausstellung ›Dance Me to the End of Love: Ein Totentanz‹ im Bündner Kunstmuseum Chur geht von der abgeschlossenen Restaurierung der 1543 von einem nicht mehr bekannten Künstler nach den Holzschnitten von Hans Holbein d. J. auf einer Fachwerkwand im Churer bischöflichen Schloss geschaffenen Totentanz aus und widmet sich schwerpunktmäßig dem Tanz und der damit verbundenen Lust und Ekstase (vergleiche dazu http://www.universos-mercatores-de-hansa-theutonicorum.de/html/der_totentanz_von_hans_holbein.html). Die 1882 ausgebaute, an diverse Orte translozierte, dadurch erheblich beschädigte und zeitweise fast vergessene Churer Totentanz zeigt 25 Szenen, in denen der Tod dem Kurfürsten, dem Bischof, dem Richter, der alten Frau, der Jungfrau und anderen Lebenden begegnet (vergleiche dazu https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=adg-001:2005:0::182). Seine Restaurierung war 2017 in Angriff genommen worden (vergleiche dazu https://www.kath.ch/newsd/churer-todesbilder-werden-restauriert/ und https://www.bistum-chur.ch/wp-content/uploads/2016/10/Spendenblatt_Todesbilder_2-seitig9.pdf).
Der zur Ausstellung erschienene Katalog wird von Guillermo Kutticas Fotogravüre und Siebdruck auf Papier Collé ›Naked Tango (After Warhol)‹ von 2004 (vergleiche dazu https://www.studiointernational.com/images/articles/f/face_to_face/tango_b.asp) und Andy Warhols ›Dance Diagram (6), (The Charlestons Double Side Kick – Man and Woman) von 1962 (vergleiche dazu https://www.pinterest.fr/pin/432556739183948101/) gerahmt. Er bezieht neben Arbeiten unter anderem von Louis Soutter (vergleiche dazu http://sammlung-online.aargauerkunsthaus.ch/eMP/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=179521&viewType=detailView), Michael Wolgemut (vergleiche dazu https://www.graphikportal.org/document/gpo00227456) und Gustav Klimt (vergleiche dazu http://www.kunstmarkt.com/pagesmag/kunst/_id76853-/marktberichte_grossbildansicht.html?_q=%20) auch die Textcollagen ›Dionysische Träume‹ mit Texten vom Ägyptischen Totenbuch bis zu Friedrich Nietzsche und Arthur Schnitzler, die Textcollage ›Im Schwindel der Lust‹ mit Texten unter anderem von Vaslav Nijinsky, Georges Bataille, Charles Baudelaire und Ingeborg Bachmann und die Textcollage ›Der Tod, der aus der Kälte kam‹ mit Auszügen unter anderem aus Edgar Allen Poes ›Die Maske des roten Todes‹, Guiseppe Thomasi di Lampedusas ›Der Leopard‹ und Albert Cohens ›Die Schöne des Herrn‹ mit ein.
In ihrer Einleitung unterstreichen Stephan Kunz, Direktor am Bündner Kunstmuseum Chur, und Stefan Zweifel, Philosoph, Autor und freier Kurator, dass die Liebe uns vielleicht nur deshalb so tödlich trifft, weil wir sterblich sind und das Ende des Lebens nur selten mit dem Ende der Liebe zusammenfällt. „Diese romantische Verschmelzung wetterleuchtet am Horizont unserer Existenz durch die Werke der Kunst, von ›Romeo und Julia‹ über ›Titanic‹ bis zu den Bildern im ewigen Kuss verschmelzender Paare von Edvard Munch und Gustav Klimt. Und natürlich bis zu Leonhard Cohen, dessen Lied diese Ausstellung den Titel lieh … : ›Dance me to your beauty with a burning violin / Dance me through the panic till I’m gathered safely in / Touch me with your naked hand or touch me with your glove / Dance me to the end of love / Dance me to the end of love / Dance me to the end of love‹ … Diese Ausstellung will das Thema des Totentanzes entgrenzen: bis in die Lust am Schwindel und am Verschwinden im Tanz der Pinsel. Der Essay von László F. Földényi … zeigt: Kunst lockt uns in Bereiche, in denen sonnenhaft aufgleisst, was Bataille einst die ›innere Erfahrung‹ nannte. Eine Erfahrung, in der das rationale Ich, das wir als Maske durch das Leben unter dem Diktat des Kapitals tragen, unserem tieferen Selbst weicht – und uns für eine ›Ökonomie der Verschwendung‹ öffnet“ (Stephan Kunz, StefanZweifel S. 13 f.).
Louise Maslow erinnert daran, dass der Tanz in der Kultur des Mittelalters von zentraler Bedeutung, selbstverständlicher Teil des sozialen Lebens und zugleich Ziel theologischer Polemik und Kritik war. „Durch die Nähe zu heidnischer und damit der Sphäre des Teufels zugeordneter Kultausübung, zu Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Prostitution verfestigte sich eine dogmatische Vorstellung des Tanzes als Teufelsdienst. Der zum Tanz aufspielende Spielmann, der durch seine mobile Lebensweise oft ausserhalb der Gesellschaft stand, wurde zur ›figura diaboli‹. Diese Vorstellung des zwanghaften, unter der Gewalt des Teufels stehenden Tanzes dürfte für die Entstehung des Totentanzes im Spätmittelalter grundlegend gewesen sein. Aus dem tanzenden Teufel wurde der tanzende Tod. ›Ihr müsst alle nach meiner Pfeife tanzen‹, scheint der Tod als Spielmann den Menschen zuzurufen, die ihm daraufhin in einem Reigen in Richtung Grab folgen müssen“ (Luise Maslow S. 103).
Hans Holbeins d. J. (1497/98 –1534) als Buchtotentanz entworfene Bilder des Todes „markieren den Beginn der Annäherung des Totentanzes an die historisch-säkulare Wirklichkeit. In keiner der Darstellungen sieht man den Tod im Tanz mit einem Menschen. Stattdessen schuf Holbein erzählfreudig geschilderte Szenen, in welchen Ständevertreter während ihres alltäglichen Lebens in ihrer alltäglichen Umgebung vom Tod überrascht werden … Holbeins Bildfindungen erlangten weitverbreitete Berühmtheit … Die Akzeptanz der Bildfindungen Holbeins … zeigt sich … [auch] im Totentanz des bischöflichen Palais in Chur. Hier wurden Totenbilder nach dem Vorbild Holbeins in solcher Qualität geschaffen, dass in der Forschung zeitweise Holbein selbst als Schöpfer in Betracht gezogen wurde“ (Luise Maslow S. 113, 116).
Dass die Publikation in Zeiten der Corona-Pandemie erscheinen würde, war wohl nicht geplant. Die Herausgeber konnten trotzdem noch mit einem Auszug aus Byung-Chul Hans am 15. Juli 2020 erschienen und danach kontrovers diskutierten Essay ›Palliativgesellschaft‹ reagieren (vergleiche dazu https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/palliativgesellschaft.html und etwa https://www.deutschlandfunkkultur.de/byung-chul-han-palliativgesellschaft-schmerzlich-duenne.2162.de.html?dram:article_id=487034). Nach Han sind dem Kampf ums Überleben „die Sorge ums gute Leben entgegenzusetzen. Die von der Hysterie des Überlebens beherrschte Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Untoten. Wir sind zu lebendig, um zu sterben, und zu tot, um zu leben. In der ausschließlichen Sorge ums Überleben gleichen wir dem Virus, diesem untoten Wesen, das sich nur vermehrt, das heisst überlebt, ohne zu leben“ (Byung-Chul Han, Palliativgesellschaft, 2020; Zitat auf S. 262)
Dass die beim Tanz erlebte Entgrenzung landläufig als Antidot gegen den Tod begriffen wird, ihn
aber in seiner Unausweichlichkeit nicht aufhebt, wird von den Herausgebern kaum problematisiert. Wenn Thea Dorns in der Samstagsausgabe der Süddeutschen Zeitung Nr. 30 vom 6. und 7. Februar 2021 erschienenes Gespräch über Trost ein Jahr früher erschienen wäre, hätte man folgende Passagen als antiillussionäres Gegengewicht mit in die Textcollagen aufnehmen können:
„Die Frage, ob es ohne Gott so etwas wie Trost überhaupt geben kann, ist das Thema ihres neuen Buches. Es heißt sogar so; ›Trost‹. Es geht darin um die wütende Feuilleton-Redakteurin Johanna, der man verwehrt, ihre an Corona erkrankte Mutter im Krankenhaus in den Tod zu begleiten.
Das war für mich der größte Skandal während dieser Pandemie und der Schreibanlass: dass Sterbende allein gelassen, von ihren Liebsten isoliert wurden.
Aber die politisch Verantwortlichen steckten in einem klassischen Dilemma: Die Alternative wären noch mehr Tote gewesen.
Stimmt, es war beides zugleich: rational geboten und Verletzung der Menschlichkeit – also tatsächlich eine Tragödie. Dementsprechend hat mich ein Furor à la Antigone gepackt. Als meine Mutter 2008 an Krebs gestorben ist, war ich in den letzten Tagen und Stunden bei ihr. Als sie starb, konnte ich sie halten. Bis zu meinem Ende werde ich hoffen, dass sie dies als tröstlich empfunden hat. Wir rücken dem Tod mit hoch technologisierter Medizin auf den Pelz, aber was wir mindestens ebenso dringend brauchen, sind Trost und körperliche Nähe. Erst in jener Nacht habe ich begriffen, was es bedeutet, sterblich zu sein. Seither frage ich mich, wie es gelingen kann, mein Leben mit diesem Sterblichkeitsgefühl zu versöhnen, statt – wie es der Zeitgeist will – panisch vom Tod weg zu leben.
›Darum wacht! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde‹, heißt es in der Bibel.
Das einzige Memento mori, das wir‹“, schreibt Johanna in Ihrem Roman. Wie soll das gehen?
Johanna erkennt ein Paradox: Je mehr wir den Tod verdrängen, je mehr Maßnahmen wir ergreifen, um ihn uns vom Leib zu halten, desto größere Macht bekommt er über uns. Zugespitzt: Wer nicht sterben kann, kann auch nicht leben. Er kann sich lediglich an immer feinmaschigere Absicherungssysteme klammern. All unsere medizinischen und sonstigen Technologien sind, so fabelhaft sie sind, können niemals das Gefühl erzeugen, das der Psalm, den Sie Eingangs zitiert haben, in einem gläubigen Menschen auslöst …
›Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich‹ (Psalm 23, 4) …
Aber damit Sie jetzt nicht vom Glauben abfallen, spendiere ich Ihnen die Version für spätmoderne Agnostiker, die meine Johanna am Ende des Buches aufstellt: Welt, gib uns die technologisch-medizinischen Mittel, gegen Krankheit und Tod zu kämpfen, die Seelengröße, Krankheit und Tod hinzunehmen, und die Weisheit zu erkennen, wann es zu kämpfen und wann es hinzunehmen gilt“ (Thea Dorn a. a. O. im Gespräch mit Tobias Haberl über Trost).
ham, 10. Februar 2021