Publikation zur gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen vom 20. 07. – 10.11.2019, herausgegeben von Nicole Fritz mit Texten von Zita Hartel, Johannes Meinhardt, Klaus Speidel und der Herausgeberin
Kerber Art, Kerber Verlag, Bielefeld / Berlin; Kunsthalle Tübingen, 2019, ISBN 978-3-7356-0595-5, 152 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 28,5 x 22,5 cm, € 38,00 (D) / 46,66 CHF
Die künstlerische Avantgarden des beginnenden 20. Jahrhunderts haben stets das Neue in Anspruch genommen und sich als Speerspitze der Moderne verstanden.
So erschien Filippo Tommaso Marinetti der Rennwagen schöner als die Nike von Samothrake. In seinem 1909 im Pariser Figaro veröffentlichenfuturistischen Gründungsmanifest fordert er dazu auf, Museen, Bibliotheken und Akademien jeder Art zerstören. „Museen: Friedhöfe! … […]. Museen: öffentliche Schlafsäle […]. Museen: absurde Schlachthöfe der Maler und Bildhauer, die sich gegenseitig wild mit Farben und Linien entlang der umkämpften Ausstellungswände abschlachten. Einmal im Jahr mögt ihr dahin pilgern, wie man zu Allerseelen auf den Friedhof geht … das gestatte ich euch. Einmal im Jahr mögt ihr einen Blumenstrauß vor der Mona Lisa niederlegen […]. Aber ich lasse nicht zu, dass man täglich in den Museen unser kümmerliches Dasein, unseren gebrechlichen Mut und unsere krankhafte Unruhe spazierenführt. Warum will man sich vergiften? Warum will man verfaulen? Und was kann man auf einem alten Bild schon anderes sehen als die mühseligen Verrenkungen des Künstlers, der sich abmühte, die unüberwindbaren Schranken zu durchbrechen, die sich seinem Wunsch entgegenstellen, seinen Traum voll und ganz zu verwirklichen? … Ein altes Bild bewundern, heißt unsere Sensibilität in eine Ascheurne schütten, anstatt sie weit und kräftig ausstrahlen zu lassen in Schöpfung und Tat. Wollt ihr denn eure besten Kräfte in dieser ewigen und unnützen Bewunderung der Vergangenheit vergeuden, aus der ihr schließlich erschöpft, ärmer und geschlagen hervorgehen werdet?“ (Manifest des Futurismus. In: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert Band I, herausgegeben von Charles Harrison und Paul Wood, Ostfildern 1998, S. 186).
Wenn Schauspieler des Ludovica Rambelli Theaters gut 100 Jahre später Gemälde von Caravaggio als Tableaux vivants nachstellen (vergleiche dazu https://www.facebook.com/watch/?v=399223627282764 und www.ludovicarambelliteatro.it), sich der Konzeptkünstler Christian Jankowski für eine im World Wide Web gefundene, an Chonchita Wurst erinnernde Neuinterpretation von Albrecht Dürers Selbstbildnis im Pelzrock begeistert und dieses Selbstbildnis in Originalgröße in China nachmalen lässt und Hans-Peter Feldmann dem Doppelporträt eines älteren Paars rote Nasen aufsetzt (vergleiche dazu https://www.ardmediathek.de/swr/player/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzExMzcxNzk/), scheinen alte Malereien anders als bei den Avantgarden der frühen Moderne Konjunktur zu haben. Sie werden zitiert, bearbeitet, karikiert und in freier, individueller und spielerischer Weise an die Sehgewohnheiten der Gegenwart angepasst. Liegt die Zukunft der Kunst in der realisierten Moderne möglicherweise in der Vergangenheit?
Nicole Fritz hat in der von ihr kuratierten Ausstellung ›Comeback. Kunsthistorische Renaissancen‹ über 100 Werke zusammengetragen, in denen die KünstlerInnen Philip Akkerman, Irene Andessner, José Manuel Ballester, Glenn Brown, Leo Caillard, Wim Delvoye, Slawomir Elsner, Hans Peter Feldmann, Jochen Flinzer, Christian Jankowski, Liane Lang, Liza Lou, Pia Maria Martin, Brigitte Maria Mayer, Chantal Michel, Jean-Luc Moerman, Yasumasa Morimura, Ciprian Muresan, Agathe Pitié, Antoine Roegiers, Markus Schinwald, Cindy Sherman, Yinka Shonibare MBE, Hiroshi Sugimoto und Ged Quinn alte Meister von der Antike bis ins 19. Jahrhundert für die Gegenwart fruchtbar machen. Und sie ist selbst bei der Produktion von Irene Andessners Video ›Art Protektors I und II‹ nach Jan Adam Krusemann zusammen mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer und anderen Kunstförderer der Stadt in historischen Kostümen aufgetreten.
Zeiten des Umbruchs, so ihre Überzeugung, „erzeugen den Wunsch nach Bewahrung, nach Manifestation und, Dauer – nach kultureller Erinnerung. Dementsprechend hat alles Historische in unserer Gegenwart Konjunktur: In der Werbung, Mode“, Filmwelt und auch „in der Gegenwartskunst […]. Bereits in den 1970er-Jahren griffen Künstler wie Andy Warhol oder Künstlerinnen […] wie Birgit Jürgenssen das kunsthistorische Erbe im Zuge einer ersten Retrowelle […] auf. Mit seriellen Mona Lisasund feminisierten Heiligen wiesen sie auf die Kommerzialisierung und auf die gesellschaftsabhängige Konstruktion von Identität in überlieferten patriarchalen Ordnungen hin. Die Kunstschaffenden von heute wenden sich den alten Meistern aus einem neuen Selbstverständnis zu. Vorurteilsfrei blicken sie nicht nur kritisch, sondern auch mit Neugierde auf die Säulenheiligen der Vergangenheit und fahren erneut ihre Empfangsantennen aus, um die in den Meisterwerken gespeicherten ›mnemischen Wellen‹ (Aby Warburg; vergleiche dazu Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Frankfurt a. M.1984, S. 342 und Rainer Metzger, Relektüren Folge 38 – Erwin Panofsky, Die Renaissance der europäischen Kunst. In: Kunstforum International Band 244, Januar – Februar 2017, S. 362 f.) zu empfangen und diese mit Blick auf die Zukunft in ihrer individuellen Bildsprache für die Gegenwart produktiv zu machen“ (Nicole Fritz S. 5).
Die weiterentwickelten Arbeiten sind in der Ausstellung und in dem zur Ausstellung erschienen vorbildlichen Katalog Themenfeldern wie Appropriation als Reanimation, Appropriation als Identifikation und Appropriation als Partizipation zugeordnet.
Ob man der kunstreligiös inspirierte These von Nicole Fritz folgen möchte, dass Kunst als ›soziales Erinnerungsorgan‹ (Aby Warburg, a. a. O. S.326) in Umbruchzeiten, „eine umso wichtigere sinnstiftende Funktion“ (Nicole Fritz S. 13) bekommt, bleibt dem eigenen Urteil überlassen: „Gerade heutzutage, in einer Zeit, in der sich das kulturelle Gedächtnis durch die Pluralisierung und die Individualisierung der Gesellschaft zunehmend in unterschiedliche Erinnerungsgemeinschaften ausdifferenziert und ein für alle verbindlicher Wertehorizont zunehmend schwindet, hat die Kunst […] eine umso wichtigere sinnstiftende Funktion bekommen. Da die Kirchen und volkstümliche Brauchtumsordnungen in den verweltlichten Industrienationen an Einfluss verlieren, orientieren sich die Menschen zunehmend an Mußegattungen der Lifestylegesellschaft und beziehen ihre Sinngehalte auch verstärkt aus dem Theater oder (aus den von) der Kunst hervorgebrachten ästhetischen Symbolsystemen“ (Nicole Fritz S. 12 f.).
Richtig ist, dass die Kirchen in Deutschland im Vergleich zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an Einfluss verloren haben. Richtig ist aber auch, dass religiöse Akteure in vielen modernen Gesellschaften trotz aller Säkularisierung nach wie vor eine starke kulturelle Prägekraft entfalten und vor allem außerhalb Europas mit ihren Sinnangeboten, Weltdeutungen und Heilsversprechen verstärkt eine große Mobilisierungskraft entwickeln (vergleiche dazu Friedrich Wilhelm Graf / Jens Uwe Hartmann ⟨Hrsg.⟩, Religion und Gesellschaft, Sinnstiftungssysteme im Konflikt, S. 1). Vielleicht kann deshalb schon ein schlichter Vergleich der Religions- und Kunststatistik bei der weiteren Urteilsbildung weiterhelfen. Derzeit haben je nach Statistik zwischen 7,23 und 9 Prozent der Bevölkerung in Deutschland ein besonderes Interesse an der Kunst- und Kulturszene, 21,27 Prozent ein mäßiges Interesse und zwischen 42,1 und 60 Prozent gar kein oder kaum ein Interesse. Zwischen 1997 und 2017 ist nach einer Allensbach-Studie von 2017 das Interesse für die Kunst- und Kulturszene im Bildungsbürgertum von 44 auf 39 Prozent und in höheren Bildungsschichten von 67 auf 54 Prozent zurückgegangen. Auch wenn die Zahl der Kunstliebhaber in den letzten 15 Jahren absolut gesehen nicht abgenommen hat, hat das Interesse an klassischer Kultur als kollektiv identitätsstiftendem Element an Bedeutung verloren (vergleiche dazu etwa die Allensbach-Studie Bildungsbürger und Massenkultur von Steffen de Sombre: https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/AWA/AWA_Praesentationen/2017/AWA_2017_deSombre_Bildung_Kultur.pdf und die Studie Interesse der Bevölkerung an der Kunst- und Kulturszene von 2015 bis 2019: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/170946/umfrage/interesse-an-kunst-und-kultur/). Nach den neuen Religionsstatistiken bezeichnen sich dagegen immerhin noch 53,2 Prozent der Deutschen als evangelische oder katholische Christen, 5,1 Prozent als konfessionsgebundene Muslime und 3,9 Prozent als Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften (vergleiche dazu https://fowid.de/schlagworte/religionszugehoerigkeiten). Demnach ist die Religion auf die Agenda der Gesellschaft zurückgekehrt.
ham, 4. September 2019