Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 10. November 2018 – 17. Februar 2019 in der Kunsthalle Tübingen, herausgegeben von Natascha Burger und Nicole Fritz mit Texten von Patricia Allmer, Michael Bracewell, Louisa Buck, Natascha Burger, Maurizio Cattelan, Melissa Destino, Marta Dziewańska, Heike Eipeldauer, Nicole Fritz, Lorenzo Giusti, Jessica Morgan, Gabriele Schor, Jasper Sharp, Abigail Solomon-Godeau, Ninja Walbers
Kunsthalle Tübingen / Prestel Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München, 2018, ISBN 978-3-7913-5832-1, 336 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 30 x 22,5 cm,
€ 49,00
Die an der Hebräischen Universität von Jerusalem und am Centre européenne de sociologie et de sience politique de la Sorbonne, Paris lehrende Soziologin Eva Illouz hat sich zum Abschluss ihres vor zwanzig Jahren begonnen Forschungsprojekt zur Transformation unseres Gefühls- und Liebeslebens durch den Kapitalismus und die Kultur der Moderne mit der Frage auseinandergesetzt, warum Liebe endet oder gar nicht mehr erst beginnt. Demnach spielen in der als Konsumfreiheit verstandenen sexuellen Freiheit vormoderne Vorstellungen von Liebe und vom Liebeswerben als Weg zur Entscheidungsfindung bei der Partnerwahl ebenso keine Rolle mehr wie normative, existentielle und ontologische Gewissheiten: sexuellen Reinheit vor der Ehe ist nicht mehr gefragt. Ich muss in einer bestimmten Situation nicht mehr wissen, wer ich bin und was ich möglichen Partnern schulde und niemand erwartet mehr, dass der Austausch von Geschenken die Entscheidung für einen Partner positiv verstärkt. Dafür wird der Körper der Frau um so wichtiger; er wird zur Ware.
„Die Konsumkultur hat die Ontologie der Sexualität in ein Theater des Selbst verwandelt, eine durch Konsumobjekte vermittelte sichtbare Darbietung […]. Wurde die traditionelle weibliche Sexualität gegen Geld und Macht der Männer eingetauscht, so ist die der modernen Frau in einem Markt angesiedelt, in dem es Frauen zur Pflicht gemacht wird, dass sie ihre Freiheit und Macht darauf verwenden, den sexuellen Wert ihres Körpers in eine ästhetische, symbolische und ökonomische Darbietung zu verwandeln. Wenn der weibliche Körper demzufolge so weitgehend sexualisiert und kommodifiziert worden ist, dann deshalb, weil die Sexualisierung von ökonomischem und symbolischem Wert ist: Der attraktive Körper lässt sich in die Sphäre der Produktion zurückleiten und kann dort Kapital generieren. Eine Form solchen Kapitals findet sich in der Fülle an Dienstleistungen von Branchen, die ein ›angenehmes‹ attraktives Äußeres erwarten: Kellnerinnen, Flugbegleiterinnen, PR-Vertreterinnen […] müssen alle über eine attraktive Optik verfügen […]. Eine zweite Weise der Wertschöpfung durch das sexualisierte Selbst hat mit der Medienindustrie zu tun, in denen Sex und Sexualität in bildhafter Form konsumiert werden – in der Werbe-, Film- und TV-Branche bis in die Niederungen der Pornoindustrie […]. Ist der Körper einmal in eine konjugierbare visuelle Einheit verwandelt“, wird er auch für Wirtschaftszweige und Produkte wie die Selbsthilfeliteratur, psychologische Beratung und Therapie, Pharmaindustrie, Sexspielzeughersteller, Prostitution und Escortdienste interessant“ (Eva Ilouz, Warum Liebe endet, Berlin 2018, S. 162 ff.).
Wenn die 1949 geborene und 2003 verstorbene österreichische Zeichnerin, Bildhauerin und Fotografin Birgit Jürgenssen noch leben würde, würde sie in Eva Illouz wahrscheinlich eine Seelenverwandte sehen: Zeichnungen wie ›Hausfrau‹, 1974, ›Fensterputzen‹, 1975, ›Bügeln‹, 1975, ›Bodenschrubben‹,1975, ›Stiefelknecht‹, 1976 und ›Dienstmädchen‹, 1976 (vergleiche dazu https://birgitjuergenssen.com/werke/#filter=.zeichnungen, Estate Nr. z401, z 400, z963, z402, z417, z420) und ihr Objekt ›Küchenschürze‹, 1974/1975 (vergleiche dazu https://birgitjuergenssen.com/werke/#filter=.skulptur, Estate Nr. s51) stehen bei Jürgenssen für die Semiotik des Kapitals und die der Frau im häuslichen Umfeld zugewiesenen Funktionen und Aufgaben; ihre Werkgruppe der zum sexuellen Fetisch gewordenen Schuhe (vergleiche dazu ihren ›Zungenschleckschuh‹,1974, ihren ›Bettschuh‹, 1974, ›Aschenbrödel‹, 1976, ihren ›Schwangeren Schuh‹ 1976 und ihren ›Porzellanschuh (Modell B.K)‹, 1976 und https://birgitjuergenssen.com/werke/#filter=.skulptur, Estate Nr. s16, s13, s6,s7) für die von Frauen in der Moderne verlangte Sexyness und ihre Fotografie ›Nest‹, 1979 (vergleiche dazu https://birgitjuergenssen.com/werke/#filter=.fotos, Estate Nr. ph2809) für ihre Rolle als Gebärerin.
Dass diese Rollen- und Funktionszuschreibungen eine Frau alles andere als zureichend beschreiben, zeigt Jürgenssen unter anderem in ihrem Objekt ›Ich bin.‹, 1995, Kreidestift, Schreibtafel, Schwamm auf Holzplatte montiert, hinter Acrylglas, 30.9 x 25,5 x 3 cm (vergleiche dazu https://birgitjuergenssen.com/werke/#filter=.skulptur, Estate Nr. s46): Wenn sie in Schönschrift mit weißer Kreide ›Ich bin‹ auf die Schiefertafel schreibt, fühlt man sich zunächst an das Einüben der aktiven Konjugation des Wortes „sein“ im Indikativ Präsens im Deutsch-, Griechisch-, Latein-, Französisch und Englischunterricht erinnert: „Ich bin.“; dann an den nicht zu Ende gehenden theologisch-philosophischen Diskurs über die Frage, was das menschliche Sein ausmacht und nicht zuletzt an die Begrenztheit des menschlichen Daseins (vergleiche zu Letzterem ihre Totentanzserie ›Ohne Titel‹, 1978/79, SX-70-Polaroid, 10,5 x 8,7 cm, https://birgitjuergenssen.com/werke/#filter=.fotos, Estate Nr. ph 147, ph277, ph 476, ph 474, ph 487). Ihr Farbfotografien ›ohne Titel (Selbst mit Fellchen)‹, 1974/77, ›Zebra 1 und 2‹, 2001 und ihre Verwandlung in ein Wesen aus Efeu in ›Ohne Titel‹, 1979 (vergleiche dazu https://birgitjuergenssen.com/werke/#filter=.fotos, ph679, ph125, ph126, ph770, ph783) zeigen, dass sie sich in die Evolution des Lebens eingebunden sah, ihr fortgesetzter Wechsel der Medien, dass sie wusste, dass es mehr als einen Zugriff braucht, wenn man dem Sosein des Menschen nahekommen will.
Ihre ›Küchenschürze‹, ein dreidimensionaler, wie eine Schürze vor dem Körper anlegbarer Küchenherd gilt heute als Ikone des Feminismus. Dass sie ihre Kunst als eine Größe ansah, die über den Feminismus hinausgeht, verrät ihre Selbstbezeichnung „femischistisch“. Abigail Salomon-Godeaus Vorschlag, Jürgenssens Werk durch das Brennglas des Anthropozäns zu betrachten, ist schon deshalb nachdenkenswert, weil er die Grenzen der jüngeren und jüngsten Geschlechterdebatten hinter sich lässt und einen weiteren Horizont anvisiert. Ob sie ihr Werk in dem im Jahr 2000 in die Debatte geworfenen und ab 2008 wirksam gewordenen Begriff Anthropozän gut aufgehoben gesehen hätte, muss aber vielleicht doch offen bleiben.
Jürgenssens bildkünstlerischen Ansatz im Kontext der Semiotik des Kapitals, des Feminismus und des Anthropozäns zu verorten, sind diskutable Möglichkeiten einer Annäherung an ihr Werk. Nicole Fritz akzentuiert dagegen ihre Transformation kultureller Traditionen. Nach einem fiktiven Interview mit Mauricio Cattellan könnte sie betont haben, dass Kunst „neue Denkweisen stimulieren und unsere Aufmerksamkeit schärfen“ soll. „Meine Kunst handelt von der Wahrnehmung. Man kann Bilder und die Werte und Normen, die sie transportieren, strategisch so manipulieren, dass sie subversiv werden. Das trägt auch zur Analyse dessen bei, was sich hinter ihnen verbirgt. Wie werden Bilder (Bild im Sinne der Objektivierung / des Paradoxons der Frau) verwendet, um die gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne des (patriarchalischen) Geschmacks zu vernebeln und damit zu festigen?“ (Birgit Jürgenssen im Gespräch mit Maurizio Cattelan S. 175). Auf die Frage, ob sie Femischistin sei, könnte sie geantwortet haben: „In dem Sinne, dass ich die herrschenden Theorien und Darstellungskonventionen bewusst mache und analysiere … Ja“ (Birgit Jürgenssen a. a. O. S. 177).
ham, 1. Februar 2018