Rerum Religionum. Arbeiten zur Religionskultur Band 1

transcript Verlag, Bielefeld, 2019, ISBN 978-3-8376-4672-6, 238 Seiten, 9 Farb- und 58 schwarzweiß-Abbildungen und Tabellen, Broschur, Format 22,5 x 14,8 cm, € 39,99

Kunst und Religion sind seit der Renaissance nach einer Phase des engen Miteinanders zwischen 800 und 1650 zunehmend auseinander getreten, verstehen sich seit etwa 200 Jahren als eigenständige Erfahrungsräume, fransen in der Gegenwart an den Rändern des erweiterten religiösen Feldes aus und bilden Religionshybride und Märkte des Besonderen. „An den Rändern des erweiterten religiösen Feldes sind soziale Praktiken zu beobachten, die jenseits von dogmatisch verfasster Religion zwischen Teilreligiosität, Religionsanalogie bzw. -äquivalenz oder auch sich abgrenzender Nichtreligiosität changieren. Potentiell können sie sich dem religiösen Kernfeld […] entsprechend ausdifferenzieren, doch ebenso gut mag ihre signifikante Relation zum Religiösen an Bedeutung verlieren und sich in religiöse Indifferenz wandeln. Die interdisziplinäre Rostocker Forschungsgruppe unter Leitung von Peter A. Berger (Makrosoziologie), Klaus Hock (Religionswissenschaft) und Thomas Klie (Praktische Theologie) fasst derartige Konzepte unter das Konzept der Religionshybride […]. Unter anderem stellte sich im Forschungsverlauf […] heraus, dass die Bildung von Netzwerken und das Agieren auf Märkten in den Bereichen Heilung und Heil, Ökologie und Spiritualität sowie Kunsthandwerk und spirituelle Kunst von signifikanter Bedeutung für die Herausbildung von Religionshybriden sind. Dieses Ergebnis bildet nun die Basis für das DFG-Projekt ›Märkte des Besonderen. Religionshybride Netzwerke in Mecklenburg-Vorpommern‹, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist“ (Antje Mickan / Thomas Klie / Peter A. Berger S. 11 ff.).

Joachim Fischer, Uta Karstein und Aida Bosch befassen sich im ersten Abschnitt des Bandes mit der Bedeutung von materialen Ausdrucksweisen für die Konstitution von Gesellschaft, die Herausbildung und Stabilisierung der eigenen Identität und das ethisch-moralische Bewusstsein einer Gemeinschaft. Den zweiten Block bilden Aufsätze zum Thema Räume der Zeit, der Systeme und des Verstehens. Andreas Mertin eröffnet den Block mit dem Vorschlag, den Erfahrungsraum Kunst in der Kulturgeschichte der Menschheit früh und den von Religion spät anzusetzen. In seinem Überblick über die Bildentwicklung der Menschheit von 40 000 vor bis heute kommen zwar die Malereien aus der Aurignacien-Kultur in der El- Castillo-Höhle und in den Höhlen von Chauvet und Altamira vor, aber nicht die gleichaltrigen altsteinzeitlichen Artefakte aus den Höhlen der Schwäbischen Alb.

Mertin argumentiert mit der in Hannover habilitierten Religionswissenschaftlerin Ina Wunn:
„Würde man Religion […] mit einem Götterglauben oder wenigstens mit einem Ritualsystem identifizieren, dann wäre sie […] späten Datums, vielleicht gerade erst 12 000 Jahre alt: ›Im Neolithikum entstanden die Grundlagen eines Weltbildes, das wir heute als religiös bezeichnen würden. Man glaubte an übermächtige Wesen, die auf die Geschicke derjenigen Menschen Einfluss nehmen, für die […] Sorge zu tragen ist oder die im Ritual vergegenwärtigt werden … Dies heißt, es existierten nun religiöse Vorstellungen und Praktiken. Es gab also ein Repertoire an Symbolen, die auf eine jenseitige Welt und höhere Mächte einerseits, auf gemeinsame Werte andererseits verwiesen und die im Ritual vergegenwärtigt wurden‹ (Ina Wunn, Götter – Gene – Genesis, a. a. O. S. 102) […]. Dieses Weltbild entwickelte sich also in einer Zeit, in der die Hochphase der frühen Bilder schon wieder vorüber ist, aber es entwickelte sich mit und aus diesen Bildern, was sich etwa aus der Darstellung des Schamanen in der Grotte von Trois- Frères ablesen lässt, bei dem die Überschneidung von Kunst und Religion vielleicht direkt beobachtet werden kann“ (Andreas Mertin a. a. O. S. 103). Nach dieser Auffassung wären der etwa 40 000 Jahre alte Adorant aus der Geißenklösterle-Höhle (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Adorant_vom_Geißenklösterle), der im Hohlenstein-Stadel gefundene etwa gleich alte Löwenmensch (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Löwenmensch) und die Flöte aus Gänsegeier-Knochen aus der Hohle Fels-Höhle (vergleiche dazu https://www.scinexx.de/news/geowissen/40-000-jahre-alte-knochenfloete-entdeckt/) kein Beleg für die frühe Verbindung von Kunst und Religion.

Aida Bosch verweist dagegen auf Forscher, die vermuten dass, sich in diesen altsteinzeitlichen Artefakten „rituelle Zwecke mit Ausdrucksvermögen und -bedürfnis der damaligen Menschen verbanden […]. Nach heutigem Stand der Erkenntnis gehören damit ästhetische Techniken und kreative Ausdrucksweisen seit Beginn des Menschen zu seinem Handlungsrepertoire. Seit etwa 40 000 Jahren werden ‚besondere‘, künstlerische Objekte geschaffen, die, nach allem was wir wissen, nicht nur dem künstlerischen Ausdruck, sondern auch kultischen Zwecken dienten“ (Aida Bosch S. 71 f.). Im Titel ihres Beitrags spricht sie von „Objekten zwischen Kunst und Ritual“ (Aida Bosch a. a. O. S. 69).

Im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart wagt man sich deutlich weiter vor: Demnach ist der Adorant von der Schwäbischen Alb als tanzender Schamane zu deuten: „Auf der stark angewitterten Vorderseite […] ist im Halbrelief eine Figur mit erhobenen Armen und Tierattributen zu erkennen – wohl ein tanzender Löwenmensch, ein Mensch-Tier-Mischwesen“ (vergleiche dazu https://www.landesmuseum-stuttgart.de/sammlungen/archaeologie/alt-und-mittelsteinzeit/adorant/). Nach der Wikipedia sind sogar Ritualgemeinschaften denkbar: Auch der Löwenmensch könnte einen Schamanen zeigen, „der das Fell eines Löwen mit Kopf und Hinterläufen im Rahmen eines Rituals benutzte […]: Im Jahr 2004 wurde ein ›kleiner Bruder‹ (ca. 2,5 cm hoch) des Löwenmenschen im Hohlen Fels bei Schelklingen im Achtal gefunden. Dies könnte auf eine Art Ritualgemeinschaft der Bewohner der beiden Fundstätten hinweisen.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Löwenmensch). Der Tübinger Ur- und Frühgeschichtler Nicholas Conrad konstatiert, dass hinter dem Löwenmenschen „weitreichende Ideen stecken“ müssen, „auch religiöse“. „Die Figuren sind mit Bedeutung aufgeladen. Man kann hier an die Kommunikation der Menschen des Aurignacien mit den Naturkräften denken, an Kontakte mit der Geisterwelt, an Schamanismus.“ Er grenzt sich aber von der Schamanismus-Hypothese ab: „So etwas kann man weder beweisen noch widerlegen.“ (vergleiche dazu https://www.wissenschaft.de/geschichte-archaeologie/im-bann-der-loewenmenschen/). Wenn selbst Conrad religiöse Ideen schon in der Auvignacien-Kultur für wahrscheinlich hält, wird die von Mertin in Erwägung gezogene Spätdatierung von religiösen Erfahrungsräumen unwahrscheinlich.

Seine Schlussfolgerungen für ein Modell religionshybrider Räume klingen versöhnlich: Wenn ‚Kunst‘ und ‚Religion‘ „zwar theoretisch in sich vollkommene Erfahrungsräume sind, aber lebenspraktisch weiterhin voneinander lernen und sich gegenseitig befruchten können, dann kann dieser Gedanke auch auf die Räume von Kunst und Religion übertragen werden. Die räumlichen Gestaltungen der Kult-Ur-Orte ‚Kunst‘ und ‚Religion‘ wären dann auf absehbare Zeit darauf verwiesen, ›aus dem anderen ›Impulse, Inhalte, Aufgaben zu schöpfen‹ (Georg Simmel). So gälte es nicht nur für die Religionen vor Ort, die Potentiale der Kunst zu bedenken, sondern auch für das Betriebssystem Kunst, den Kosmos der Religion und deren räumliche Ausgestaltungen mit einzubeziehen“ (Andreas Mertin S. 111 f.).

Der Kunsthistoriker und Direktor der Lübecker Overbeck-Gesellschaft Oliver Zybok scheint sich genau dieser Aufgabe zu stellen. Er unterstreicht, dass der Aspekt des Sakralen Künstler in Räumen wie St. Peter in Köln, im Hospitalhof und in der Hospitalkirche Stuttgart oder in St. Petri in Lübeck noch einmal vor ganz andere Herausforderungen stellt als die Räumlichkeiten eines Museums. Gleiches scheint für Kuratoren zu gelten, wenn sie zugleich in Museen und „Gefühlsräumen“ wie St. Petri kuratieren: Bei seinen Projekten in St. Petri setzt Zybok mit dem programmatisch für St. Petri verantwortlichen Pastor Bernd Schwarze „an einem ›Nullpunkt der Religion‹“ an: „›Wir kennen unsere Tradition. Aber wir wissen auch, wie sich der Glaube verändert hat. Wie seine Inhalte kritisiert und transformiert wurden und werden in Gesellschaft und Kultur. Wie der Einfluss und die Bedeutung der Kirchen schwindet. Und wir sind mittendrin. Darum beginnen wir in St. Petri unsere Arbeit stets so, als würden wir zum ersten Mal über das Leben und den Sinn nachdenken. In einem faszinierend leeren Raum. Am Nullpunkt er Religion eben‹“ (Oliver Zybok / Bernd Schwarze S. 128 f.).

Der Wissens-, Kultur-, Religions- und Mediensoziologe Hans-Georg Soeffner fragt in seinem Beitrag, wie Hiroshi Sugimoto und andere Künstler es schaffen, in ihren Bildern Raum für Bilder des im Bild Unsichtbaren zu schaffen und es damit ermöglichen, neu sehen zu lernen, statt immer nur neue Bilder zu suchen. Seine Grundlegung einer soziologischen Hermeneutik des Sehens kommt in der Betrachtung von Sugimotos ›Time’s Arrow‹, 1987, auf den Punkt (vergleiche dazu https://www.artnet.com/auctions/artists/hiroshi-sugimoto/times-arrow-2): „Time’s Arrow ist eine streng und sparsam komponierte, symbolische Form, deren Verweise, Appelle und Richtungsangaben innerhalb eines leeren Raumes formuliert werden. Sie ist der Versuch, dem utopischen Standort, dem Stehen im Raum Nirgendwo, einen Halt zu geben – in den sich durch Raum und Zeit bewegenden Imaginationen und Konstruktionen sinnhafter Inseln. Dieser kulturstiftende Versuch basiert auf der Urform des hermeneutischen Zirkels: Der Sinn der Imagination besteht in der Imagination von Sinn“ (Hans-Georg Soeffner S. 152 f.).

Weitere Beiträge stellen religionshybrider Praktiken in Mecklenburg-Vorpommern vor, darunter die Galerie in der Kirche St. Johannis im Lassaner Winkel (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=Kirche+St.+Johannis,+Lassaner+Winkel,+Mecklenburg-+Vorpommern&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=LLW2fdXa6eCn8M%252CAAAAAAAAAAABAM%252C_&vet=1&usg=K_D94Bq3DYm-7wXBrmfqjrGNGPeG4%3D&sa=X&ved=2ahUKEwjiwrrti4fhAhXF3KQKHaw6CZkQuqIBMAp6BAgGEAY&biw=1679&bih=
912#imgrc=Lphcux5PWtI3vM:&vet=1) und eine Synthese aus angewandter Kunst und Trauerarbeit. Nach der Zusammenfassung von Norbert Fischer durchdringen sich in der Produktion von religiösen und profanen Räumen physische und mentale Prozesse. Die Akteure sind handelnde Individuen, die von historisch unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Mustern geprägt sind. „Dies ist auch für das Verhältnis von Kunst, Raum und Religion von Bedeutung. Der Erfahrungsraum ›Kunst und Religion‹ differenziert sich in die Praktiken von Kunst, Kunsthandwerk und (in industrialisierter Form) Kunstgewerbe […]. Der Kunstraum wird zum hybriden Raum. Die Dinge werden mit Botschaften versehen und können so – als Kunst-, Alltags- oder Ritualobjekte – Erfahrungen verändern und Sinn stiften. Im biografischen Kontext können sie – ohne dies immer streng religiös zu verstehen – ›heilige‹ Funktion haben […]. Nicht zuletzt zeigen sich solche (Kunst-)Objekte als widerborstig gegenüber einem als ›Fortschritt‹ verstandenen gesellschaftlichen Wandel, der dazu neigt, das Vergangene vergessen zu lassen“. Mit Artefakten wie Ruinen von Sakralbauten, Kreuzwegstationen, Marterln oder ähnlichem „wird sowohl vergangenes Geschehen als auch dessen Reflexion in den öffentlichen Raum eingeschrieben. Dieser wird zum – häufig religiös geprägten – Kultur-Raum, weil ihm seine Objekte seine Bedeutung und seinen Sinn verleihen. Solche Orte können auch […] als ›Erinnerungsorte bezeichnet werden“ (Norbert Fischer S. 234 ff.).

Dass die Ansprüche an die ästhetische Qualität von Bildern und Artefakten in überkommenen Kunstorten, Religionshybriden und Märkten des Besonderen stark differieren, wird im Vergleich der Kunstprojekte von Oliver Zybok (vergleiche dazu etwa https://www.google.de/search?biw=1679&bih=912&tbm=isch&sa=1&ei=rWiPXPHiLJKymwX-0IHoBQ&q=Meese+in+der+Overbeck+Gesellschaft+und+in+St.+Peri+L%C3%BCbeck&oq=Meese+in+der+Overbeck+Gesellschaft
+und+in+St.+Peri+L%C3%BCbeck&gs_l=img.12…109812.127322..129849…0.0..0.64.430.7……1….1..gws-wiz-img.s_aRYrijiKQ) mit denen von St. Johannis (vergleiche dazu etwa http://www.galerie-in-der-kirche.de) überdeutlich.

ham, 16. März 2019

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