Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2024, ISBN 978-3-374-07687-1, 142 Seiten, Paperback, 23 x 15,5 cm, € 19,90

Georg Friedrich Wilhelm Hegel ist noch davon ausgegangen, dass sich die Vernünftigkeit der Wirklichkeit im Laufe der Geschichte durchsetzt. Deshalb konnte er seine Überzeugung von der Vernunft als treibender Kraft der Geschichte und von dem prozesshaften Fortschritt des Geistes 1821 in seiner Vorrede zu den »Grundlinien der Philosophie des Rechts« in dem Satz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ zusammenfassen und den modernen Staat als die höchste Form der Verwirklichung der Vernunft in der Sphäre des Politischen beschreiben. Er ist für ihn „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“, „das sittliche Ganze“, „das an und für sich Vernünftige“ (vergleiche dazu Ernst Maste, Geschichte und Staat bei Hegel. In: APuZ 34/1970).

Niklas Luhmann ermäßigt den Staat in seiner Systemtheorie zu einem Teilsystem der Gesellschaft neben anderen wie Religion, Wirtschaft, Recht oder Wissenschaft. Der Staat ist vor allem mit politischer Entscheidungsfindung und der Legitimation von Macht verbunden, an der Formulierung von Gesetzen, der Durchsetzung von politischen Zielen und der Herstellung von Ordnung in der Gesellschaft beteiligt (vergleiche dazu Niklas Luhmann, die Politik der Gesellschaft, Frankfurt, 2002). Religion hat die Funktion, Kontingent zu chiffrieren und zu symbolisieren (vergleiche dazu Niklas Luhmann, Funktion von Religion, Frankfurt 1982). Familien verlieren dagegen für Luhmann durch die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme der Gesellschaft ihre zentrale Stellung und werden zum Ort der Inklusion der Vollperson und zum System, das die Inklusions-Individualität ermöglicht (vergleiche dazu Günter Burkhart, Die Familie in der Systemtheorie. In: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-322-80782-3_6 und https://www.fachportal-paedagogik.de/literatur/vollanzeige.html?FId=3008583).

Wenn in spätmodernen pluralen Gesellschaften der einzelne und einzigartige Mensch und nicht mehr der Staat im Zentrum der Handlungsfähigkeit und Verantwortung steht und Pluralität im liberalen Verständnis als Quelle der Freiheit und schöpferischen Entwicklungsmöglichkeiten und im konservativen Verständnis als Nährboden sozialer unethischer Haltlosigkeit und des »anything goes« begriffen wird, lohnt es sich im Anschluss an Luhmann zu fragen, was Familie, Religion, Politik, Recht, Gesundheitsfür-sorge, wissenschaftliche Forschung, Bildung, Markt, Medien, Militär auf je eigene Weise zu mehr Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheitswillen, Menschenfreundlichkeit und Frieden auf der Welt beitragen können.  Dem gehen der interdisziplinär arbeitende Theologe Michael Welker (vergleiche dazu  https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Welker) und der kanadisch-amerikanische Spezialist für Rechtsgeschichte John Witte, Jr. (vergleiche dazu https://en.wikipedia.org/wiki/John_Witte_Jr.) in dem Band »Was fördert ein besseres Leben?« nach. Für Welker kommt der wissenschaftlichen Forschung bei der Beantwortung dieser Frage ein vielfältiges Orientierungspotenzial zu, das die individuelle Lebens- und Welterfahrung korrigieren, verbessern und verfeinern kann. „Die Korrektur der individuellen Welt- und Lebenserfahrungen, auch wissenschaftlich und im großen Stil, ist besonders wichtig in politischen und medialen Manipulations- und Unterdrückungsverhältnissen. Unter Verweis auf den Berliner Philosophen Volker Gerhardt (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Volker_Gerhardt) macht Welker auf eine neuere ethische Wertschätzung von Wahrheit und gemeinsamer Wahrheitssuche angesichts der inflationären, verheerenden Fake News in der Präsidentschaft von Donald Trump aufmerksam. „Auch die Unterdrückung freier Medien und die Manipulation der Rechtssysteme in autokratischen Systemen sind Anlass, die Wahrheit ethisch wertzuschätzen. Welker sieht ein Bollwerk gegen Bestrebungen, Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit (auch in größeren sozialen Kontexten) zu unterdrücken, in einem weltweiten Netzwerk von Forschungsuniversitäten und Forschungseinrichtungen, die der Wahrheitssuche und der Falsifizierungssensibilität verpflichtet sind – auch wenn diese vielfältigen Bemühungen nicht mit einfacher Stimme und einfachen Botschaften abrufbar sind“ (Michael Welker, S. 76).

Welker und Witte beschreiben die Stellung der Familie im multisystemischen Pluralismus als wertvolles Wechselverhältnis mit den sozialen Systemen Bildung, Recht, Politik, religiöse Kommunikation und Gesundheitsvorsorge und die Kommunikation als „das Herzstück der Beziehung zwischen Eltern und Kindern vom Säuglings– bis zum Erwachsenenalter. Eltern vermitteln ihren Kindern ihre eigene Substanz, ihre Gene, wie wir heute sagen, kodiert und ummantelt mit ihren Instinkten, Neigungen, Talenten, Stärken, Schwächen, Widerstandsfähigkeiten und Verletzlichkeiten. Während der Schwangerschaft teilen Mütter mit ihren Kindern ihren eigenen Körper, ihr Blut und ihr Wesen und versorgen dann ihre Säuglinge mit lebensspendender Nahrung durch das Stillen. Eltern teilen das zärtliche Singen, Gurren, Schaukeln, Kuscheln und Streicheln, das die tiefen Gefühle von Liebe und Zärtlichkeit vermittelt, die für das Wohlbefinden und die gesunde Entwicklung eines Kindes so wichtig sind. Der Entwicklungspsychologe Erik Erikson schreibt einmal, dass das erste »Begrüßungszeremoniell« zwischen einer Mutter und einem Kind »die Wurzel aller späteren Rituale und Kommunikation« sei“ (Welker/Witte, S. 23). Zur Vermittlung grundlegender sozialer Werte, moralischer Fähigkeiten und kommunikativer Fertigkeiten kommt das Lernen von grundlegenden rechtlichen Konzepten von Recht und Unrecht, Autorität und Freiheit, Versprechen und Erwartungen, Mein und Dein (vergleiche dazu Welker/Witte, S. 25).

Zu den Problemen des Systems gehört die heutige Dominanz medialer und marktgetriebener Kommunikation im kindlichen, jugendlichen und familialen Leben. Es wäre aber gefährlich, „die Institution der ehelichen Familie aufzugeben oder abzuschaffen und Fragen der Sexualität, des Kinderkriegens und der Kinderbetreuung gänzlich der ungehinderten und unstrukturierten freien Entscheidung des Einzelnen zu überlassen. Schließlich waren es gerade die Gefahren und die Gewalt des sexuellen Naturzustandes, die Männer und Frauen dazu zwangen, organisierte Gesellschaften mit ihren unterschiedlichen ehelichen, politischen, religiösen und anderen freiwilligen Institutionen zu bilden“ (Welker /Witte,  S.123 f.).

Im Kapitel Recht sieht die Zusammenfassung so aus: „Unverzichtbar bleibt die Gewaltenteilung und die wechselseitige kritische und selbstkritische Steuerung von staatlichem Recht und politischer Bildung, Familienethos, religiösem Ethos, Ethos in der Bildung, im Gesundheitswesen, in der Wissenschaft, aber auch die Ausstrahlung der grundgesetzlich verankerten Rechte. Am Ende […] steht die Betonung der Vorbildfunktion der Richterinnen und Richter, Anwältinnen und Anwälte und anderer, die die Rechtsentwicklung vertreten, als paradigmatisch leitende Bürgerinnen und Bürger. Gerade weil sie den wechselnden politischen Anforderungen an Kompromisse und immer neue Loyalitätsbeschaffung nicht so stark unterworfen sind wie die politisch und medial Einflussreichen, können sie ganz erheblich zur Pflege eines fruchtbaren Ethos beitragen“ (Welker /Witte, S. 129).

Zu den Märkten ist Folgendes zu lesen: „Viele Wissenschaftler halten Märkte heute selbst für amoralisch. Aber viele dieser Ökonomen vertreten dabei auch eine moralische Sichtweise des rationalen homo oeconomicus, der bestrebt sei, die effizientesten und effektivsten Entscheidungen zu treffen, um seine Gewinne zu maximieren. Diese Anthropologie, die Studenten der Wirtschaftswissenschaften unablässig vermittelt wird, hat sich auf viele Lebensbereiche jenseits des Marktes ausgeweitet, darunter Entscheidungen über Glauben, Familie, Gesundheitswesen, Bildung, Forschung, die Medien, militärische Entscheidungen und vieles mehr. Kritiker aus verschiedenen Bereichen, insbesondere aus der Theologie, der Ethik, der Soziologie und der öffentlichen Ordnung, haben sich gegen diese düstere Karikatur des homo oeconomicus der menschlichen Natur gewehrt. Sie haben eine robuste Rückkehr zu Normen der Moralbildung und Formen des ethischen Kalküls gefordert, die die Tugenden und Werte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe sowie der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit und des Friedens ernst nehmen. Es sind diese Tugenden und Werte, die letztlich unser menschliches Leben lebenswert machen, auch unser wirtschaftliches Leben“ (Welker/Witte, S. 138).

In der Zusammenfassung des Kapitels Militär wird unterstrichen, dass bei militärischen Einsätzen das Gewissen jedes einzelnen Soldaten die letzte Entscheidungsinstanz bleibt. Diese neue Ethik schafft eine enge Verbindung zwischen dem Militärdienst und den Grundsätzen der Demokratie und motiviert die Soldaten, Zivilcourage zu zeigen, für Gerechtigkeit einzutreten und ihre militärischen Pflichten konsequent an den demokratischen Gesellschaftsprinzipien auszurichten, die sie schützen. Der Auftrag des Soldaten ist erfüllt, wenn er aus innerer Überzeugung, aktiv für Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie als Leitwerte unseres Staates eintritt. 

Die bei militärischen Einsätzen erlebte Konfrontation mit extremem Leid, Gewalt und Tod kann seine Sicht auf die Welt und das Alltagsleben radikal verändern und einen schleichenden Prozess der Marginalisierung oder Entfremdung auslösen, wenn er als Veteran darum kämpft, seine Erfahrungen mit dem zivilen Leben in Einklang zu bringen. Infolgedessen leiden viele Veteranen unter psychischen Problemen wie posttraumatischen Belastungsstörungen, Angstzuständen, Depressionen und moralischen Verletzungen. Posttraumatische Belastungsstörungen – gekennzeichnet durch Rückblenden, schwere Angstzustände und unkontrollierbare Gedanken an traumatische Ereignisse – entstehen, wenn man lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt ist, die mit militärischen Einsätzen einhergehen (vergleiche dazu Welker/Witte. ,S. 141).

ham, 1. Mai 2025

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