Ausstellung zum 500. Todestag von Carpaccio (um 1460/65 – 1525/26)
vom 15.11.2024 bis 2.3.2025 in der Staatsgalerie Stuttgart und Katalog.
Mit einer Einführung von Christiane Lange, Grußworten von Armando Varricchio, Petra Olschowski, Markus Hilgert, Martin Hoernes, Essays von Peter Humfrey, Annette Hojer, Christine Follmann, Stefan Neuner, Lena Bühl und Annette Kollmann, Christoph Krekel und Stephanie Dietz und Erläuterungen zu den vorgestellten Werken von Daniela Bohde (DB), Hendrik Bündge (HB), Sandra-Kristin Diefenthaler (SKD), Karin Eisenkrein (KE), Christine Follmann (CF), Lea Gerhardt (LG), Annette Hojer (AH), Henry Kaap (HK), Bertram Kaschek (BK), Esther Löffelbein (EL), Peter Lüdemann (PL), Matthias Schulz (MS) und Rostislav Tumanov (RT).
Traumata beeinträchtigen Personen oft ein Leben lang. In der Kunstgeschichte halten sie sich noch wesentlich länger. Zu den bis heute unvergessenen Traumata der württembergischen Kunst-Community gehört der mit dem Ausspruch von König Wilhelm I. „Mir bauchet koi Kunst, mir brauchet Kartoffeln“ verbundene Verkauf der von 1819 bis 1827 in der Schwabenmetropole gezeigten herausragenden Gemäldesammlung altdeutscher und flämischer Maler der Brüder Boisserée an Ludwig I. von Bayern, die bis heute einen Grundpfeiler der Alten Pinakothek in München bildet (vergleiche dazu https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/22978374-cca5-48fa-9c7d-f188043c0028/1/Sammlung_Boisserée_in.html). Der eher an der klassischen italienischen Kunst interessierte Wilhelm I. hat ein Vierteljahrhundert später Abbitte geleistet, als er 1852 die Pinacoteca Barbini-Breganze mit 250 Gemälden überwiegend italienischer Meister des 15. bis 18. Jahrhunderts in Venedig erwarb. „Von diesem Konvolut befinden sich heute noch 216 Werke in der Staatsgalerie, nur 18 davon sind in der ständigen Sammlung ausgestellt. Es handelt sich dabei unter anderem um unstrittige Gemälde von Vittore Carpaccio, Giovanni Bellini, Domenico Tintoretto, Paris Bordone, Pietro Bellotti und Giovanni Battista Tiepolo. Mitte des 19. Jahrhunderts galten diese Namen eher als »Beifang«, der Köder für die damals kapitale Erwerbung waren Werke von Leonardo bis Raffael, die sich später als Kopien oder Fälschungen erwiesen“ (Christiane Lange, S. 10).
Die seit zwei Jahren laufende, von kunsttechnologischen Untersuchungen und Restaurierungen flankierte kunsthistorische Aufarbeitung dieser Gemäldegruppe führte die Staatsgalerie Stuttgart zu der Frage, ob die Rekonstruktion der Provenienzen der einzelnen Gemälde sowie die Identifizierung und Unterscheidung von Kopien, hyperrestaurierten Bildern und Fälschungen nicht zu einer besucherfreundlichen Inszenierung der in der Staatsgalerie Stuttgart befindlichen Hauptwerken der Frührenaissance von Vittore Carpaccio, Giovanni Bellini (um 1435 – 1516) und weiteren Künstlern führen könnte, die zwischen 1465 und 1525 in Venedig tätig waren. Die jetzt realisierte Ausstellung bejaht diese Frage, widmet Carpaccio zum ersten Mal eine Ausstellung in Deutschland, stellt einige seiner wichtigsten Gemälde ausgewählten Arbeiten von Giovanni Bellini gegenüber und verbindet sie mit der weiteren Frage, wie es Carpaccio gelingen konnte, seine Stellung als Chronist des venezianischen Lebens gegenüber dem weitaus berühmteren Giovanni Bellini zu behaupten. Rund 50 Gemälde und Arbeiten auf Papier, darunter Leihgaben aus Venedig, Florenz und Washington, führen vor Augen, wie sich Carpaccio durch seine höchst originelle Malweise positioniert hat.
Die Gegenüberstellung von Carpaccios 1516 geschaffenem »Der heilige Georg bezwingt den Drachen« (vergleiche dazu https://mediaguide.staatsgalerie.de/carpaccio/der-hl-georg-bezwingt-den-drachen/)undAi Weiweis 2022 aus Legosteinen entwickeltem Pendant »Ohne Titel (Der heilige Georg mit dem Drachen)« (vergleiche dazu die Abbildung unter https://www.swr.de/swrkultur/kunst-und-ausstellung/farbenfroh-und-detailreich-der-renaissance-maler-carpaccio-in-der-stuttgarter-staatsgalerie-100.html) gehört neben dem Thomas-Altar zu den Höhepunkten der Ausstellung. Spannend auch die Variationen der von Giovanni Bellini mit großem Erfolg gemalten Madonna mit Kind-Gemälde (vergleiche dazu etwa https://www.rijksmuseum.nl/en/collection/SK-A-33799) durch Carpaccio und andere. Noch interessanter wäre es gewesen, wenn analog zu Ai Weiweis heiligem Georg eine, zwei oder drei zeitgenössische Darstellungen des Themas in die Ausstellung gekommen wären.
Im zur Ausstellung erschienenen Katalog zeichnet Peter Humfrey Carpaccios Malerei in den Kontext der stilistischen Entwicklungen von Malern wie Gentile Bellini (um 1429 – 1507; vergleiche dazu https://www.nationalgallery.org.uk/artists/gentile-bellini), Giorgione (1478 – 1510; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Giorgione), Tizian (um 1488/1490 – 1576; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Tizian), Giovanni Bellini (um 1437 –1516; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Giovanni_Bellini) und Cima da Conegliano (um 1460 – 1517/18; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Giovanni_Battista_Cima) ein. Annette Hoyer hebt Carpaccios erzählerisches Talent hervor und charakterisiert seinen Ursula-Zyklus als seine herausragendste Leistung (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Ursula-Zyklus). Der Maler setzt wie schon die Bellini-Brüder auf den sogenannten „Augenzeugenstil“, eine Form der Bilderzählung, die Ereignisse der politischen oder religiösen Geschichten mit einer Fülle alltäglicher Details wie dem Panorama der Lagunenlandschaft, zeitgenössischen Baustilen, der Kleidung, der Kopfbedeckung und dem Abbild der Inselkirche von San Giorgio Maggiore in die Gegenwart der Künstler und ihrer Betrachter versetzt (vergleiche dazu Carpaccios Übergabe des Heiratsantrags aus dem Ursula-Zyklus unter https://de.wikipedia.org/wiki/Ursula-Zyklus#/media/Datei:Accademia_-_Arrivo_degli_ambasciatori_inglesi_presso_il_re_di_Bretagna_di_Vittore_Carpaccio.jpg).
Zugleich ging Carpaccio einen entscheidenden Schritt über seine Vorbilder hinaus (vergleiche dazu und zum Folgenden Annette Hojer, »Ein magischer Spiegel« – Carpaccio, Bellini und der Mythos Venedig, S. 45): Mit seinem Ursula-Zyklus entwarf Carpaccio, wie Stefan Neuner gezeigt hat, eine neuartige »Malerei für Lagunenbewohner und Seefahrer«, die präzise auf die Alltags- und Seherfahrungen seines venezianischen Publikums zugeschnitten war. Mit erstaunlichem Realismus bilden die Gemälde die in Venedig gebräuchlichen Schiffstypen ab, von der Gondel über Fischer- und Transportboote bis hin zu für die hohe See geeigneten Galeeren und Karacken. Ein weiteres Augenmerk liegt auf der Vielfalt nautischer Erkennungszeichen, die für die Orientierung von Seefahrern unverzichtbar waren, also Windfahnen, Landmarken wie markante Gebirgsformationen oder hoch aufragende Türme und Wasserstandssignalen, die als Kugeln auf Masten angebracht waren und die Gezeiten anzeigten (vergleiche dazu Carpaccios Treffen der Verlobten und Aufbruch zur Pilgerfahrt unter https://de.wikipedia.org/wiki/Ursula-Zyklus#/media/Datei:Accademia_-_Incontro_e_partenza_dei_fidanzati_-_Vittore_Carpaccio.jpg).
Mit seinen Frauenporträts wandte er sich an Bürgerinnen und Patrizierinnen, die sonst in Venedig kaum öffentlich in Erscheinung traten (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/de/ausstellungen/aktuell/carpaccio-bellini-und-fruehrenaissance-venedig#&gid=1&pid=3). Entscheidend neue Maßstäbe setzte er mit dem Jungen Ritter von 1510 (vergleiche dazu https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Vittore_Carpaccio_-_Young_Knight_in_a_Landscape_-_Google_Art_Project.jpg). „Mit diesem bis heute nicht vollständig entschlüsselten Männerbildnis inmitten einer Landschaft, deren Tier- und Pflanzenreichtum wohl allegorisch zu deuten ist, schuf Carpaccio das erste gemalte Ganzfigurenporträt der italienischen Malerei […]. Es war eine höchst originelle und immer wieder auch innovative Form der Malerei, der Carpaccio seinen Erfolg und seine bis heute anhaltende Popularität verdankte. Seine Inspiration bezog er aus der außerordentlich reichen Kulturlandschaft, die Venedig im späten 15. Jahrhundert bot. Diese diversen Vorbilder und Quellen vereinte Carpaccio mit einer einzigartigen Sensibilität für die maritime Kultur seiner Heimatstadt, für die besonderen Perspektiven und Erfahrungen, die das Sehen von Lagunenbewohnerinnen und Seefahrern prägten. Anders als etwa Giovanni Bellini bediente Carpaccio damit gerade kein patrizisch-humanistisches Publikum, sondern die Bürger, die cittadini und popolani Venedigs. Anstelle eines neuen Welt- oder Menschenbildes verhandeln seine Gemälde die traditionellen Werte der Seerepublik, auf denen sich in der allgemeinen Wahrnehmung Frieden und Wohlstand in der Lagunenstadt gründeten“ (Annette Hoyer, S. 58 f.).
Christine Follmann setzt sich mit der Sammlung Barbini-Breganze auseinander, Stefan Neuner mit der Geschichte und den Schichten von Carpaccios Altarbild »Der heilige Thomas von Aquin mit den Heiligen Markus und Ludwig von Toulouse (Pala Dragan)« (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/de/sammlung-digital/heilige-thomas-aquin-den-heiligen-markus-und-ludwig-toulouse) und Anna Degler mit seiner Geburt Mariens (vergleiche dazu https://mediaguide.staatsgalerie.de/carpaccio/geburt-mariens-0/). Für Nichtfachleute mit am spannendsten sind die Beiträge zur Kunsttechnologie und Restaurierung der »Pala Dragan« und des »Martyriums des heiligen Stephanus« (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/de/sammlung-digital/martyrium-des-heiligen-stephanus-stephanus-zyklus), die sich heute in der Staatsgalerie Stuttgart befinden (vergleiche dazu auch Carpaccio, Bellini und die Frührenaissance in Venedig – Maltechnik und Restaurierung. Das Forschungs- und Restaurierungsprojekt. In: https://www.staatsgalerie.de/de/ausstellungen/aktuell/carpaccio-bellini-und-fruehrenaissance-venedig/restaurierung). Der sorgfältig erarbeitete und anspruchsvoll gestaltete und gedruckte Katalog hebt einen lange vergessenen Schatz und setzt kaum zu überbietende Maßstäbe. Er hat die ISBN-Nummer 978-3-7774-4433-8, umfasst 288 Seiten mit 175 Abbildungen in Farbe, ist gebunden, 31 x 24 cm groß und kostet im deutschen Handel 49,90 € und in Österreich 51,30 €.
ham, 21. November 2024