Belebte Tücher in der mittelalterlichen und modernen Kunst

Schirmer/Mosel, München, 2024, ISBN/EAN: 978-3-8296-0991-3, 232 Seiten, 110 Farbabbildungen, Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag, Format 24,2 x 17,4 cm, € 58,00/€ 59,79 (Ö)/CHF 66,70

Stefan Trinks, derzeit Professor (in Vertretung) am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität Berlin, hat schon 2010 mit seiner Dissertation „Antike und Avantgarde. Skulptur am Jakobsweg im 11.Jahrhundert: Jaca – León – Santiago“ auf sich aufmerksam gemacht. Jetzt liegt seine 2016 von der Humboldt-Universität zu Berlin angenommene lesenswerte Habilitation „Glaubensstoffe und Geschichtsgewebe – Ikonologie belebter Stoffe in Buchmalerei und Skulptur“ in einer bei Schirmer/Mosel aufgelegten modifizierten und bestens ausgestatteten Ausgabe vor.

Trinks setzt mit der schwebenden Stoffskulptur ›Abakan Rouge II‹ der polnischen Künstlerin Magdalena Abakanowicz aus der aus ihrem Namen abgeleiteten Serie der ›Abakans‹ ein, für die sie 1965 auf der Biennale von Sao Paulo den Grand Prix erhalten hat (vergleiche dazu https://collection.nationalmuseum.se/eMP/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=206&viewType=detailView

und https://www.stephaniesteele.co.uk/blog/magdalena-abakanowicz-tate-modern-exhibition-review). Es handelt sich bei dieser Folge um frei im Raum schwebende eingefärbte Sisalstoffe von beträchtlichen Ausmaßen, die von der christlichen Ikonographie geprägt sind. Trinks weist in seiner Studie detailreich nach, dass das Grabtuch Christi und sein Gesichtstuch, Sindone und Sudarium neben dem Vera Icon als bildgeschichtliche Anknüpfungspunkte und visuelle Vorläufer dieser schwebenden Textilien im Mittelalter gelten können. „Dieses surreal anmutende Motiv, das sich als zentrales Element der verstofflichten Erlösung erweisen wird, ist bisher nicht erkannt, geschweige denn verfolgt worden, und damit fehlt der mittelalterlichen Ikonologie ein exzentrischer Stoff. Mit dem Schließen dieser Lücke werden Freiheitsschübe der mittelalterlichen Formphantasie sichtbar, die sich als eine Art strukturaler Moderne erweisen. Wann immer Bezüge zwischen Mittelalter und Moderne betont werden […], finden sie in den luftig aufgehängten Stoffen einen markanten Beleg. Medienübergreifend in den Handschriften, Elfenbeinreliefs oder Werken der Kleinkunst schweben meist zwei Tücher im Heiligen Grab“ (Stefan Trinks, S. 9 ff.).

So schweben auf Folio 69v der Bamberger Apokalypse ein Tuch in S-Form und ein rundes Knotenknäuel in dem als schwarze Türe aufscheinenden Grab, das Maria aus Magdala, Maria, die Mutter von Jakobus und Joses und Salome betreten wollen, um den Leichnam Jesu zu salben (vergleiche dazu die Bamberger Apokalypse – Staatsbibliothek Bamberg, Mac.Bibl.140/ Scan 144/225: Drei Frauen am Grab, um 1020: https://www.digitale-sammlungen.de/en/view/bsb00136829?page=144,145). Beide Tücher sind, obwohl sie noch kurz zuvor gemeinsam den Leib Christi bedeckten, stark unterschieden. Dem S-förmig gefalteten Tuch steht ein akkurates Leinenknäuel gegenüber, das wie ein von oben gezeigter Turban wirkt. Es „drängt sich der Eindruck auf, die Bindung folge festen Regeln, wie sie für das Mittelalter mit seiner täglich wieder neu zu bindenden Bekleidung ohne jegliche Konfektionierung vorausgesetzt werden darf; notwendigerweise gehörte das geschickte und routinierte Binden, Falten und Knoten jedweder Art von Tuch zu den primär vermittelten Kulturtechniken, die auch eine unmittelbare Lesbarkeit dieses zeichenhaft vor dunklem Hintergrund schwebenden Tuchknäuels bedingt haben dürften – durch sein unsichtbare Dahinter und die immanente Frage seiner Lösbarkeit steht der stets restgeheimnisvolle Knoten auch für den menschlichen Wissensdrang“ (Stefan Trinks S. 16). Im Sacramentar Bischof Abrahams von Freising aus den Jahren zwischen 984 und 994 hält auf Folio 111r ein Engel die drei Frauen mit einem überlangen Stab auf Distanz. Er zeigt mit seiner rechten Hand auf die Tücher vor der rotbraunen Grabtüre, die sich gleichsam wegdrehen (vergleiche dazu Clm. 6421, fol. 111r, Bayrische Staatsbibliothek, München, Scan 226/579 : https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00065163?page=226,227).

Die zerschlissenen Windeln Jesu aus Matthias Grünewalds Isenheimer Altar (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Isenheimer_Altar#/media/Datei:Isenheimer_Altar_(Colmar)_jm01227.jpg) weisen auf sein Lendentuch am Kreuz auf Golgatha und bei der Grablegung in der Predella des Altars voraus (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Isenheimer_Altar#/media/Datei:Isenheimer_Altar_(Colmar)_jm01221_(retouched).jpg). „Maria, von deren Augen unter dem tief ins Gesicht gezogenen Schleier außer Tränen nichts zu erkennen ist, verknotet in stiller Trauer ihre Hände, offenbar um Fassung ringend“ (Stefan Trinks, S. 51). In der Sonderikonographie der ›Maria Knotenlöserin‹

vermag sie „Christus-postum sündhafte Verknotungen der Menschheit zu lösen. Das bis nach Südamerika hin verehrte, populärste Bild dieser Ikonographie wird in Sankt Peter am Perlach in Augsburg verwahrt (vergleiche dazu https://sankt-peter-am-perlach.de/knotenmadonna.htm; https://www.youtube.com/watch?v=Jo8PSjlU1RY). Das Gemälde des schwäbischen Künstlers Johann Georg Melchior Schmidtner war um 1700 von dem Augsburger Patrizier Hieronymus Ambrosius Langenmantel als Dank für die Rettung seiner Ehe gestiftet worden. Es zeigt Maria als ‚Apokalyptisches Weib‘, nach der Johannesoffenbarung auf der Mondsichel stehend und mit der Sonne bekleidet, das der Schlange den Kopf zertritt und zugleich ein ihr von Engeln gereichtes Band entknotet“ (Josef Trinks S. 53). 

Aus den Miniaturen wandern die Knoten unter anderem um 1230 an die Salomonische Tempelsäule vor dem Taufbecken im Würzburger Dom (vergleiche dazu https://www.flickr.com/photos/wolf-rabe/17305071165), an Tilman Riemenschneiders Kruzifix von 1504 (vergleiche dazu https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Crucifixion_group,_Tilman_Riemenschneider_and_workshop,_Franconia,_c._1500,_limewood_-_Hessisches_Landesmuseum_Darmstadt_-_Darmstadt,_Germany_-_DSC00443.jpg) und um 1310 als Trinity – Knoten in das Rotschild-Gebetbuch (vergleiche dazu Fol. 84r in https://artandtheology.org/2021/05/).

In der Gegenwartskunst sind Kleider und Gewänder unter anderem bei Wolfgang Tillmans zu finden. „Wenn Tillmans Kleidungsstücke über eine Wandheizung drapiert und fotografiert (vergleiche dazu Wolfgang Tillmans, Socks on Radiator, 1998, Museum of Modern Art, New York: https://www.moma.org/collection/works/164470), evoziert er, dass der Heizkörper mehr wird als ein Haushaltsobjekt. Auratisch aufgeladen durch die Überblendung des gleißend weißen Emailles wirkt die Komposition auf einen Betrachter mit christlichem Bildspeicher wie ein Riefelsarkophag im Grab Christi, aus dem dieser nach Abstreifen seiner Hüllen eben gestiegen ist. Eine solch sakrale Aufladung würde als Interpretation überzogen wirken, hätte der Katholik Tillmans nicht eine komplette Serie derart semantisierter Bilder arrangiert: Die Jeans seines Freundes, die Spermaflecken und andere Körperspuren trägt, ruht ohne Körper, aber vielleicht noch mit Restkörperwärme auf dem Handlauf eines Treppengeländers (vergleiche dazu Wolfgang Tillmans, Grey Jens over Stair Post, 1991, Städel Museum, Frankfurt: https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/grey-jeans-over-stair-post); ein uniformartiger ‚Anzug‘ (Suit) scheint tatsächlich im Raum zu schweben“ (Stefan Trinks S. 101 f; vergleiche dazu Wolfgang Tillmans, Suit, 1997: https://www.swissre.com/about-us/art-at-swiss-re/artworks/tillmans-KL1696-suit.html). 

Von Antoni Tàpies (vergleiche dazu Antoni Tàpies, Nus marró, 1964: http://bi.vegap.es/ext/obra.aspx?id=98450) wie von Sigmar Polke sind schwebende Tücher überliefert (vergleiche dazu Sigmar Polke, Da könnte ja jeder kommen, 1982, Museum Boijmans von Beuningen, Rotterdam :

https://www.boijmans.nl/collectie/kunstwerken/4431/werkgruppe-iii-da-koennte-ja-jeder-kommen-werkgroep-iii-daar-kon-toch-iedereen-komen). Polkes in der Auseinandersetzung mit alten Meistern entstandenes Gemälde verdoppelt das Schwebetuch vor dem wabernden Leinwandgrund und bringt seine „lebenslange begeisterte Beschäftigung mit solcherart Stoffbildern auf eine gültige Formel: Auch diese Draperie bildet mit ihren Falten Muster aus; ebenso wie die bewegt über die Leinwände tanzenden Siebdruckmuster werden die textilen Gründe bei Polke jedoch nie als tote Materie, sondern durchgängig als belegter Stoff erachtet, der, seiner Natur als organischem Material folgend, mit Leichtigkeit zum Schweben gebracht werden kann“ (Stefan Trinks, S. 199). Louise Bourgeois’ textile Arbeiten dürften bekannt sein (vergleiche dazu Louise Bourgeois, Pole Piece, 1996, Nasjonalmuseum, Oslo: https://www.textile-forum-blog.org/de/2022/09/louise-bourgeois-the-woven-child/ und Louise Bourgeois, Cell VII, 1998, Nasjonalmuseum, Oslo: https://www.nasjonalmuseet.no/en/collection/object/NMK.DEP.2010.0009) und Pat Whites ›The Magic Carmet‹, 2012 vom BER Flughafen Berlin-Schönefeld (vergleiche dazu https://www.facebook.com/berlinairport/photos/a.383684671679165/383686361678996/?type=3) und Josef Beuys’ Filzanzug auch (vergleiche dazu https://online-sammlung.hamburger-kunsthalle.de/de/objekt/G-2001-3/filzanzug?term=&filter[facet_obj_artistName][0]=Joseph Beuys&context=default&position=9).

Trinks kommt zu folgendem Ergebnis: „Aus frühchristlicher Zeit sind keine Darstellungen der Tücher im Grab Christi erhalten; es wird als leer dargestellt und damit die völlige Absenz des am Kreuz gestorbenen Menschensohnes betont. Von etwa 800 bis 1200 findet sich dagegen eine Fülle von Bildern der schwebenden Grabtücher insbesondere in Handschriften und auf Elfenbeinreliefs. Ab 1200 erscheinen die Schwebetücher wohl unter dem Einfluss eines gewandelten Körperbildes nur noch vereinzelt und in stilistischen Manuskriptnachzüglern oder angeregt von byzantinischer Raubkunst aus dem eroberten Konstantinopel, wo sich das Bildformular weitaus länger gehalten hat. Christus steigt nun anstelle der Tücher körperlich sehr präsent mit wehenden Gewändern und der Auferstehungsfahne aus dem Sarkophag, vermutlich wiederum auf Grund von Veränderungen der religiösen Bedürfnisse einer stärker ausgeprägten Volkstheologie und als Substitut für die möglicherweise als zu abstrakt empfundene Tuchsymbolik. Soziologisch beleuchtet, fehlt zwischen 1200 und 1400 die große Menge kaiserlich-höfischer und hochadeliger Auftraggeber, die derart kostspielige Handschriften mit Illuminationen zu den in Joh 20, 6–7 erwähnten Tüchern wie in ottonischer und salischer Zeit bezahlen konnten. Das Beispiel der wirbelnden Trinitätsknoten in den Rotschild Canticles hingegen zeigt, wie lebendig die Erinnerung an die wirbelnden Knotentücher im Grab in der Zeit um 1300 war.

Ab 1400 beginnt vor dem religionsgeschichtlichen Hintergrund der gesteigerten privaten Andachtsfrömmigkeit einer devotio moderna und zunehmend stärker werdender städtischer Auftraggeberschichten der langsame Siegeszug der Leinenbilder, die optisch ohne sichtbare Befestigung frei vor der Wand schweben. Diese greifen in der Verkörperung des Christusstoffes Leinen wie auch in ihren christlogischen Bildstoffen auf die schwebenden Grabtücher zurück. Diese Leinwandbilder schweben bis in die Gegenwart im Weißraum der Museen und Galerien.

Ein wesentliches künstlerisches Formproblem blieb über alle Epochen bestehen: Bilder und insbesondere Skulpturen, denen meist durch ihre Materialbasis eine gewisse Gravität anhaftet, leicht und schwerelos wirken zu lassen. Ein zentraler Schlüssel zu diesen Levitationen war die Metaphorik schwebender Tücher, die als zweiter Meta-Körper jedem Kunstwerk Leichtigkeit verleihen. Ohne das nahtlose Verschieben von antiker und biblischer Mythologie, konkret der Schwebetücher im Heiliggrab, wären hier nicht Form und Ikonographie zusammengekommen und hätten nicht die Substitution des Bildträgers Holz durch Leinwand die Bildgeschichte bis heute prägen können. Insofern bestimmt die je spezifische Formsprache der Tücher wesentlich die  jeweilige Aussage der Bilder und damit die Geschichte der Kunst“ (Stefan Trinks, S. 210 f.).

ham, 29. August 2024

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