Publikation zur gleichnamigen Ausstellung von 23. März bis 8. September 2024 im K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf und den Folgeausstellungen in Paris, London und Stockholm, herausgegeben von Susanne Gaensheimer, Fiontán Moran, Falk Wolf, Catherine Wood mit Beiträgen von M. Beasley, M. de Brugerolle, R. Cozzolino, H. Folkerts, J.-M. Gallais, J. Halberstam, S. Lacy, M. Leckey, F. Moran, G. Ndiritu, L. López Panigua, G. Phillips, C. Smith, J. Welchman und C. Wood
Hirmer Verlag, München / Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 2024, ISBN 978-3-7774-4317-1, 304 Seiten, 150 Abbildungen in Farbe, Hardcover, gebunden, Format 24,1 x 17,8 cm, € 55,00 (D) / 56,60 (A)
Für Susanne Gaensheimer ist der 1954 in Detroit geborene, in einer katholischen Familie aufgewachsene und 2012 in Los Angeles verstorbene Performer, Installations-, Konzept- und Multimedia-Künstler Mike Kelley einer der einflussreichsten Künstler seiner Generation. Wer etwas über zeitgenössische Kunst erfahren möchte, sollte nach Falk Wolf einfach Mike Kelley studieren, weil alles, was die zeitgenössische Kunst ausmacht und zu bieten hat, in diesem Werk zu finden ist. Kelley performte, zeichnete, machte Videos, skulpturale Objekte, raumfüllende Installationen und hat durch die Einbeziehung von Kuscheltiere und Flohmarktstücken das Spektrum der Gegenwartskunst radikal erweitert (vergleiche dazu https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/video-1319788.html).
„Ein roter Faden in seinem Werk […] ist Kelleys Untersuchung, wie die eigene Subjektivität von familiären oder institutionellen Machtstrukturen in der Gesellschaft geprägt wird und wie diese Machtstrukturen bestimmte Mythen, Geschichten und Glaubenssysteme hervorbringen. Mitte der 1990-er Jahre begann Kelley, als Reaktion auf die Rezeption seiner Plüschtier-Arbeiten, sich – neben Verschwörungstheorien und der Macht der Imagination – aktiv mit der Rolle der Erinnerung auseinanderzusetzen, insbesondere mit dem Konzept des Repressed-Memory-Syndroms. Die daraus resultierenden Arbeiten hielten der amerikanischen Popkultur und der amerikanischen Psychoanalyse mit unterschwelligen Enthüllungen von Missbrauchserzählungen, die mitunter frei erfunden waren, einen dunklen Spiegel vor. Mit diesen Werken zeigte Kelley, wie alle Formen der Erinnerung, der Geschichte und auch Zukunftsvorstellungen auf Glaubenssysteme angewiesen sind, die er durch seine Arbeiten immer wieder infrage stellte“ (Karin Hindsbo, Susanne Gaensheimer, Emma Lavigne, Gitte Ørskou S. 8).
Die in Düsseldorf zwölf Jahre nach seinem Tod gezeigte Überblicksausstellung und der zur Ausstellung erschienene Katalog setzen mit Kelleys frühen foto -und textbasierten Arbeiten zur Geisterfotografie ein (vergleiche dazu ›The Poltergeist (1979)‹ unter https://www.mutualart.com/Artwork/The-Poltergeist/AAB583A3AA1748E0 und Carsten Probst, Erste kunsthistorische Einordnung. In: https://www.deutschlandfunk.de/erste-kunsthistorische-einordung-100.html) und bewertet seine meist unbeachtet gebliebene Zeichnung ›My Space‹ von 1978 als Schlüsselwerk (vergleiche dazu https://mikekelleyfoundation.org/artwork/diagram-for-my-space-performance): In seinen Notizbüchern behauptet er, „um zu existieren, müsse man einen Körper haben – und zwar einen Körper, der im Raum existiere und mit anderen menschlichen und nicht menschlichen Wesen interagiere. In einem Abschnitt […] behauptet Kelley sogar: ›Nichts erstrahlt ohne den Körper‹ – wobei ›nichts‹ hier der Antagonist der Präsenz ist, eine Kraft, die im metaphysischen Abgrund der Abwesenheit lauert. Nicht da zu sein oder nichts zu sein, ist – laut Kelley – der erste Schritt, um zur Erinnerung zu werden, was die Existenz zur ›Interaktion zwischen dem Körper und dem Nichts‹ macht […].
Ich möchte eine Erinnerung sein
Durch andere Überleben
Ein Geist sein
ein bisschen Einfluss sein
Dafür muss ich verschwinden
Ich muss ein Gespräch sein
Ein Gespenst ist nichts
Ich kann an nichts glauben
Ich sehe jeden Tag etwas
Um ein Gespenst zu sein
Kann ich nicht an mich glauben
Ich muss verschwinden“
(Hendrik Folkerts und Mike Kelley, S. 46 und 53).
Weitere Kapitel beschäftigen sich mit Mike Kelley und dem Feminismus, seinen Stofftieren (vergleiche dazu Mike Kelley, Ahh … Youth!1991unter https://arthur.io/art/mike-kelley/ahh-youth), Ufo-Szenarien als einer Form von „Deckerinnerung an etwas, das wir nicht einmal im Ansatz verstehen können“ (Mike Kelley, S. 165 und Mike Kelley, Repressed Spatial Relationships Rendered as Fluid, No. 4: Stevenson Junior High and Satellites. In: https://walkerart.org/collections/artworks/repressed-spatial-relationships-rendered-as-fluid-no-4-stevenson-junior-high-and-satellites), seiner Vorstellung von Inkarnation, Einverleibung durch Essen und heiligen Löchern (vergleiche dazu Mike Kelley, Visceral Egg, 1994. In: https://www.mutualart.com/Artwork/VISCERAL-EGG/29087962E7327237), seiner Ausstellung „Day is Done“ in der Gagosian Gallery im Jahr 2005 (vergleiche dazu https://gagosian.com/exhibitions/2005/mike-kelley-day-is-done/) und mit dem Aussehen der imaginären Stadt Kandor auf dem Planeten Krypton, der Heimat des Superman (vergleiche dazu ›Kondors Full Set‹, 2005–2009. In: https://lesoeuvres.pinaultcollection.com/fr/oeuvre/kandors-full-set). Den Abschluss bildet ein Liebesbrief an Mike Kelly.
Die sorgfältig erarbeitete und aufwändig ausgestattete Publikation setzt Maßstäbe und wird in den nächsten Jahren kaum zu ersetzen sein.
ham, 31. Mai 2024