Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 24. März bis 10. Juli 2023 im Kunsthaus Zürich, herausgegeben von der Zürcher Kunstgesellschaft / dem Kunsthaus Zürich, mit Beiträgen von A. Agret, W. Beckmann, E. Christensen, N. Engel, G. Fellinger, K. Gerstner, S. Gianfreda, E. González, N. Habibi, J. Hallet, L. Llorente, S. McGavran, N. Radwan, M. Roberts, K. Rochester, A. von Stockhausen, A. Varela Braga
Zürcher Kunstgesellschaft/ Kunsthaus Zürich und Hirmer Verlag, München 2023, ISBN: 978-3-7774-4119-1, 312 Seiten, 270 Abbildungen in Farbe, Klappenbroschur, Format 28 x 22 cm, € 59,00 (D) / GBP 59,00 € / € 60,70 (A) / USD 65,00
Wer sich in das Werk von Henri Matisse einsieht, denkt an den Hauptvertreter des Fauvismus, seine flächenhafte Farbgebung und spannungsreiche Linien, seinen spielerischen Bildaufbau und die Leichtigkeit seiner Bildthemen, aber kaum an den Einfluss des Orients auf seine Bildvorstellung. Dabei hat er sich seit seiner Reise nach Algerien im Mai 1906 (vergleiche dazu und zum Folgenden Henri Matisse. In: https://de.wikipedia.org/wiki/Henri_Matisse) mit dortigen Keramiken, Stoffen und orientalischen Teppichen umgeben und aus der orientalischen Keramik die reine, flächig aufgetragene Farbe, die Reduktion der Zeichnung auf eine arabeskenhafte Linie sowie die flächige Anordnung des Bildraums übernommen. Orientalische Teppiche erscheinen so oft auf seinen Gemälden wie bei keinem anderen Maler der Moderne. Ein Beispiel ist der rote Teppich von 1906 (vergleiche dazu etwa https://www.alamy.de/stockfoto-les-tapis-rouge-der-rote-teppich-1906-von-henri-matisse-frankreich-franzosische-maler-74978387.html). Auch sein Stillleben mit Affodillen von 1907 (vergleiche dazu https://artsandculture.google.com/asset/nature-morte-aux-asphodèles-stillleben-mit-affodillen/rwHGE7FnTOc2wQ?hl=de), sein Interieur mit ägyptischem Vorhang von 1948 (vergleiche dazu https://de.artsdot.com/@@/5ZKCQQ-Henri-Matisse-Die-ägyptische-Vorhang) und die Fotografie des Künstlers mit seinem Modell Zita von 1928 zeigen den Einfluss des Orients überdeutlich.
„Im Atelier ebenso wie in seinen Werken löste Matisse die Gegenstände aus ihrem Kontext […]. Die dekorative Fülle der ›orientalischen‹ Kunst und Architektur […] bildete […] ein Prisma für seinen Blick, einen theoretischen Filter, der ihn vor einem allzu wörtlichen Abbild des ›Orients‹ bewahrte. Allerdings erinnern die Objekte in seinem Umfeld daran, dass diese Orientalität ebenso ein Konstrukt ist wie der Orientalismus. Denn auch Matisse manipulierte diese Objekte […], wandelte sie um und eignete sie sich an. Dieser ›verwestlichte Orient‹ diente nach Matisse’ eigenen Worten gelegentlich nur als ›Hintergrund‹ […], mit dem er ›gut würde arbeiten können‹“ (Herrin Matisse. In: Alix Garet, Matisse – Auflösung des ›Orients‹, S. 180 f.).
Wenn man an Wassily Kandinsky denkt, fallen einem zuerst seine Bezüge zur Russisch-Orthodoxen Kirche, zur Theosophie, zur Musik und vielleicht noch zum sibirischen Schamanismus ein. Aber weniger bekannt ist, „dass er sich in seiner Experimentierphase von 1909 bis 1913 auch mit den islamischen Künsten, insbesondere der Architektur und der persischen Malerei beschäftigte […]. Kandinskys Begeisterung für islamische Architektur und persische Kunst […] wurde von der Kunstgeschichte lange außer Acht gelassen. Sein Verhältnis zu diesem Thema war zweifellos ambivalent: Er setzte sich damit zwar in seinen Gemälden und Schriften auseinander, zeigte jedoch nur wenig Interesse am Stellenwert tunesischer Gebäude oder persischer Miniaturen in ihrem jeweiligen ursprünglichen Kontext. Das Material interessierte ihn primär in dem Maße, wie es ihm nützlich erschien; er vereinnahmte es für seine künstlerischen Zwecke im Streben nach ›der Epoche des großen Geistigen‹. Die Einsicht, wie und warum er sich mit diesem Themenkreis beschäftigte, bereichert unser Bild von diesem Künstler und eröffnet eine neue Sichtweise auf seine frühe Abstraktion“ (Emily Christiansen, Ein ambivalentes Verhältnis. Wassily Kandinsky und die islamischen Künste. S. 212 und S. 219. Vergleiche dazu auch Wassily Kandinsky, Improvisation 6 (Afrikanisches), 1909 unter https://www.lenbachhaus.de/en/discover/collection-online/detail/improvisation-6-afrikanisches-30018823).
Auch bei Gabriele Münter standen ihre 180 Fotografien aus Tunesien bisher im Schatten ihres übrigen Werks (vergleiche dazu etwa Gabriele Münter, Eine Frau vor einem Töpferwarengeschäft in der Avenue Bab Souika, Tunis, 1905 | Schwarzweiss-Fotografie ab Digitalisat, 8,25 x 6,35 cm | Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München, © 2023, ProLitteris, Zurich* unter https://sichtbar.art/events/re-orientations-kunsthaus-zrich). Paul Klee lieferten die dreißig Aquarelle, die er während seiner Tunesienreise kurz vor dem Ersten Weltkrieg malte und die vier Aquarelle tunesischer Künstler, die er in Kairouan kaufte, über Jahre künstlerische Inspiration (vergleiche dazu Sarah McGavran, Den ›Orient‹ mit neuen Augen betrachten. Der Bedeutungswandel von Paul Klees Tunisreise, S. 246 f. und ›Die Tunisreise‹. In: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Tunisreise). In seinen Tagebüchern verweist er ausdrücklich auf den Einfluss der tunesischen Architektur auf sein Schaffen. Seine immer neue Auseinandersetzung mit islamischer Kunst und Architektur könnte uns den Weg dazu weisen, unsere Vorurteile zu hinterfragen und nicht mit dem Lernen aufzuhören.
Zu den jüngeren Künstlern, die sich mit islamischen Motiven auseinandersetzen, gehört neben Nevin Aladaǧ der 1985 in Morges in der Schweiz geborene und in Amsterdam lebende Fotograf Marian Bassiouni (vergleiche dazu https://marwanbassiouni.com/about, https://marwanbassiouni.com/series/new-british-views und https://marwanbassiouni.com/series/new-dutch-views). Er hat sich im Kunststudium die Frage gestellt, wie er Werke schaffen kann, die für ihn als Fotograf und als Muslim gleichermaßen Sinn ergeben. Heute geht er davon aus, dass alles Existierende lediglich dazu dient, „Gott näher zu kommen. Kunst steht so gesehen nur an zweiter Stelle nach der Verehrung ›des Schöpfers‹. Die Intention, die hinter dem künstlerischen Akt steht, ist deshalb metaphysisch; das Medium ist zwar materiell, doch sollte das Mittel niemals Selbstzweck sein; diese Haltung ist zu einem Leitgedanken meiner Praxis geworden“ (›Marian Bassiouni‹. In Nadja Radwan, Interview mit Marian Bassiouni S. 282 f.).
Die 1972 in Van in der Türkei geborene und in Deutschland aufgewachsene international renommierte Bildhauerin, Installations- und Performancekünstlerin Nevin Aladaǧ (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Nevin_Aladağ) baut ihre Serie ›Pattern Kinship‹ auf gesammelten Ornamenten und Mustern auf, die sie hauptsächlich in architektonischen Elementen im urbanen Raum entdeckte (vergleiche dazu https://nevinaladag.com/works/pattern-kinship-musterverwandtschaft). „Interessanterweise bestehen alle diese Muster aus Pflanzenteilen und Blüten. Die vielen Kombinationsmöglichkeiten finde ich sehr spannend. Werden diese Arbeiten an der Wand angebracht, entstehen weitere Muster durch den Schattenwurf, der sie miteinander verknüpft. Die Ornamente in ›Pattern Kinship‹ sprechen eine universelle Sprache: Da sie aus der Natur stammen, findet jeder Mensch darin Bezugspunkte, weil sie Teil der eigenen Geschichte an jeweils anderen Orten sind“ (Nevin Aladaǧ im Gespräch mit Nadine Radwan S. 43).
Der kaum auszuschöpfende Katalog beleuchtet die Islamophilie als Phänomen eines transkulturellen Prozesses. „Transkulturell bedeutet, dass Kulturen nicht in sich geschlossene Einheiten darstellen, sondern miteinander verflochten sind. Kulturen sind demnach hybride Gebilde mit durchlässigen Grenzen, die sich in einem steten Wandel befinden. Diese Austauschprozesse führen zu einer kulturellen Mannigfaltigkeit, die ihrerseits von Überschneidungen und Unterschieden geprägt ist. Dieses Konzept lässt sich auch auf historische und zeitgenössische Phänomene der Kunstgeschichte anwenden. Gerade in den hitzigen öffentlichen Debatten von heute über ›kulturelle Aneignung‹ und ›Othering‹ könnte das Konzept der Transkulturalität dazu beitragen, die jeweiligen kulturellen ›Übernahmen‹ differenzierter zu betrachten und sie als Teil eines kulturellen Transfers zu verstehen“ (Sande Gianfreda, Einführende Gedanken zur Ausstellung, S. 13).
ham, 4. November 2023