Der 1983 ins Leben gerufene „Bundespreis für Kunststudierende“ richtet sich an die in den 24 in der Kunsthochschulrektorenkonfernz organisierten Kunsthochschulen und Akademien. Sie nominieren jeweils zwei Studierende oder studentische Teams. Die in diesem Jahr aus 48 Nominierten ausgewählten sechs Ausgezeichneten zeigen ihre Arbeiten bis zum 24. Januar 2024 in der Bundeskunsthalle in Bonn. 

Nach Eva Kraus, der Intendantin der Bundeskunsthalle, gibt die alle zwei Jahre stattfindende Ausstellung einen profunden Einblick in die Bandbreite der aktuell traktierten künstlerischen Darstellungsformen, die von der Installation über die Bildhauerei, Malerei, Zeichnung, Performance und Multimedia bis hin zu medienübergreifenden und kuratorischen Arbeiten reichen. Mit den von der Ausstellung aufgegriffenen privaten und gesellschaftlichen Themen wird sie zum Spiegel unserer Zeit.

Die 1990 in Denver, Colorado (USA) geboren Talya Feldmann war 2019 am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag im Jahr, Zeugin des rechtsextremen Anschlags auf die Synagoge von Halle. Sie hat dank der dortigen stabilen Eichenholztüre überlebt. Für ihre multimediale Klanginstallation »The violence we have witnessed carries a weight on our hearts« hat sie 2021 den DAGESH-Kunstpreis erhalten. Ihr Video ›Klagegedicht‹ setzt sich vier Jahre nach Halle mit der Schreckenstat auseinander (vergleiche dazu https://kunstmuseen.erfurt.de/km/de/service/aktuelles/ausstellungen/2023/145030.html). Es zeigt eine Tanz-Performance, in der ausdrucksstarke Bewegungen Emotionen wie Wut, Trauer und Hoffnung vermitteln und der Trauerbewältigung Raum geben. Ihre 2022 in Hamburg gezeigte Installation ›Wir sind hier‹ erinnert in Video- und Tonmaterial an Tatorte rechter Gewalt (vergleiche dazu https://www.deutschlandfunkkultur.de/gewaltorte-des-rechtsextremismus-installation-wir-sind-hier-podcast-dlf-kultur-abcba452-100.html).

Feldmann kommt ursprünglich von einer lyrischen, spirituell durchdrungenen kleinformatigen Malerei her, die er zugunsten großformatiger Video-Ton-Installationen hinter sich gelassen hat. Ihre in Bonn gezeigte neue 3-Kanal-Sound- und Video-Installation ›Psithurism‹ (2023) ist der aus der Tradition des askenatischen  Judentums stammenden Klezmer-Musik gewidmet. Ihr zuliebe ist sie Roma und Klezmer-MusikerInnen auf Friedhöfe in Rumänien und in Transsilvanien gefolgt. Die dortige Landschaft hat Bild- und Realräume für Trauer und Heilung geschaffen und wie die Musik Ruhe und Zuversicht ausgestrahlt. Aber die Musik bliebt  – wie schon bei Giora Feldmann, dem „König des Klezmer“ – Hauptakteur. Psithurism heißt so viel wie das Rauschen und Rascheln der Blätter im Wind.

Talya Feldman hat an der School of the Art Institut of Chicago und an der Hochschule für bildende Künste Hamburg studiert und dort 2022 mit einem Master of Fine Arts abgeschlossen (vergleiche dazu https://www.talyafeldman.net).

Unter den Ausgezeichneten porträtiert der 1993 im norditalienischen Bolzano geborene Michael Fink den aus dem Kaukasus als Zierpflanze importieren hochgiftigen Riesenbärenklau, der heute unser Ökosystem bedroht, und in seiner Serie ›Local’s reunion‹ (2021 – 2022) Pferde, deren Augen an den menschlichen Blick erinnern. In seiner Installation ›Censer‹ (2022) lässt sein mit Weihrauch befeuerter, im Takt schwingender und von einem Video begleiteter Gartenkomposter an das Batafumeiro, das Räuchergefäß in der Kathedrale von Santiago de Compostela denken und der verbrannte Weihrauch an christliche, hinduistische und chinesische Rituale. 

Ob man in der religiösen Konnotation des Komposters mit Paolo Baggi auch den metaphysischen Charakter der Transsubstantation angedeutet sehen möchte, bleibt jedem selbst überlassen. Sein Verweis auf Beerdigungen im Heubett, in dem der Leichnam auf natürliche Weise kompostiert, ist dagegen höchst aktuell: Nach dem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 19. Oktober 2023 will das Berliner Start-up ›Meine Erde‹ in einer eigens dafür entwickelten Apparatur Leichname nicht mehr verbrennen, sondern kompostieren. ›Reerdigung‹ heißt diese neue Form der Bestattung, in der der menschliche Körper innerhalb von 40 Tagen zersetzt und danach zu Grabe getragen wird (vergleiche dazu SZ Nr. 241, 19. Oktober 2023, S. 8 und ›Meine Erde‹. In: https://www.meine-erde.de).

Fink studiert seit 2019 an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee Malerei (vergleiche dazu https://www.instagram.com/michael__fink/?hl=de).

Rahel Goetsch, genauer Rahel Hanna Ruth Goetsch hat während ihres Studiums der visuellen Kommunikation an der Weißensee Kunsthochschule in Berlin hauptsächlich gezeichnet, Holzschnitte und Skulpturen gemacht und ist dort 2016 durch ihr Semesterprojekt ›Zustände des Halben‹ (vergleiche dazu https://kh-berlin.de/projekte/projekt-detail/2501, siehe Detail 1 +2), 2017 durch ihr Projekt ›Hecke‹ (vergleiche dazu https://kh-berlin.de/projekte/projekt-detail/2368, siehe Detail 6/7) und 2018 ihre Arbeit ›B . Badeschluss 19.30‹ (vergleiche dazu https://kh-berlin.de/projekte/projekt-detail/2780) aufgefallen. Die 1993 in Oldenburg Geborene hat 2019 beim Rundgang im Frankfurter Städel ihre Skulpturengruppe ›Karies und Bactus‹ vorgestellt (vergleiche dazu https://www.feuilletonfrankfurt.de/2019/03/04/staedelschule-rundgang-2019-eine-nachlese-2/), 2021 in der Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim ihre Installation ›Nightly Cares‹ (vergleiche dazu https://www.opelvillen.de/de/ausstellungen/rahel-goetsch-nightly-cares/ und https://staedelschule.de/en/board/rahel-goetsch-nightly-cares) und 2022 ihre Wandarbeit ›On both Ends‹, die jetzt auch in der Bundeskunsthalle zu sehen ist (vergleiche dazu https://www.bundeskunsthalle.de/kunststudierende2023.html).

›On Both Ends‹ setzt sich mit Jean Baudrillards 1999 veröffentlichter Publikation ›Der unmögliche Tausch‹ und seiner dort vertretenen These der „radikalen Ungewissheit der Welt“ auseinander (vergleiche dazu und zum Folgenden https://www.perlentaucher.de/buch/jean-baudrillard/der-unmoegliche-tausch.html). Die heutige Welt ist nach Baudrillard spekulativ, aleatorisch und fragmentiert. Deshalb funktionierten althergebrachte Konzepte wie Tausch und Wert bzw. Dichotomien wie Transzendenz und Immanenz nicht mehr. Selbst die Überzeugung, in der virtuellen Realität und Intelligenz ein Äquivalent gefunden zu haben, täusche. „Alles, was sich gegen etwas austauschen möchte, stößt letzten Endes auf die Mauer des unmöglichen Tausches“. Nach Baudriallard ist die Welt nicht geschaffen worden, damit man sie verseht. Sie schert sich nicht um Erkenntnis. Vielleicht ist sie sogar geschaffen worden, um nicht verstanden zu werden. Die Erkenntnis ist zwar Teil der Welt, aber nur als totale Illusion. Genau das findet Baudrillard interessant, „denn es bedeutet, dass das Denken nur ein Teil des Ganzen ist, und dass es für dieses Ganze keine Interpretation gibt. Zwar gibt es im Inneren dieser Welt durchaus ein Erkenntnis- und Denksystem, das so etwas wie Wahrheits- und Wirklichkeitseffekte produziert. Aber ich finde das wichtig, dass die Philosophie diese Unsicherheit und Illusion immer im Hinterkopf hat. Man muss sich vor der Wahrheit hüten“ (vergleiche dazu „Man muss sich vor der Wahrheit hüten“. In: https://taz.de/Man-muss-sich-vor-der-Wahrheit-hueten/!1200713/). 

›On Both Ends‹ wird zum Bild vernetzter Entscheidungen, deren Entwicklungsverläufe in ihrer Zeitlichkeit jeweils andere Eventualitäten und auch Möglichkeiten des Innehaltens und Abbiegens aufrufen (vergleiche dazu Luisa Kleemann, Rahel Goetsch. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. In: Rahel Goetsch. Katalog zur Ausstellung Bundespreis für Kunststudierende, Berlin 2023, S. 44). Die Zeichnungen von Goetsch lassen nachvollziehen, dass gewählte formale Setzungen und Farben die fertigen Bilder wesentlich mitbestimmen.

Rahel Goetsch lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Sie hat ihr Studium der Visuellen Kommunikation an der Weißensee Kunsthochschule Berlin 2018 mit dem Bachelor of Arts abgeschlossen und zwischen 2018 und 2023 an der Hochschule für Bildenden Künste – Städelschule Frankfurt am Main Bildende Kunst studiert (vergleiche dazu Rahel Goetsch. Unter: https://www.google.de/search?q=rahel+goetsch&source=lmns&bih=680&biw=1112&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwj9jajXqZ2CAxXyS6QEHZ9FBUoQ0pQJKAB6BAgBEAI)

Die 1966 in Hildesheim geborene Hanna Kučera „spielt“ in ihren skulpturalen Installationen mit Objekten aus Stahl, Leder, Silikon, eingeladenen Performern und sie spielt auch selbst mit. Ihre in Bonn vorgestellte Arbeit ›Pos. 17 Take me to go. Act I Passenger (Syndrome)‹, 2023, setzt ihre 2021 begonnene Werkserie ›This must be the Play‹ fort und untersucht Machtdynamiken, die in den künstlerischen Produktionsprozess und die Selbstinszenierung von KünstlerInnen eingeschrieben sind.

Hanna Kučera hat an der Hochschule für Bildende Künste Dresden experimentelle und interdisziplinäre Malerei studiert und ist seit 2021 Meisterschülerin bei Prof. Christian Sery. Parallel studiert sie seit 2018 Bildhauerei an der Akademie für Bildende Künste Wien (vergleiche dazu https://hannakucera.com). 2023 hat sie den Birgit-Jürgenssen-Preis erhalten (vergleiche dazu https://www.akbild.ac.at/de/news/2023/birgit-juergenssen-preistraegerin-2023-hanna-kucera).

Das Óstov Collective hat sich im März 2022 im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gebildet (vergleiche dazu Ralf Julie, Der Krieg hat alles verändert: Warum sich Óstov Collective im März gegründet hat. In: https://www.l-iz.de/politik/engagement/2022/09/der-krieg-hat-alles-veraendert-warum-sich-ostov-collective-im-maerz-gegruendet-hat-469842). Der namensgebende Begriff Óstov meint eine innere, stabile Struktur, die alles um sich herum zusammenhält. Óstov betrachtet sich als eine Plattform, bei der das Einladen und die Kollaboration eine zentrale Rolle spielen.

In ›Zhanna Kadyrova (via Óstov Collective), Palianytsia‹,2023 kontextualisiert das Kollektiv die Arbeit ›Palianytsia‹ der ukrainischen Künstlerin Kadyrova mit seiner Sound-Installation ›Why do we always sing sad songs?‹. Palianytsia ist ein typisches ukrainisches Brot aus Weißmehl. Die gleichnamige Arbeit von Zhanna Kadyrova, ein Brotlaib aus geschliffenem Flussstein, entstand, während russische Truppen Gebiete nahe Kyiv besetzt haben. Dazu kommen Video-Arbeiten, die sich mit Sound und Krieg auseinandersetzen.

Das Óstov Collective besteht aus Elza Gubanova, Anna Perepechai, Leon Seidel und Emilia Sladek von der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (vergleiche dazu https://www.instagram.com/ostov.collective/?hl=de).

Die 1989 in Taichung, Taiwan geborene Künstlerin und Filmemacherin Su Yu Hsin hatte bereits ein Communications Design 3D Animations – Studium an der Shih Chien University in Taiwan und ein Visual Communication Post Experience Programme with Full-funded Scholarship am Royal College of Art hinter sich, als sie ihr Studium in der erweiterten Filmklasse von Clemens von Wedemeyer an der Akademie der bildenden Künste 2019 begonnen und 2023 mit dem Diplom abgeschlossen hat.

In ihren in der Bundeskunsthalle gezeigten Arbeiten setzt sie sich an der Schnittstelle von Fiktion und Dokumentation mit dem Wasserverbrauch bei der Herstellung der Chip-Produktion in Taiwan auseinander.

Su Yu Hsin hatte Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen unter anderem in Barcelona, Berlin, Taipeh, Busan, New York, Leipzig und Köln (vergleiche dazu https://www.suyuhsin.net/CV und https://www.suyuhsin.net/About).

Die zur Ausstellung in der Bundeskunsthalle in einem Schuber versammelten sechs Einzelkataloge im Format 24,5 x 18 x 3 cm wurden von Manuel Bauer, Jonathan Körner & Nicolai Zeiher aus der Staatlichen Akademie der Kunst Stuttgart gestaltet. Sie haben einen Umfang von je 48 Seiten und enthalten neben den Werkabbildungen fünf in eine Seitentasche eingesteckte hochwertige Drucke. Der Gesamtkatalog kostet 10 € und ist zuzüglich Versandkosten unter order@buchhandlung-walther-koenig.de oder über das Deutsche Studierendenwerk Tel. 030/29772723, E.Mail kultur@studententenwerke.de bestellbar.

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