Ausstellung und Katalog bis 22. Oktober 2023 in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen
So schwer wie Anselm Kiefers Bodenskulptur ›60 Millionen Erbsen (Volkszählung)‹ von 1991 mit ihren 500 Bleibüchern in Stahlregalen (vergleiche dazu https://www.hybrid-plattform.org/veranstaltungen/hybrid-talks/detail/hybrid-talks-xxxx-transparenz-1) ist die schwerste Arbeit der Ausstellung ›Bibliomania‹ in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen nicht. Aber Katharina Fritschs ›Bücherregal‹ von 1986 kommt dafür mit seiner Konzentration auf die serielle Reihung von 200 Blindbänden im roten Kunstledereinband und dem Verzicht auf die individuelle Gestaltung der Buchrücken ästhetisch hochfein daher und könnte für das stehen, was in Zukunft an Bleibendem geschrieben werden muss. Ob der rote Einband an das Rot der 1965 erstmals veröffentlichten und mittlerweile in einer Auflage von etwa einer Milliarde erschienenen Mao-Bibel erinnern soll, bleibt offen (vergleiche dazu https://www.booklooker.de/Bücher/Worte-des-Vorsitzenden-Mao-Tse-Tung/id/A02qlTI001ZZz). Immerhin weist Fritsch darauf hin, dass ihre Arbeiten auch einen religiösen Aspekt besitzen, wenn auch nicht im Sinne einer bestimmten Religion (vergleiche dazu https://artinwords.de/katharina-fritsch/). Ralphf Fleck konzentriert sich in seinem ›Stillleben 24/ II‹ von 2009 auf im Regal aufgereihte gelbe, orange und rote Bände der seit 1963 erscheinenden edition surkamp und Andrea Tippel in ›The philoars library‹ von 2008/09 in 108 Digitaldrucken von Buntstiftzeichnungen auf etwa 2000 erfundene Titel zu Grundfragen der Philosophie und Kunstgeschichte.
Die klug konzipierte Bietigheim-Bissingener Schau setzt mit Dieter Roths Literaturwurst ›Rendezvous mit dem Tod‹ von 1969 ein, in die er statt Wurstbrät einen mit Kräutern und Gewürzen versetzten Papierbrei aus geschroteten Büchern gefüllt hat, zeigt auf dem zu den Buchobjekten und Künstlerbüchern führenden Weg Ulrich Meisters ikonische Serigraphie in Schwarz und Weiß ›Buch‹ von 2020, zwei von Candida Höfer bei Tageslicht fotografierten menschenleeren ›Bibliotheken‹ und Cornelius Völkers Malerei ›Buchkanten‹ von 2019. Timm Ulrichs ›Geflügelte Worte (nach Georg Bachmann)‹, 1977 / 84 /85 eröffnen den Reigen der Künstlerbücher. Hanne Darboven setzt mit ihrer vielschichtigen Rauminstallation ›Schreibzeit‹ von 1999 einen Glanz- und Höhepunkt (vergleiche dazu https://www.stedelijk.nl/en/collection/10143-hanne-darboven-schreibzeit) und Christos Venetis und Georgia Russel zeigen, was man mit Buchrücken (vergleiche dazu https://www.kudlek.com/artists/christos-venetis/) und geschredderten Büchern (vergleiche dazu https://nmwa.org/blog/artist-spotlight/women-to-watch-2020-georgia-russell/) sonst noch machen kann. Den Schlusspunkt setzt der belgische Zeichner Kris Martin mit einem seiner End-points (vergleiche dazu etwa https://www.distanz.de/kris-martin/end-points-brueder-grimm).
Der Titel ›Bibliomania‹ spielt darauf an, dass Bücher immer noch begeisterte Leser finden. Nach dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels haben im Jahr 2022 zwar rund 25,8 Millionen Menschen Bücher erworben. Aber das waren rund 1,4 Millionen weniger als im Vorjahr. Es gibt immer mehr Leser, die mehr Bücher lesen, und darunter vor allem jüngere Menschen, aber die Gesamtzahl der Bücherkäufer geht besorgniserregend zurück (vergleiche dazu Carolin Amlinger, Das Buch der Stunde. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 156 vom 10. Juli 2023, S. 9). Auch die Zahl der Erstauflagen geht zurück. „2011 waren es in Deutschland noch 81 900, 2021 waren es nur noch 64 000. 2019 hat die Insolvenz des Stuttgarter Buchgroßhändlers Koch, Neff & Volckmar (KNV) die Buchbranche aufgeschreckt (vergleiche dazu https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.koch-neff-und-volckmar-aus-stuttgart-insolventer-buchgrosshaendler-knv-ist-gerettet.d018b5b4-82d8-4d72-9174-0c39a026ac49.html). Jetzt sterben Klein- und Kleinstverlage (vergleiche dazu https://taz.de/Verlage-in-Deutschland/!5538347/). Mittelfristig wird der Rückgang der Leser wohl die Buchhandlungen treffen, dann die Kunden und schließlich auch die Autorinnen und Autoren (vergleiche dazu auch https://www.boersenverein.de/markt-daten/marktforschung/wirtschaftszahlen/). Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Dies vor Augen könnte Boris Beckers c-Print ›Regale‹ von 2014 (vergleiche dazu http://www.boris-becker.com/content/shows.html) eine Art fotografiertes Menetekel sein und Hubertus Gojowcyks ›Buch mit aufgekratzten Seiten‹ von 1971, sein ›Buch mit Mulde‹ von 1973 und sein ›Buch mit Axthieben‹ von 1988 (vergleiche dazu auch https://blog.bernina.com/de/wp-content/uploads/sites/2/2022/10/KMVZ_Bilbliomania_Broschuere_Ansicht.pdf) ein vorweggenommener Ausblick auf eine Zeit, in der sich nur noch Künstler mit lange vor ihnen erschienen Büchern beschäftigen.
Der im Oktober 2022 zur parallelen Ausstellung im Kunstmuseum Villa Zanders im Verlag Kettler, Dortmund erschienene lesenswerte und bestens ausgestattete Katalog ›Bibliomania. Das Buch in der Kunst‹ fragt nach der Bedeutung und dem Stellenwert des Buches, dem Buch als Imaginationsraum, der Bibliothek als Brücke über Raum und Zeit und künstlerischen Reaktionen auf die Welt der Bücher (vergleiche dazu https://www.verlag-kettler.de/de/buecher/bibliomania/).
ham, 10. Juli 2023