Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 8. April bis 17. Juli 2022 im Kunsthaus Zürich, herausgegeben von der Zürcher Kunstgesellschaft, Kunsthalle Zürich und dem Wienand Verlag, Köln nach einer Idee und dem Konzept von Cathérine Hug. Mit Beiträgen von Vincent Barras, Christoph Becker, Flurin Condrau, Georges-Didi Hubermann, Cathérine Hug, Adina Kamien, Bonaventure Ndikung, Muriel Pic, Linda Schädler, Agnès Virole, Nicola von Luterotti
Zürich / Köln 2022, ISBN 978-3-86832-704-5, 272 Seiten, 289 großteils farbige Abbildungen, Softcover mit Schutzumschlag, Format 28 x 22,5 cm, € 39,80
Wer seinen letzten Krankenhausaufenthalt noch nicht allzu lange hinter sich hat, liest den der Krankheit, der Medizin und der Kunst gewidmeten Katalog ›Take Care. Kunst + Medizin‹ mit besonderer Aufmerksamkeit und freut sich über die bedeutenden Fortschritte, die die Medizin im 19., 20. und 21. Jahrhundert gemacht hat. Er ist zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsthaus Zürich erschienen und zeichnet Schlüsselmomente der jüngeren und jüngsten Medizingeschichte anhand von rund 300 Exponaten aus der Medizin und der Kunst nach. Die frühesten Arbeiten stammen aus dem 15. Jahrhundert; die jüngsten aus dem Jahr 2022 wurden eigens für die Ausstellung produziert. Das produktive Wechselverhältnis von Krankheit und Schmerz, Pflege und Heilung wird in Kapiteln zu den neuen Erkenntnissen der Medizin im 19. Jahrhundert, zur Bekämpfung der Seuchen nach der Entdeckung des Penicillins, zum diagnostischen Blick und dem System des Spitals, zur Medikation und zur Spitzenforschung, zur Prophylaxe, zur Komplementärmedizin und zur Selbstheilung und zum singulären Körper abgearbeitet.
Die Ausstellung und der Katalog sollen die Besucher:innen und Leser:innen dafür gewinnen, über ihre eigenen Geschichten von Krankheit und Genesung nachzudenken. „Der Begriff der Medizin soll dabei nicht streng schulmedizinisch verstanden …sondern breit gedacht werden. Medizin als Disziplin, als zivilisatorischer Fortschritt, aber auch als Metapher, als Versprechen, als Problemfeld und als Hoffnungsträger. Sie ist untrennbar mit Menschen, ihren Krankheiten, ihrer Genesung oder auch mit Schmerzlinderung verknüpft. Krankheit soll nicht als Fehler im Betriebssystem, sondern als potentiell produktive Kraft verstanden werden … In Industrieländern hat die Entstigmatisierung von Krankheit als kreative Kraft der Selbstermächtigung mit ACT UP [Aids Coalition to Unleash Power, ein 1987 gegründeter Interessenverband im Kampf um mehr Sichtbarkeit und Gehör für HIV-Infizierte und AIDS-Kranke] und verwandten Bewegungen seit der AIDS-Epidemie den Diskus grundlegend zum Positiven verändert“.
Krankheit ist inzwischen eine Konstante in unserem Leben: „›Heilung, Selbstfürsorge und therapeutische Praxis sind zu produktiven Räumen für künstlerischen Austausch und intersektionalen Widerstand geworden, die jedoch auch durch den Markt und kulturelle Initiativen erzwungen werden, die messbare gesundheitliche Ergebnisse fordern. Wenn die Gesundheit von ihrer Politik getrennt wird, werden die Verstrickungen zwischen dem Individuum und dem sozialen Körper unsichtbar gemacht … Wie auch immer, wenn Gesundheit als Handlungsraum neu gedacht wird, sind die Schnittmengen zwischen Körper, Sexualität, Ethnizität, Geschlecht, Spezies und Kolonialität ausgesetzt, wodurch Ökosysteme neu konzipiert werden können‹“ (Barbara Rodriguez Muñoz, zitiert nach Cathérine Hug S. 11).
Nach Hug ist der offensichtlichste Aspekt, der Künstler:innen mit Mediziner:innen verbindet, die Bedeutung, die beide Gruppen Bildern beimessen. Bildgebende Verfahren haben die Medizin nicht erst, aber doch besonders seit der Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895 und später ab den 1970er-Jahren mit der wachsenden Bedeutung computerbasierter Verfahren konstant vorangetrieben. Zudem finden sich in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte Beispiele wie die Entwicklung der Doppelhelix der DNS, die zeigen, wie ästhetische Kriterien naturwissenschaftliche Forschungsarbeit maßgeblich mitbestimmen.
In den Essays spannt Adina Kamien den Bogen von André Brouiletts ›Und leçon clinique à la Salpetiẻre‹ von 1887 (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Une_leçon_clinique_à_la_Salpêtrière.jpg) zu Louise Bourgeois’ ›Arch of Hysteria‹ von 1993 (vergleiche dazu https://www.moma.org/audio/playlist/42/681). Linda Schäfer diskutiert die These, dass ein wichtiger Grund für die prekären Arbeitsbedingungen des vor allem weiblichen Pflegepersonals „im christlichen Glauben liegt und auch auf die Vorstellung der Caritas als erste Tugend zurückzuführen ist (vergleiche dazu Jerry Barrett, ›The Mission of Percy: Florence Nightingale receiving the Wounded at Scutari‹, 1857: https://www.npg.org.uk/collections/search/portraitExtended/mw08508/The-Mission-of-Mercy-Florence-Nightingale-receiving-the-Wounded-at-Scutari). Unter den zeitgenössischen Künstlern spielt der schon mit 44 Jahren verstorbene Martin Kippenberger eine herausragende Rolle (vergleiche dazu etwa https://www.parnass.at/termine/body-check-martin-kippenberger-maria-lassnig und seine Malerei ›Kaputte Kind‹, 1985: https://blogs.cornell.edu/glp-hw488/2014/04/20/kaputtes-kind/).
Georges Didi-Hubermann antwortet auf den Hinweis, dass die Leiblichkeit in der Philosophie lange Zeit vernachlässigt wurde, im Gespräch mit Cathérine Hug wie folgt: „Ich glaube, man muss bezüglich Ihrer Frage nach der philosophischen Tradition des Körpers die Dinge dialektisch betrachten. Die großen Philosophen, die sich mit der Seele oder dem Geist beschäftigen, haben nie wirklich aufgehört, – mitunter mit viel Sorge und Stichhaltigkeit – die Frage nach dem Körper zu stellen. Thomas von Aquin befasste sich zweifellos mit göttlichen Tugenden und Transzendenz, aber auch mit Inkarnation … Das bedeutet, dass für den heiligen Thomas, dass Fleisch und der Körper keine Tabus waren. Er zögerte zum Beispiel nicht, sich ausdrücklich Gedanken darüber zu machen, was in dem von ihm ohne falsche Scham benannten ›Uterus der Jungfrau Maria‹ zum Zeitpunkt der Verkündigung geschah. Später hat Descartes“ die Formel ›Ich denke, als bin ich‹ „aufgestellt, jedoch parallel zu einer Körpertheorie: Man muss also die ›Meditationen über die Grundlagen der Philosophie‹ neben der ›Beschreibung des menschlichen Körpers‹ oder des Traktats ›Die Leidenschaften der Seele‹ lesen … Eine Phänomenologie des Körpers erweist sich folglich als absolut notwendig und einige Autoren an der Schnittstelle von Medizin, Psychiatrie und Phänomenologie haben uns grundlegende Analysen zu diesem Thema geliefert. Ich denke da vor allem an Erwin Straus, Eugène Monowski oder Ludwig Binswanger“ (Georges Didi-Hubermann S. 218).
Die am 26. O4. 2022 in der NZZ veröffentlichte Ausstellungskritik von Maria Becker fasst die Ausstellung unter der Überschrift „Sehen ist Erkenntnis – für den Maler wie für den Arzt“ glänzend zusammen (vergleiche dazu https://www.nzz.ch/feuilleton/kunst-und-medizin-die-schoenheit-des-pathologischendie-schoenheit-des-pathologischen-muss-nicht-kunst-sein-ld.1679211). Die dort veröffentlichten sechs Arbeiten aus der Ausstellung und der Einblick in einen der Säle des Kunsthauses legen es nahe, dass ein Großteil der Besucher der Ausstellung und der Leser des Katalogs tatsächlich dafür gewonnen werden, über ihre eigenen Geschichten von Krankheit, Medizin und Genesung nachzudenken.
ham, 14. Juni 2022