Herausgegeben von Margrit Brehm. Mit einem Gespräch zwischen Thomas Lehnerer und Johannes Stückelberger, Texten der Herausgeberin und Fotografien von Dieter Schleicher
Ernest Rathenau Verlag, 2019, ISBN 978-3946476092, 80 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Hardcover gebunden, Format 24,5 x 17,3 cm, € 28,00
Für den 1995 mit noch nicht einmal 40 Jahren verstorbenen Künstler, Theologen und Professor für Ästhetik Thomas Lehnerer war Kunst die spezifisch menschliche Produktivkraft, die zum Glücksempfinden führen, das Glück aber nicht herbeizwingen kann, und deshalb auch die Methode der Freiheit. „Glück ist … ein subjektiver Zustand, der in dem Augenblick des Empfindens für einen selbst unbedingt gut ist. Aber er ist zugleich ein ganz seltsamer, einzigartiger Zustand. Denn im Vorhinein kann man nie genau wissen, wie er zustande kommt. Man kann sich noch so sehr bemühen, noch so sehr arbeiten, vorsorgen und planen – mit Sicherheit kann man erst im Augenblick der Empfindung sagen: Jetzt, in diesem Moment, habe ich ein wirkliches Glücksgefühl“ (Thomas Lehnerer im Gespräch mit Johannes Stückelberger S. 46).
Dass ein Bild oder eine Figur gelingt, hängt nicht nur von einer Idee, einem Konzept oder einem Willen ab, „sondern außerdem von vielen anderen Kräften und Faktoren: etwa vom Material, in dem ich meine Figuren forme, von der Eigenmotorik der Hände und Arme oder von meinen Emotionen und Gefühlen, die ich nicht alle willensmäßig in meiner Hand habe. Es hängt aber auch von zufälligen Assoziationen und Gedanken ab, die ich während des Machen einer Figur habe, oder von äußeren Umständen. Das heißt: Es spielen bei der Entstehung einer Figur sehr viele Kräfte zusammen. Wer technisch präzise vorgeht, unterdrückt alle anderen Kräfte und versucht, durch Beherrschung und Zwang nur die Mittel in Aktion zu bringen, die genau zu seinem Ziel führen. Der künstlerische Prozess, wie ich ihn verstehe und anwende, ist das glatte Gegenteil von einem solchen technischen und zweckrationalen Vorgehen. Ich will alle anderen Kräfte auch zu ihrem Recht kommen lassen. Diese Kräfte sind aber nicht etwa zufällig, sondern haben ihre eigene Logik, haben ihre eigene Formrichtung, wollen für sich selbst jeweils ganz bestimmte Dinge zum Ausdruck bringen. Dadurch, dass disparate Kräfte zusammenspielen, ist das Resultat insgesamt gesehen frei, unbestimmt. Insofern kann man sagen: zufällig. Der Zufall ist nicht etwas Beliebiges, sondern etwas frei Glückendes“ (Thomas Lehnerer, a. a. O. S. 35).
„Homo pauper“ erinnert an den Titel einer 1988 von Lehnerer so benannte Bronze und eine menschliche Grundbefindlichkeit. „›Arm‹ wollte er dabei nicht im Sinne von bedürftig, also … als Gegenbegriff zu ›reich‹ im ökonomischen Sinn verstanden wissen, sondern … als Äquivalent für das ›nackte Leben‹ vor aller gesellschaftlichen, historischen, religiösen oder materialistischen Einbindung, als Hinweis auf das Transitorische der Existenz, die Verletzlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen. ›Homo pauper ist vielleicht die Grundbedingung, in der der Mensch in dieser Welt tatsächlich lebt. Denn sowohl im Ganzen gesehen als auch individuell, im eigenen Leben, sind wir letztlich doch radikal machtlos‹. In dieser Machtlosigkeit eine Qualität zu erkennen, aus der innere Freiheit, vielleicht sogar ein
Weg zum Glück resultieren kann, betrachtete Thomas Lehnerer als notwendigen Gegenentwurf zu Leistungsdenken, Effizienzstrategien und Demonstrationen expansiver Machbarkeit, die das Leben der Menschen – ob sie das wollen oder nicht – zunehmend prägen“ (Margrit Brehm / Thomas Lehnerer S. 5).
Das Buch „homo pauper“ (vergleiche dazu https://www.ernest-rathenau-verlag.de/buecher_lehnerer_de.html) widmet sich diesem zentralen Aspekt im Werk des Künstlers und macht neben ganzseitig abgebildeten Bronzen, diversen Vitrinen und ausgewählten Zeichnungen auch Lehnerers Gespräch mit Johannes Stückelberger aus dem Jahr 1993 wieder neu zugänglich.
ham, 4. Januar 2022