Publikation zur gleichnamigen Ausstellung zum 60. Geburtstag des Malers vom 26.9. – 12.12.2020 in der Galerie EIGEN + ART in Leipzig, herausgegeben von Doris Appel-Kölmel mit einem Vorwort von Ralph Keuning und einem Gespräch zwischen Neo Rauch und Ralph Keuning
E.A. Seemann Verlag, Leipzig, ISBN 978-3-86502-445-9, 16 neue Werke aus dem Jahr 2020 und 45 bisher unpublizierte Werke aus den Jahren 2011 – 2019, 136 Seiten, 24 Seiten-Einleger mit englischer Übersetzung der Texte, englische Broschur, Format 29 x 23,5 cm, € 36,00
Der 1960 in Leipzig geborene Neo Rauch gehört heute zu den bekanntesten Malern der Leipziger Schule. Seine zu seinem 60. Geburtstag am 18. April 2020 im Leipziger Museum der bildenden Künste geplante Ausstellung mit frühen Werken hat er abgesagt, weil er sich für eine Musealisierung noch zu jung fühle. Dafür zeigte er in der Leipziger Galerie von Judy Lübke 8 Groß- und 8 Mittel- und Kleinformate zu Preisen von 250 000 bis 1,1 Millionen Euro, die 2020 in der Zeit der Pandemie entstanden sind. Sie leiten den zur Ausstellung entstandenen Übersichtskatalog ein. Dazu kommen 45 bisher unveröffentlichte Arbeiten.
Im Gespräch mit Ralph Keuning, dem Direktor des Museums de Fundatie in Zwolle, Niederlande, erscheint Rauch als Künstler, den das Personal seiner Bilder bis in seine Träume hinein verfolgt: Die Figuren halten ihn dazu an, ihnen auf den Bildern einen angemessenen Platz einzuräumen. In seiner titelgebenden Malerei ›Handlauf‹, 2020, 250 x 300 cm (vergleiche dazu http://www.eigen-art.com/index.php?article_id=103&clang=0) treffen sich ein Kentaur und ein siamesischer Zwilling auf einem abschüssigen Vorplatz vor einem Haus zu einem ungleichen Tanz. Im rechten Hintergrund spielt eine Combo zum Tanz auf. Der Zwilling muss zum Handlauf greifen, um nicht die Kellertreppe hinabzustürzen: In dem Bild sind „einige Fallen gestellt worden, in denen der rationale Blick sich verfangen kann. Diese Wölbung hier unten, diese Rundung der Kellertreppe korrespondiert überhaupt nicht mit der sich darüber aufbauenden Wandfläche. Und das Fenster funktioniert ja eigentlich gar nicht, aber wichtig ist, dass es im Bild funktioniert und dass die Irritation ihren Zweck erfüllt … Man bückt sich …, man krümmt sich … Um nicht den Kopf zu stoßen … Einen Titel zu finden für dieses Bild war eine Herausforderung und ich habe dann letzten Endes dem scheinbar nebensächlichen Element des Handlaufs den Rang der titelgebenden Funktion eingeräumt. Und ein Handlauf ist ja eben auch etwas, woran wir unsere Fassung gewinnen, nicht? Wir fassen ihn an, um einen Halt zu haben. Und er ist zugleich auch eine Grenzziehung in der Horizontalen. Und in der Vertikalen, wenn es treppab oder treppauf geht, gibt er uns auch Führung und dient natürlich auch dem unmittelbaren Aufstieg“ (Neo Rauch s. 38 f.).
In der Arbeit ›Die Mitte‹, 2020, 250 x 200 cm (vergleiche dazu http://www.eigen-art.com/index.php?article_id=103&clang=0) versuchen zwei Tänzer auf Kegelstümpfen zu balancieren und werden dabei von Schwänzen unterstützt, die aus ihren Steißbeinen wachsen. Es ist „eine heikle Lage, in der man sich befindet. Man will nicht herunterstürzen von diesem Kegelstumpf und auch eine gute Figur abgeben; aber das gelingt beim besten Willen nicht“ (Neo Rauch S. 39). Die Arbeit verdankt sich einer Übung, die Rauch von einem Physiotherapeuten gestellt bekommen hat. „Ich unterziehe mich einer Physiotherapie, um meine Nackenprobleme auszukurieren und der Therapeut macht sich einen Jux daraus, mich auf solche Geräte zu stellen mit dem Ziel, mein Gleichgewichtsempfinden zu schulen“ ( Neo Rauch a. a. O.).
In dem Gemälde ›Traumfabrik‹, 2020, 250 x 300 cm (vergleiche dazu http://www.eigen-art.com/index.php?article_id=103&clang=0) diskutieren drei Künstler in einer Scheune die Möglichkeiten der Malerei. „Es gibt natürlich Gelb, Blau und Rot, in unterschiedlichen Aggregatzuständen. Hier unten haben wir den, der die Drachen zu zügeln versucht, die jeweils in dieser Farbe gehalten sind … Dann haben wir in der Mitte den eher apollinisch veranlagten Abstrahierer. Und oben haben wir … den Zupackenden, den unmittelbar Reagierenden auf die Bedrohungslage, die sich an ihn heranschiebt, indem er seinen dreifarbigen Knüppel in seinen plumpen Händen wiegt. Diese drei Möglichkeiten sind in einem Raum versammelt, der von scheunenhafter Verfassung zu sein scheint. Es gab ganz zu Beginn noch eine Lichtbringerin, die hinzutrat, ein junges Weib, das den Herrenclub auflockerte. Ich habe sie dann wieder verbannt. Ich habe mich von ihr verabschiedet … Die Fackel habe ich noch gelassen. Das ist sozusagen der Heilige Geist, der die Situation inspiriert. Ohne den ist sowieso alles für die Katz, ohne die Inspiration kann man sich nur an seinen Konzepten festhalten und man vertrocknet in diesem Raum. Und ich habe bewusst darauf verzichtet, die Inspiration zu personalisieren … Ich habe meinerseits eine Abstraktion der Inspiration herbeigeführt“ (Neo Rauch s. 42 f.).
In ›Glückshügel‹, 2020, 250 x 300 cm (vergleiche dazu http://www.eigen-art.com/index.php?article_id=103&clang=0) werden den Protagonisten Flügel angenäht, damit sie „auf den Glückshügel gelangen, der sich oben erhebt. Der ist gekrönt mit einer fabrikähnlich anmutenden Architektur“. Fabrikanlagen „stehen für mich immer für das Werk schlechthin, für die Arbeit am Werk. Fabrikanlagen sind für mich grundsätzlich positiv besetzt. Da mag noch die Einfühlung in industrielle Vorgänge hineinspielen, die mir als Kind impliziert wurden … Der Schornstein muss rauchen. Das Werk, die Werkschöpfung, das geht für mich alles mit dieser industriellen Assoziationskette einher. Rauch spielt in meinem Leben eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es ist ja auch eine Art Signatur“. Das „Institut, in dem man beflügelt wird, hat … etwas Anheimelndes, ob man nun in einen flugfähigen Zustand versetzt wird oder nicht“. Die Fabrik auf den Glückshügel könnte durchaus eine religiöse Fabrik sein. „Man arbeitet dort am Werk … Sein Werk treibt man dort oben voran auf dem Glückshügel, man braucht ja auch Glück, nicht nur Talent, sondern auch Glück. Man kann es dort oben empfinden oder empfangen. Oder suchen“.
Ich wollte immer ein Maler werden, immer einer sein. „Dass ich Maler bin, das habe ich erst später festgestellt … Ich habe meine einzige Neigung und meine einzige Fähigkeit, mein einziges Potenzial darin gesehen, darin gewittert ohne drüber bereits zu verfügen. Und eigentlich erst in Leipzig bin ich zu mir vorgedrungen, habe ich meine Potenziale erspürt und erschlossen. Ich bin ja ein Spätentwickler. Das ist der Glückshügel. Von dem will ich jetzt nicht wieder runter … Und jetzt verfüge ich über das glücksvermittelnde Personal, das ich selbst um mich herum zur Entfaltung gebracht habe. Aber mitunter droht mich gerade dieses Völkchen um mein Glücksempfinden zu bringen, weil ich mitunter auch sehr unruhige Nächte habe, weil sie mich dahinein verfolgen, wenn ich ihnen nicht klar die Spur gewiesen habe tagsüber. Wenn ich ihnen nicht entsprechende Einbettungen zu liefern vermochte im Bild. Ich hatte wieder so eine Nacht. Da trat das Bild, an dem ich gerade arbeite, an mein Bett heran, jedenfalls die beiden Kerls, die darauf beheimatet sind, und fragten mich, was um alles in der Welt ich mit ihnen vorhabe“ (Neo Rauch S. 43 ff.).
ham, 18. Januar 2021