Schleiermacher-Archiv Band 31
Walter de Gruyter, Berlin / Boston 2020, ISBN 978-3-11-067471-2, 545 Seiten, Hardcover gebunden, Format 24,5 x 17,5 cm, € 119,95
Die von der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle 2019 als Dissertation angenommene und für die Publikation geringfügig überarbeitete Studie geht von der Beobachtung aus, „dass die Familie nicht bloß Adressat von externen Sinndeutungsangeboten ist, sei es von der Religion oder anderen Kultursphären, sondern dass sie selbst einen suisuffizienten Sinnspender darstellt“ (Christian Rebert S. 2) und deshalb religionsähnlich ist. Wenn man danach fragt, woher der Familie dieses Sinnpotential zuwächst, braucht es nach Rebert eine ethische Perspektive, die die Verhältnisse im Strom der Tradition und das subjektive Erleben Einzelner von höherer Abstraktions- und Konstruktionswarte aus ordnet, beschreibt und bewertet. Die gesuchten ethischen Grundorientierungen, Strukturprinzipien, Deutungsmuster und Grenzlinien von Ehe und Familie sieht Rebert in Schleiermachers Ethik, Kulturtheorie, Psychologie und Pädagogik, aber auch in seinem Verständnis von Naturphilosophie, Jurisprudenz und Religion präfiguriert. „Diese Polyvalenz macht es verständlich, dass wir im Werk Schleiermachers in Abhandlungen und Textgattungen unterschiedlichster Art auf das Thema stoßen. Im Umkehrschluss bringen es die große Breite des geistigen Schaffens Schleiermachers und seine Fähigkeit zur systematischen Korrelation der verschiedenen Theoriedimensionen mit sich, dass er das Familiale sehr vielgestaltig, aber ohne Verzicht auf innere Konsistenz behandelt“ (Christian Rebert S. 35).
Zu Schleiermachers Grundentscheidungen gehört die Umstellung auf eine deskriptive Gestalt von Ethik und die Würdigung der Dynamik, die allem Lebendigen innewohnt. Ihr will er in seiner Ethik zu ihrem Recht verhelfen (Christian Rebert S. 41). Als basalste Sozialgestalt erscheint die Familie; sie enthält als Totalität schon alles, was sonst in der Sozialität nur zerspalten vorhanden ist; sie bereitet auf andere Gestalten vor und führt in sie ein. Damit wird sie zu einem Repräsentanten der Idee der Menschheit. In ihr kann sich die Person entwickeln und beginnen, sich auf das ›höchste Gut‹ ausrichten, welches ›Alles ist und Alles in sich enthält‹ (Schleiermacher). Entwicklung ist als Auswicklung dessen verstanden, was schon wie in einer Knospe angelegt ist, nicht als Selbstverwirklichung im Sinne von Selbsterfindung und Selbstkreation.
Schleiermacher fundiert die Theologie in einer Theorie des menschlichen Bewusstseins, „weshalb er auf den Zentralbegriff der ›Religion‹ umstellt. Der Gottesgedanke wird damit zum bloßen Symbol für eine vorausgehende Bewusstseinsaktivität […]. Darum ist die gängige Paraphrase der schleiermacherschen Religionsbestimmung als ›Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit von Gott‹ nicht nur schief, sondern verstellt eine der wichtigen Pointen. In der Erstauflage der Glaubenslehre ist zwar noch die Rede davon, dass die Religion darin bestünde, ›dass wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, dass wir uns abhängig fühlen von Gott‹ […]. Allerdings ist die Formulierung der ›Abhängigkeit von Gott‹ hier bereits durch ein explikatives ›das heißt‹ abgesetzt und als zweitrangig gekennzeichnet gegenüber der Grundbestimmung des schlechthinnigen Abhängigkeitsbewusstseins, die auf ein Korrelat verzichtet“ (Christian Rebert S. 93 f.). Das menschliche Selbst ist darüber hinaus auch Repräsentant des Absoluten und damit der Unsterblichkeit: Ewig ›sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion‹ (Schleiermacher). „Schleiermacher erteilt dem Unsterblichkeitsgedanken in der Form eines spekulativen Ausgriffs des Selbsterhaltungstriebs über die Schranke des Todes hinaus eine konsequente Absage. Einer Verjenseitigung des Diesseits begegnet er mit dem Programm einer Verdiesseitigung des Jenseits […]. Den Himmel hängt er in das Herz des Menschen. Damit werden nicht nur das Selbstbewusstsein, sondern auch intime Gestalten aufgewertet. Wem ein anderer das Gefühl von Einheit und Bedeutsamkeit gibt, das über die eigene Persönlichkeit hinausgeht, der steht an der Schwelle zur Unendlichkeit. Die religiöse Valenz von Familie hat hier ihren systematischen Ankerpunkt“ (Christian Rebert S. 100 f.).
Nach seiner Annäherung an Schleiermachers ausgesprochen modern wirkendes Verständnis der Geschlechter und Generationen, seinem Abgleich mit einschlägigen Studien zeitgenössischer Wissenschaftler und Therapeuten wie Philippe Ariès, Oswald Bayer, Peter L. Berger, Norbert Bolz, Alois Hahn, Eva Illouz, Hans Jellouschek, Niklas Luhmann, Hartmut Rosa, Dietrich Roessler, Herrad Schenk und Jürg Willi und seinem Weiterdenken in die Gegenwart kommt Rebert zu folgender familientheologischer Bündelung (vergleiche dazu und zum Folgenden Christian Rebert S. 488 ff.):
- Dem Gottesprädikat der Absolutheit korrespondiert aufseiten des menschlichen Subjekts der Vollzug der Religion als eines Modus der Letztintegration der unterschiedlichsten Lebensdimensionen. Im familiären Gespräch über divergierende Ansprüche und Erlebnisse wird der Glaube als die „Erfahrung mit der Erfahrung“ (Eberhard Jüngel) gebündelt. Die Familie ist damit nicht nur eine Kinderstube, sondern ein Lebenszusammenhang, der das gesamte Leben begleitet und mitbestimmt.
- Wer fragt, wem er sich verdankt, wird nach Schleiermacher zunächst an seine Eltern, Großeltern oder an seinen Partner denken und nicht an den Schöpfer. Damit liegt der Fokus nicht mehr bei der Ursprungs-, sondern bei der fortwährenden Schöpfung und bei der Erhaltung der Welt. Analog dazu wird das Leben in Ehe und Familie als ein fortwährendes Neuschaffen gedacht. „Am und im Kreißbett wird den Eltern nicht nur die eigene Kreatürlichkeit, sondern auch die eigene Kreativität deutlich: Sie erleben sich selbst als schöpferisch und können, wenn es gut geht, […] ihr ›Werk‹ ansehen und als ›sehr gut‹ befinden“ (Christian Rebert S. 491).
- Wie es für Schleiermacher nur einen Menschen gibt, in dem sich Göttlichkeit und Menschheit in vollkommener Weise durchdringen, „so hat sich die Deutungskultur der Moderne im familialen Leben neue Paradigmen der Einigung von Gottheit und Menschheit erschlossen. Diese sind zwar fallibel – spätestens wenn eine Partnerschaft zerbricht oder nicht mehr nur ›Lieb aus dem göttlichen Mund‹ des (adoleszierenden) Kindes ›lacht‹, hat es die Idealisierung u. U. schwer –, jedoch wiegt ihre Konkretheit manche Irritationen der göttlichen durch die menschliche Seite auf“ (Christian Rebert S. 493).
- Unter den Bedingungen der Endlichkeit sind Totalansprüche zum Scheitern verurteilt. Deshalb wird man an Gott und den Menschen schuldig, vor allem an denen, mit denen man zusammenlebt. „Damit wird die Familie zu einem der wichtigen Soziotope individueller Schulderfahrungen“ und man lebt „von der Gnade der Absolution durch seine Lieben“ (Christan Rebert S. 494).
- Der in sich selbst gefangene Mensch wird durch die Kraft der Liebe aus sich selbst befreit. Paarliebe führt, wo sie gelingt, die Liebenden in den ›siebten Himmel‹, familiäre Liebe zur Anerkennung. Erlösung bewirkt nicht weniger als eine neue Qualität des Lebens. Geliebt zu sein macht uns zu besseren Menschen.
- Schleiermacher schließt für sich die Vorstellung der doppelten Prädestination zum Guten und zum Bösen aus und spricht stattdessen von der Ausgießung des Geistes über die ganze Welt. Wenn der Geist nicht überall in gleicher Weise zur Wirkung kommt, liegt das an den unterschiedlichen Bedingungen in der Welt. Ganz ähnlich deuten Paare ihr Zusammenkommen. Sie fühlen, dass sie füreinander bestimmt sind, erkennen aber zugleich an, dass sich ihr Zusammentreffen zufälligen Momenten verdankt. Damit wird die Familie als ›primäre Kirche‹ zu einem „der wichtigsten und anschaulichsten Exponenten jener explizit religiösen Gestalt des Geistes“ (Christian Rebert S. 498).
- Der medialen Anknüpfung des Geistes an Wort und Sakrament entsprechen aufseiten der Paare und Familien unter anderem Liebesbriefe, Familienerzählungen, Fotos und Videos. „Das partnerschaftliche und familiale Leben wirkt eminent medienschöpferisch. Nahezu alles kann zu einer Reliquie von der geliebten Person werden, wenn es nur in irgend einer Weise mit ihr oder einem bedeutungsvollen Moment der Gemeinschaft verknüpft ist […]. Sakramente sind leibliche Rituale der Vergewisserung. Die Kinderstube und das Abendmahl […] haben metaphorisch–familiale Haftpunkte. Aber auch die Familie selbst bildet vielerlei Rituale aus, wie das gemeinsame Abendessen […], das für viele […] zu den bedeutungsstärksten Fixpunkten familialer Kommunikation gehört“ (Christian Rebert S.499 f.).
- Hoffnung über den Tod hinaus verbindet Schleiermacher nicht mit der universalen Gottesliebe, sondern mit dem Weiterleben der Person in den Kindern. Glück kann kein Dauerzustand sein: Aber es lässt sich in großen Momenten der Selbstentgrenzung und höheren Einheit in der Sexualität erfahren.
- Dass die Familie religiös gedeutet werden kann, ist nach dem bisher Diskutierten offenkundig. Sie ist aber auch zum Ausgangspunkt der Lehre von der innergöttlichen Ökonomie geworden, der Lehre von der Gemeinschaft von Vater, Sohn und Heiligem Geist.
- „Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich die Identifikation der Familie als eines herausragenden Sinnträgers einer großen Bedeutungsaufladung verdankt, die nicht frei von der Gefahr einer Bedeutungsüberladung ist. Gleichwohl kann ›Familie als Lebenssinn‹ auch eine Absage an übersteigerte Sinnprätentionen darstellen […]. Die Familie als den persönlichen Lebenssinn anzugeben, kann […] auch bedeuten, zu bekennen, dass das familiale Leben mit all seinen Beschränkungen und banalen Alltäglichkeiten immer noch bedeutsamer erscheint als vieles andere. Hierin ist zugleich anerkannt, dass Sinnerleben nicht nur in Hochgefühlen besteht, sondern auch in dem schlichten Wissen darum, gebraucht, geliebt oder einfach nur […] bleibend im Horizont anderer zu sein – und zwar als ganzer Mensch, der man ist. Als Person gemeint zu sein, kann als ein Spezifikum des protestantischen Glaubens gelten. Auch daher steht die psycho-emotionale Leistung, die er zu erbringen vermag, in besonderer Nähe zu den Sinnstiftungsqualitäten der persönlichsten aller Sozialformen: der Familie“ (Christian Rebert S. 503 f.).
ham, 12. Juni 2020