Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 16. Februar bis 16. August 2020 im Arp Museum Bahnhof Rolandseck, herausgegeben vom Arp Museum und vom Atelier Jonas Burgert mit Texten von Ralph Dutli, Oliver Kornhoff, Jutta Mattern, Monika Rinck
Kerber Verlag, Bielefeld / Berlin, Landes-Stiftung Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Jonas Burgert 2020, ISBN 978-3-7356-0660-0, 240 Seiten, 124 farbige und 15 s/w Abbildungen, Hardcover gebunden,
Format 34,5 x 29,5 cm, € 78,00 / CHF 95,78
Schon kleine Kinder interessieren sich dafür, wer sie in Wirklichkeit sind. Wenn man sie fragt, wie sie heißen, antworten sie mit ihrem Namen. In den 1950-er Jahren hat man sie darüber hinaus gefragt, wem sie gehören und wo sie herkommen. Dann haben sie einem den Namen ihrer Eltern und ihren Wohnort gesagt. Aber beantworten die Namen der Eltern, der Wohnort und der eigene Name tatsächlich, wer wir sind? Philosophen wie der Schweizer Peter Bieri stellen das in Zweifel. Sie gehen davon aus, dass wir Menschen auf die Frage, wer wir sind, keine befriedigende Antwort finden und uns auf Dauer ein Rätsel bleiben. Der einfache Grund: Es bleibt offen, ob wir Menschen ein beseelter Leib oder eine beleibte Seele sind und wie unsere mentale Seite mit unserem materiellen Leib interagiert.
Bieri konstatiert ein Trilemma, wenn drei Annahmen gelten: Er geht erstens davon aus, dass mentale Phänomene nicht-physische Phänomene sind, dass zweitens mentale Phänomene kausal im Körper wirken und dass drittens physische Phänomene kausal geschlossen sind (vergleiche dazu und zum Folgenden Philipp Bucher, Beseelter Leib? Beleibte Seele? Oder: Warum der Mensch ein Rätsel ist. In: https://www.philosophie.ch/philosophie/highlights/mensch/beseelter-leib-beleibte-seele-oder-warum-der-mensch-ein-raetsel-ist). Daraus ergibt sich das Trilemma, dass jeweils nur zwei seiner drei Grundannahmen wahr sein können: Dualisten lösen das Trilemma, indem sie die dritte Grundannahme aufgeben. Damit verzichten sie aber auf eine Antwort auf die Frage, wie die immaterielle Seele mit dem physischen Körper interagieren kann. Epiphänomenalisten geben den zweiten Grundsatz auf; für sie sind mentale Prozesse nur Begleiterscheinungen veränderter physikalischer Zustände. Der Geist wird überflüssig. Vertreter des Physikalismus bestreiten den ersten Grundsatz und lassen den Geist im Gehirn aufgehen. Der Geist ist für sie das Gehirn und das Gehirn der Geist.
Auch der 1969 in Berlin geborene Maler Jonas Burgert fragt, was den Menschen ausmacht. 2014 wollte er mit seinen Bildern noch Bühnen schaffen, auf denen die Suche nach sich selbst aufgeführt und dargestellt wird: „Die Grundidee meiner Bilder ist, die Bühne zu malen, auf der das Ringen um geistige Repräsentanz stattfindet. Eine Bühne, auf der der Mensch sich selbst definiert in all seinen Absurditäten, Widersprüchen, Hoffnungen und Sehnsüchten […]. Vielleicht klingt das vermessen, aber ich bin der Meinung, dass diese Begrifflichkeiten nicht anders zu benennen sind. Dieser Prozess hinterlässt Spuren, weshalb ich oft Szenerien male, in denen das Resultat einer Handlung zu sehen ist – der ‚schöne‘ Dreck eines inneren Kampfes. Der Zeitpunkt und der Ort, an dem die Szenerie stattfindet, soll nicht klar definiert sein, da diese grundsätzliche Auseinandersetzung mit sich selbst ein zeitloses Phänomen ist. Im Prinzip geht es immer um eine symbolische, existenzielle Geste des Menschen.“ (Johanna Hofleitner: Jonas Burgert: Der schöne Dreck. In: Die Presse – Schaufenster. Abgerufen am 19. Januar 2014). Drei Jahre später nähert er sich der Auffassung an, dass sich der Mensch ein Rätsel bleibt. Er konstatiert, dass wir ununterbrochen versuchen, den Menschen und die Welt auf den Begriff zu bringen; aber nach seiner Meinung sind das „ganze viele Versuche, die scheitern“. Deshalb wäre es „das einzig Ehrliche zu sagen: Wir haben eigentlich keine Lösung […]. Und dann bleibt vielleicht viel schöner Dreck übrig“ (Jonas Burgert im Video ›Was bleibt ist schöner Dreck‹ zur Ausstellung ›Zeitlach‹ in der Südwest Galerie Berlin 2017). Mit diesem Dreck malt er seine Bilder. Sie sind für ihn jetzt „eine Art Ballung eines geistigen Drecks, die Idee von unendlich vielen geistigen Gedanken, die wir uns im Leben machen, auf einen geistigen Haufen gefegt“ (Jonas Burgert a. a. O.).
Im besten Fall kann aus diesem Dreck eine schöne Form entstehen. Um diese Form bemüht sich Burgert in „farbgewaltigen Gemälden“ (vergleiche dazu etwa https://www.google.de/search?q=jonas+burgert&tbm=isch&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwjfnLLNosnoAhWLjqQKHXzWAC0QiR56BAgHEBA&biw=1588&bih=888), die die klassische Tradition des Tafelbildes mit einer zeitgenössischen Ästhetik verbinden. „Durch grelle Farbkontraste, perspektivische Brüche und unterschiedliche Maßstäbe wirken sie wie collagiert. Zugleich sind alle Elemente durch die Einfassung in eine gemeinsame Kulisse und sorgsam gesetzte Blickachsen miteinander verbunden. In der souveränen Beherrschung der malerischen Mittel schafft Burgert ausgewogene Kompositionen, die nur vordergründig überbordend und chaotisch wirken. Er verbindet dabei nahezu abstrakte Passagen, die ihre malerische Materialität betonen, mit einer bestechenden Gegenständlichkeit, die sofort in den Bann zieht“ (Oliver Kornhoff S. 11).
Burgerts zwischen Figuration und Abstraktion changierende detailreiche und an Perfektion kaum zu übertreffende Großformate (vergleiche dazu etwa ›Jonas Burgert, schlag Luft‹, 2019, 360 x 540 cm und ›Jonas Burgert, singt sich‹, 2020, 360 x 720 cm, in der Bildergalerie des Arp Museums Nr 3/11 und 6/11: https://arpmuseum.org/ausstellungen/wechselausstellungen/aktuell/jonas-burgert.html), seine Porträts (vergleiche dazu ›Jonas Burgert, Sinn frisst‹, 2019, 90 x 80 cm, in der Bildergalerie 1/11) und seine Skulpturen (vergleiche dazu Jonas Burgert, Sie blieb (rechts) & blieb (links), 2019, 300 x 145 x 80 cm, in der Bildergalerie 8/11) sind keine Erzählungen, sondern Schnittstellen, in denen das nicht zu Ende kommende Denken in Klang, Empfinden und Atmosphären umgesetzt ist. „Im Zentrum der extrem verdichteten Bildinhalte steht der Mensch. Aus Zusammenhängen herausgelöst, bewegt er sich als Einzelner, in Gruppen oder bevölkert als regelrechtes ›Menschenknäuel die Bildfläche. Der Fantasie und Erfindungsgabe des Künstlers entsprungen, zeigen sich Jonas Burgers ›Wesen‹ gelegentlich manieristisch überzeichnet, mit überlangen Gliedmaßen und in verzerrten Formen. Eingebettet in spannungsgeladene, absurde, rätselhafte, metaphorische und destruktive Szenerien, begegnen uns einzelne Individuen, die trotz der unmittelbaren Nachbarschaft zu anderen völlig isoliert und abgesondert scheinen. Sie wirken wie auf sich selbst zurückgeworfen, mit sich beschäftigt, in sich gekehrt, gedankenverhangen, leer, traurig und unfähig, mit den anderen Kontakt aufzunehmen. Und selbst diejenigen, die als Porträtierte uns scheinbar ins Auge gefasst haben […], schauen an uns vorbei oder durch uns hindurch. Eine Beziehung ensteht nicht“ (Jutta Mattern S. 94).
Der in seiner Größe, Aufmachung und Qualität seiner Reproduktionen beeindruckende Katalog enthält neben dem Vorwort von Oliver Kornhoff und der kunsthistorischen Einführung von Jutta Mattern zwei eigens für diese Publikation entstandene literarische Beiträge der renommierten Autoren Ralph Dutli (geboren 1954, er lebt und arbeitet in Heidelberg) und Monika Rinck (geboren 1969, sie lebt und arbeitet in Berlin). Beide beschäftigen sich mit interdisziplinären Phänomenen zwischen Kunst und Literatur. Für mich kommen die freien Rhythmen von Ralph Dutli nahe an Burgerts Vorstellung von Gemälden als Gedichten heran: „Schöpfkellen voller magischer Jenseitcocktails / für Kobolde einer irren Theologie! / prallbunte Anderthalblebewesen / in den Garagenkirchen des Unbewussten / enge Unterweltzoos durchlässig für / halluzinatorische Aberwelten / ein grausames Buch träumt von mir / und wütend träumte ich zurück / die Wortlosen sind mit Trümmern geschmückt / Perücken voller Wahnsinn / wo jedes Haar sich krümmt und betet / es ist eine deutliche Unruhe im Gehege / hier sind Wartesäle letzter Bahnhöfe / niefahrender Züge / die Abräumhalden der Ursachen / das Karussell der Risiken & Nebenbühnen / schriller Karneval / der nicht mehr Mitteilsamen / sie können nicht vergessen … / sie können nicht vergessen … / nicht vergessen … “ (Ralph Dutli, Heilige Müllhalden S. 18).
Neben den in der Ausstellung gezeigten jüngeren und jüngsten Großformaten, Porträts und Skulpturen sind weiter 75 Arbeiten des Künstlers aus den Jahren 2012 – 2019 in den Katalog aufgenommen. Wer Jonas Burgert noch nicht kennt, sollte den Katalog unbedingt lesen. Und wer ihn schätzt, sowieso.
ham, 2. April 2020