Ein einfach-leben-Buch, herausgegeben von Rudolf Walter
Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2019, ISBN 978-3-451-00861-0, 208 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Leseband, Format 19,5 x 13 cm, € 18,00
Wer den im Januar 2020 75 Jahre alt gewordenen Bestsellerautor, Kursleiter, geistlichen Begleiter und durch seinen gepflegten weißen Vollbart und seine schwarze Kutte unverwechselbaren Münsterschwarzacher Benediktinermönch Anselm Grün über Jahre von seinen Büchern und stets überfüllten Vorträgen zu Sinn-, Lebens- und Glaubensfragen her kennt, fragt sich, wie man ihn und seine Botschaft am besten charakterisieren könnte.
In seinen Geschichten von buddhistischen Meistern, Sufi-Mystikern und christlichen Mönchen ist folgende „Auf der anderen Seite der Mauer“ überschriebene Geschichte des 1836 in Kamarpukur in Bengalen geborenen und 1886 in Kolkata gestorbenen hinduistischen Mystikers Sri Ramakrishna zu finden, die man in Varianten auch von Pater Anselm Grün erzählen könnte: Ramakrishna Paramahamsa erzählt von einem geheimnisvollen Gelände innerhalb der Stadt hinter der Mauer, die vier Bürger mit großer Mühe erklimmen. Als sie oben angekommen sind, springen drei der vier mit einem Freudenschrei auf die andere Seite. „Als der vierte oben angelangte, sah er einen Garten von unglaublicher Schönheit vor sich ausgebreitet, mit herrlichen Bäumen voll der köstlichsten Früchte. Er widerstand der Versuchung, hinabzuspringen, stieg langsam wieder von der Mauer herunter und verkündete der ganzen Stadt die frohe Botschaft von dem paradiesischen Garten. Gott ist dieser verborgene Garten. Wer die Mühe nicht scheut, wird ihn schauen und, die Welt vergessend, in ihm aufgehen. Dies sind die Heiligen und Gottmenschen. Die Erlöser der Menschheit aber sind wie jener vierte. Sie leben in Gottes Gemeinschaft, sind aber zugleich darauf bedacht, ihre Glückseligkeit mit den anderen zu teilen. Sie verzichten auf das Paradies, um die frohe Gottesbotschaft der ringenden Menschheit zu verkünden und ihr den Weg zu zeigen, der zu Gott führt“ (Sri Ramakrishna S. 174).
Das Bild von Gott als einem verborgenen Garten kommt nicht nur im Hinduismus, sondern auch im Christentum vor. Nach Grün kennt auch das Christentum die Tendenz, über der Schönheit des Gartens die Welt zu vergessen, denn Gott ist so faszinierend, dass man wie die drei ersten Bürger nach dem Sprung von der Mauer nichts anderes mehr braucht. Der Erzähler nennt sie die Heiligen und Gottmenschen. Er setzt aber auf den vierten, den er Erlöser nennt. Erlöser sind für ihn jene, die in Gottes Gemeinschaft leben, aber ihre Glückseligkeit mit anderen teilen, auf das Paradies verzichten und die frohe Gottesbotschaft verkünden.
Anselm Grün erinnert die Erzählung an den Philipperhymnus: ›Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich‹ (Philipper 2, 6 f.). „Jesus hat das Paradies geschaut. Aber er blieb nicht darin, sondern ging zu den Menschen, um ihnen die Frohe Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden, das in jedem von uns ist. In jedem von uns ist dieses Paradies. Aber es braucht Menschen wie Jesus und dann später wie viele Heilige, die uns von diesem Paradies im Inneren unserer Seele erzählen und uns einen Weg zeigen, wie wir diesen wunderbaren inneren Garten in uns entdecken und aus dieser Erfahrung heraus in der Welt leben können“ (Anselm Grün S.175). Man liegt sicher nicht verkehrt, wenn man annimmt, dass sich Anselm Grün als einer dieser Menschen sieht.
Die für das vorliegende Buch ausgewählten Geschichten führen nach Grüns Überzeugung in einen Bereich hinein, „der jenseits aller Worte ist. Das war für die frühen christlichen Mönche ein entscheidender Weg der Meditation: Sie meditieren die Worte der Bibel, aber sie lassen sich von den Worten in den Raum führen, der jenseits aller Worte und Bilder ist. Die hier gesammelten Geschichten sind voller Bilder. Aber die Wirklichkeit, auf die die Bilder verweisen, ist jenseits aller Bilder. Daher sind diese Geschichten auch ein guter Weg für den Dialog der Religionen […]. Geschichten führen weg vom Kopf, weg vom Rationalisieren und Diskutieren, mitten hinein ins Herz. Sie wollen unser Herz berühren, es aufbrechen für Gott […]. Das Herz ist dabei für die Alten die Mitte des Menschen, in der das Denken und Fühlen eins ist. Diese Meister sind überzeugt: Der Mensch kommt zu einer Beziehung zu Gott, wenn er auch in eine Beziehung zu sich selbst findet. Nur wer sich selbst spürt, ist auch fähig, Gott zu spüren. Die Wege, auf denen uns diese Geschichten zu diesem Spüren unserer selbst führen, sind oft paradox. Sie stellen uns […] in Frage. Aber gerade diese Infragestellung öffnet uns für Gott“ (Anselm Grün S. 201 f.).
ham, 22. Februar 2020