Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 30.11.2019 – 08.03.2020 in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe / Deutscher Kunstverlag, Berlin. München 2019,
ISBN 978-3-422-97981-9, 504 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 30,5 x 24,5 c, € 39,90 (D)
Der mutmaßlich 1484 oder 1485 in Schwäbisch Gmünd geborene, in Straßburg oder in Schwaben ausgebildete und 1545 kinderlos gestorbene und unter großer öffentlicher Anteilnahme auf dem protestantischen Friedhof St. Helena in Straßburg beigesetzte Maler, Zeichner und Grafiker Hans Baldung Grien gilt als einer der außergewöhnlichsten deutschen Künstler der Renaissance. Als Sohn einer humanistischen Gelehrtenfamilie verkörpert er den Typus des gebildeten, weltoffenen Künstlers der frühen Neuzeit. Rund 90 Gemälde, etliche Glasbilder, 250 Zeichnungen, an die 80 Einblattholzschnitte und ungefähr 500 Buchholzschnitte sind für ihn gesichert oder werden mit ihm verbunden. Der Katalog dokumentiert, diskutiert und erläutert die rund 250 in der Großen Landesausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe gezeigten Exponate im Kontext ihrer Entstehung und Zeit.
In seinem einleitenden Essay setzt sich Holger Jacob-Friesen unter dem Motto ›Heiliges und Unheiliges‹ mit der Schaulust in der frühen Neuzeit und Baldungs Gemälde ›Lot und seine Töchter‹ (vergleiche dazu https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/blog/lot-und-seine-toechter/) auseinander. Demnach haben die großen venezianischen Renaissance-Maler mit ihren Darstellungen liegender weiblicher Akte der Schönheit und der Liebe gehuldigt. „Die nackten Körper sind sinnenfroh in bukolischen Landschaften inszeniert. Sehend träumt sich der Betrachter an seinen locus amoenus, wobei seine Schaulust durch keinerlei moralische Wertung geschmälert wird. In Italien wird der liegende Akt häufig in die antike Mythologie, jedoch so gut wie nie in einen biblischen Kontext eingebettet. Die Verknüpfung mit einer brisanten Geschichte aus dem Alten Testament, wie hier bei Baldung, ist […] gewissermaßen ›unitalienisch‹. Erst recht darf man es ›nordisch‹ nennen, dass die Darstellung des ›Ungleichen Paares‹ und der ›Weiberlist‹, die den moralischen Charakter des Bildes noch verstärken, mit ins Spiel kommen. Dabei ist die Moral für das Verständnis des Werkes wesentlich, keineswegs nur das Mäntelchen, mit dem ein verführerisch schönes, aber anstößiges Sujet bedeckt wird. Lot ist in der Bibel der Begnadete, der sich dank Gott vor der verheerenden Strafe retten kann. Dennoch lässt er sich zur Sünde hinreißen. Dies macht dem Betrachter die eigene Anfälligkeit für unsittliches Verhalten bewusst. Er sieht sich selbst in ein heilig-unheiliges Spannungsfeld versetzt“ (Holger Jacob-Friesen S. 37 f.).
Johanna Scherer widmet sich dem dem späten Baldung zugeschriebenen Manierismus. Nach der neueren Forschung wird der Manierismus nicht mehr als eine Art Gegenbewegung zur Renaissance, sondern als eine, aber nicht die einzige Form ihrer Weiterentwicklung verstanden, die sich vor allem durch das Prinzip der Selbstreflexivität auszeichnet. „Es handelt sich demnach um eine Kunst, die in besonderem Maße die eigene künstlerische Handschrift, die eigene Kunstfertigkeit und Technik, aber auch den künstlerischen Referenzrahmen thematisiert“ und zu der das Nachahmen von Vorbildern gehört (Johanna Scherer S. 62 f.). So greift Baldungs ›Junge Hexe und der fischgestaltige Drache‹ von 1515 (vergleiche dazu https://www.leo-bw.de/detail/-/Detail/details/DOKUMENT/skk_museumsobjekte/39F39505474227735CA3BAB20433486E/Nackte%20junge%20Hexe%20und%20
fischgestaltiger%20Drache) auf Albrecht Dürers ›Vertreibung aus dem Paradies‹ von 1511 zurück (vergleiche dazu https://www.akg-images.de/archive/Die-Vertreibung-aus-dem-Paradies-2UMDHUA4V8C.html). „Die Verwandtschaft von Eva und Hexe zeigt sich nicht nur am merkwürdig ausgestreckten Gesäß, sondern auch an der Stellung der Beine. Eine ›Überbietung‹ von Dürers Vorbild lässt sich auf verschiedenen Ebenen beobachten: Indem Baldung das Medium wechselt, wird die Aufmerksamkeit für die Möglichkeiten der Hell-Dunkel-Zeichnung geschärft: Ihre Fähigkeit, den Körper der Frau durch den Einsatz der Weißhöhung […] plastisch und greifbar erscheinen zu lassen, offenbart sich im Vergleich zum Holzschnitt noch deutlicher. Außerdem vollbringt Baldung das Kunststück, uns nicht nur den wohlgeformten Hintern, sondern dank der Körperdrehung auch die Brüste und das Gesicht der jungen Frau zu zeigen […].
Die Steigerung des künstlerischen Schwierigkeitsgrades wird […] mit einer Verstärkung der Erotik verbunden. Durch die – nach wie vor – rätselhafte Interaktion der Frau mit dem Drachen versetzt Baldung Dürers Figur in einen pornografischen Kontext. Schließlich kommt es auf semantischer Ebene zu einer Komplexitätssteigerung: Ist Dürers Blatt in seiner Ikonografie völlig eindeutig, besitzt Baldungs sogenannte Hexe einen hohen Verschlüsselungsgrad: Längst ist erkannt worden, dass die kunstvolle Hell-Dunkel-Zeichnung gezielt mehrdeutig angelegt ist und sich mit ihrer Sinnlichkeit, aber auch mit ihren gelehrten Andeutungen auf unterschiedliche Themenkreise an einen elitären, humanistisch gebildeten Adressatenkreis richtet“ (Johanna Scherer S.63 ff.).
Weitere Essays beschäftigen sich mit der Kunst als Balanceakt und dem Humanismus und der Reformation am Oberrhein zur Zeit Hans Baldungs.
Das siebte der siebzehn Kapitel des eigentlichen Katalogteils der Publikation handelt von der Vanitas, der Wollust und der Vergänglichkeit, das zwölfte vom Sündenfall. Nach Julia Carrasco können der Tod und die Vergänglichkeit als künstlerische Leitmotive in Baldungs Schaffen gelten. Mit diesen Themen beginnt und endet sein malerisches Œuvre. „Der Künstler stellte sich hiermit in die reiche spätmittelalterliche Tradition von Vanitas und Memento mori – der mahnenden Erinnerung an die eigene Sterblichkeit und die Vergänglichkeit aller irdischen Freuden und Laster […]. In der Konfrontation des grausigen, zudringlichen Todes und der verzweifelten, nackten Frau spitzt Baldung den Vergänglichkeitsgedanken drastisch zu (vergleiche dazu Hans Baldung, Der Tod und das Mädchen, 1517: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Tod_und_das_Mädchen). Gleichzeitig warnt er vor den Gefahren der Wollust, die der verführerische, malerisch ansprechende Akt symbolisiert, in dessen Genuss sich auch der Betrachter als sündhaft erkennen kann. Bildmoral und Kunstvergnügen treten hierbei in ein wechselseitiges Spannungsverhältnis, das in Baldungs Sündenfallbildern wiederkehrt: Das Konzept von Tod als Preis der Sünde (Römer 6.23), das beiden Themen zugrundeliegt, erklärt auch deren kompositorische Gemeinsamkeiten in Baldungs Werk“ (Julia Carrasco S. 231).
Weitere Kapitel beschäftigen sich mit Baldungs Straßburger Frühwerk, den sakralen Werken der Freiburger Zeit, seinen Porträts und Zeichnungen, dem Karlsruher Skizzenbuch, den Weiberlisten und Bilderrätseln, dem alten und dem neuen Glauben, den Marienbildern und seiner späten Schaffenszeit. Eine Biografie und ein ausführliches, siebzehn Seiten langes Literaturverzeichnis schließen den bisher umfassendsten Überblick über das Werk des großen Malers, Zeichners und Druckgrafikers ab.
ham, 28. Dezember 2019