Fotografien und Bilder von Südasien in der deutschsprachigen Öffentlichkeit, 1920–1980
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar, 2019, ISBN 978-3-412-50411-3, 444 Seiten, 108 s/w Abbildungen und 8 Farbtafeln, Hardcover gebunden mit Lesebändchen, € 70,00
Angela Müller wurde 2017 mit ihrer Kulturgeschichte westlicher Bildvorstellungen von Indien im 20. Jahrhundert an der Universität Luzern promoviert. Ihre Dissertation versteht sich als „postkolonial informierte Visual History, die Indienrepräsentationen stets zu kontextualisieren, in ihrer Bildaktqualität zu erfassen versucht und zugleich die Akteure und Ökonomien beleuchtet, unter denen die Bilder Verwendung finden“ (Angela Müller S. 22).
Im Titel „Indien im Sucher“ (vergleiche dazu https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/downloads/productPreviewFiles/LP_978-3-412-50411-3.pdf) sind zwei Perspektiven vereint: Die erste zielt auf die Generationen von Fotografinnen und Fotografen, die ihre Vorstellungen von Indien vor Ort in mehr als sechs Jahrzehnten zwischen 1920 und 1980 im „wirklichen“ Indien bestätigen oder verwerfen wollten. „Die zweite Dimension des Titels bezieht sich auf den gewissermaßen materialisierten Aspekt und jenes Indien, das im Sucher der Kamera der Fotografinnen und Fotografen erschien und über Publikationen einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurde.“ (Angela Müller S. 11). Die Fotografien spiegeln nicht allein die Vorstellungen ihrer Autoren und ihren gesellschaftlichen Hintergrund, der sich in eine Aufnahme einschreibt, sondern auch die Mitwirkung und Mitautorenschaft der Fotografierten.
Im ersten Kapitel bestätigt sich, dass sich die existierenden Vorstellungen von Indien als äußerst wirkmächtig erweisen. So wurde im Fotobuch ›Indien: Baukunst, Landschaft und Volksleben‹ (1928) des Schweizer Fotografen Martin Hürlimann die Armbanduhr eines in Darjeeling porträtierten jungen Mannes wegretuschiert, weil sie nicht zum imaginierten Typus eines buddhistischen Mönchs passte. Die Bilder wurden je nach Medium, Intention und anvisiertem Publikum „aus einer Art ›Imaginationssetzkasten‹ […] zusammengestellt. Das Bild des Setzkastens erscheint auch insofern passend, als die Produktion von Fotopublikationen analog dazu funktionierte: Fotografien wurden von Fotografinnen und Fotografen anhand bestimmter Bildausschnitte produziert, für die Publikation bearbeitetet und beschnitten und mit anderen Bildern sowie mit Texten gemeinsam zu einem Narrativ montiert“ (Angela Müller S. 399). Auf diesem Weg konnten verschiedenen Indienbilder nebeneinander existieren, ohne dass die Berechtigung der jeweils anderen infrage gestellt wurde.
Das zweite Kapitel beleuchtet die von Martin Hürlimann herausgegebene Monatszeitschrift Atlantis, die sich an gebildete, weltoffene Leser wandte. Ihr Fokus lag auf nicht-europäischen Ländern; ihr Titel rekurrierte auf den von Platon beschriebenen untergegangenen Kontinent Atlantis und die nie endende Sehnsucht danach. Utopie, Wirklichkeit und Wissenschaft sollten in der Zeitschrift ineinander greifen. Zu diesem Zweck wurden neueste Forschungsergebnisse mit literarischen und historischen Darstellungen, Nahes mit Fernem und Fremdes mit Heimatlichem zu einem Bild verschränkt. Das Nebeneinander von Nicht-Europäischem und Europäischen diente der Inszenierung von globaler Diversität und Gemeinsamkeit zugleich. „Nicht-europäische Bevölkerungen wurden in eine ›Zivilisationsleiter‹ eingestuft, wobei die mit europäischem Maßstab gemessene Distanz zur ›Zivilisation‹ mit modernekritischem Impetus in der Regel positiv bewertet wurde. Die Repräsentationen von nicht-europäischen Kulturen basierten zugleich auf rassistischen Zuschreibungen, die Eigenheiten von Bevölkerungen auf ihre ethnischen Zugehörigkeiten reduzierten. Was Atlantis von den großen bürgerlichen Massenillustrierten unterschied, war, dass sie auch Autorinnen und Autoren nicht-europäischer Gebiete durch Übersetzungen zugänglich machte“ (Angela Müller a. a. O.). Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erscheint Nicht-Europa als Imaginationsort eines „kriegsunversehrten und idyllisch-ästhetischen Raums; dabei wird außer Acht gelassen, dass viele außereuropäische Gebiete in den Zweiten Weltkrieg involviert und enorm in Mitleidenschaft gezogen worden waren“ (Angela Müller S. 137). Atlantis erschien zwischen 1929 und 1964 und hat die Vorstellungen ihrer Leserinnen und Leser mit ihren Darstellungen außereuropäischer Kulturen enorm beeinflusst.
Das dritte Kapitel zeichnet das Indienbild der illustrierten Massenpresse der Schweiz und Deutschlands zwischen 1920 und 1945 nach. Indien wird zum Wunderland, das jedem etwas geben und das Innerste seiner Seele gefangen nehmen kann. Zur Ikonographie des Wunderlandes gehört der Marharaja, der Reichtum des Märchenfürsten, seine Hochzeit, sein Palast, sein Liebesleben, seine Dekadenz und sein Untergang. Als Gegenfigur wurde der sadhu, der indische Eremit aufgebaut, der auch als Bettler, Fakir, Pilger oder Büßer bezeichnet werden konnte und für die asketisch-spirituelle Seite indischen Lebens stand. „Hinduistische sadhus fanden primär in sitzender oder liegender Haltung Darstellung, meist wurden sie bei der Meditation repräsentiert. Besonders beliebt waren Aufnahmen, die den Asketen in möglichst außergewöhnlichen Posen wie im Kopfstand, in einem Dornenbett liegend oder mit im Boden begrabenen Kopf zeigten. In der Mehrheit waren die sadhus lediglich mit einem Leinentuch um die Hüfte sowie Ketten um den Hals bekleidet. Ihre langen Haare trugen sie offen oder nach hinten gebunden. Zeichen aus heller Asche auf den Körpern der sadhus markierten ihre religiöse Zugehörigkeit“ (Angela Müller S. 178).
„Insgesamt dienten Repräsentationen Indiens als eine hierarchisch organisierte und insbesondere durch Praktiken des Hinduismus geprägte Gesellschaft als Spiegel, vor dem das europäische Leben als aufgeklärt, liberal und fortschrittlich verstanden werden konnte. Der indische Alltag erschien als geprägt von einer als ausweglos beschriebenen Zugehörigkeit zu einer ›Kaste‹ oder zu einem Geschlecht. Während in Europa der rasche gesellschaftliche Wandel und Fortschritt im Vordergrund stand, imaginierten Fotoberichte südasiatische Gesellschaften als statisch und von patriarchalen religiösen Traditionen geprägt […]. Modernisierung wurde als eine wichtige gesellschaftliche Transformation aber auch als eine globale gesellschaftliche Gleichmacherei gedeutet“ (Angela Müller S. 206 f.).
Im dem antikolonialen Widerstand gewidmeten vierten Kapitel spielt Mohandas K. Gandhi die zentrale Rolle. Er gilt als einer der meistfotografierten Politiker des 20. Jahrhunderts. „Bewusst setzte Gandhi die Medien für seine Ziele ein, und wenn er auch europäischen Fotografinnen und Fotografen nicht Modell stand, so lud er viele von ihnen zu sich in seinen Ashram ein und ließ sie ihn porträtieren. So nutzt er sein Äußeres, um seine politischen Ziele zu vermitteln und diese Strategie erwies sich in deutschsprachigen bürgerlichen Illustrierten als erfolgreich. Ihnen diente er als Verkörperung des nationalen Widerstands gegen das Britische Empire. Insbesondere der Wandel seines Äußeren vom Anwalt zum Asketen symbolisiert die Bewegung der Dekolonisation, indem der gelernte Anwalt seine westliche Kleidung ablegte und durch eine als ›indisch‹ wahrgenommene ersetzt. Durch die Figur Gandhis wurde die Dekolonisationsbewegung in ihrer Komplexität auf eine Schlüsselfigur reduziert“ (Angela Müller S. 402 f.). Gandhis Bild blieb indes ambivalent: Einerseits war Gandhi durch seine westliche Bildung an das Bürgertum und an die indigenen indischen Eliten anschlussfähig, andererseits wurde das von ihm repräsentierte Bild von Männlichkeit despektierlich gezeichnet und karikiert. In der Sicht der kommunistischen Arbeiter Illustrierten Zeitung war er ein Bürgerlicher, der populistisch agiert.
Nach dem Ende der britischen Herrschaft im Jahr 1947 wird von Indien nicht mehr als einem Wunder-, sondern als einem Hungerland berichtet. Charakteristisch werden Reportagen wie die von Werner Bischof ›Indien braucht Brot‹ (in: Die Woche vom 11.06.1951) oder die des Fotografen Thomas Hoepker ›Helft mir – mein Sohn stirbt!‹ (im Stern vom 29.10.1967) und Kampagnen wie die von Misereor, von Brot für die Welt und wie die Weltkampagne zur Bekämpfung von Hunger und Not, in deren Zentrum die Hungerhand und Bilder von Kindern mit abgemagerten Köpfen und aufgeblähten Bäuchen stehen (vergleiche dazu etwa https://www.google.de/search?q=hungerhand+brot+f%C3%BCr+die+welt&tbm=isch&source=hp&sa=X&ved=2ahUKEwjZ2K7hjt_iAhUN_
qQKHTG8DsQQsAR6BAgGEAE&biw=1649&bih=904#imgrc=jrYMAbS9cKBHqM:).
In den 1960er und 70er Jahren etablierte sich schließlich auch Maharishi Mahesh Yogi als weltweit wahrgenommene Ikone. „Insbesondere durch sein Zusammentreffen mit den Beatles […] erschien der Maharishi – stets mit einem Lächeln auf den Lippen und mit einer Blumengirlande um den Hals – als Mentor und Vaterfigur der britischen Musiker und ihrer Partnerinnen und damit als integraler Bestandteil der Popkultur. Neu war an dieser Darstellung einer indischen Ikone, dass sie nicht mehr in Indien selbst porträtiert wurde, sondern als eine in Europa wirkende Persönlichkeit“ (Angela Müller S. 404). Meditation und Yoga werden zum Gegenmittel von jugendlichem Drogenkonsum; der indische Jogi fungiert als Unterweiser und Lehrer, der mit spirituellem Wissen glänzt (vergleiche dazu etwa https://www.google.de/search?q=maharishi+mahesh+yogi&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=lwCKx0fxBBFfJM%253A%252CHVuJq1sMSfKHDM%252C%252Fm
Angela Müller hält als ein Ergebnis ihrer Studie fest, dass in der Imagination Indiens die Religion die Kultur und den Lebensalltag Indiens fortwährend durchdringt. „Die Dichotomie zwischen einem ›spirituellen Osten‹ und einem ›rationalen Westen‹ zieht sich wie ein roter Faden durch die Bilderwelten zwischen 1920 und 1980. Den Illustrierten galten die Religionen Indiens als Motor hochkultureller architektonischer Hervorbringungen. Tempelbauten wurden in den 1920er Jahren in Fotobüchern verewigt. Die Überbetonung der Religion und die Faszination für die ›indische‹ Spiritualität aus einer europäischen Perspektive scheinen spezifisch für die Wahrnehmung des Subkontinents […]. Nicht nur die Romantiker propagierten die asiatische Spiritualität, Techniken wie Yoga wurden im deutschsprachigen Raum bereits früh rezipiert […]. Meist positiv konnotiert wurde […] auch der als liebe- und respektvoll empfundene Umgang mit Tieren, der in Verbindung zum Hinduismus und zu Vorstellungen der Wiedergeburt gebracht wurde […]. Religion erschien zugleich als Hemmnis gesellschaftlicher Entwicklung, was […] am sogenannten ›Kasten-System‹ festgemacht wurde. In den 1960er Jahren avancierte schließlich die heilige Kuh zum Sinnbild des europäischen Unverständnisses gegenüber dem Festhalten an religiösen Dogmen auf dem Subkontinent. Fotoreportagen beleuchteten die Ungleichbehandlung von Mensch und Tier kritisch. Während Menschen Hunger leiden müssten, würde die indische Gesellschaft das Überleben von Tieren sichern“ (Angela Müller S. 401).
ham, 11. Juni 2019