Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar, 2018, ISBN 978-3-412-50976-7, 420 Seiten, 17 farbige und 35
schwarzweiße Abbildungen, Hardcover gebunden mit Lesebändchen, Format 23,5 x 16,5 cm, € 38,00
Der Kultur-, Kunst-, Sozial- und Politikgeschichtler Wolfgang Ruppert hat in seiner Studie Der moderne
Künstler, Frankfurt a. M., 1998, nach den sozial-, gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Bedingungen in
der kulturellen Moderne des ausgehenden 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert gefragt, in denen sich kreative
Individualität und damit auch der Beruf des Künstlers entwickeln konnten. Sein jetzt vorgelegter Forschungsbericht
verfolgt die Weiterentwicklung der Künstler- und Kreativitätsvorstellungen im 20. und anfänglichen
21. Jahrhundert. „Die Entwicklungen der >Avantgarden< gingen mit Grenzöffnungen zwischen
freier und angewandter Kunst einher. Technische Medien, die industrielle Massenkultur, die Entdeckung des
Alltags und dessen >Material< für die Künste sind Stichworte für die Erweiterungen der ästhetischen Arbeit.
Damit zieht sich die Frage nach der Ausdifferenzierung der künstlerischen Professionen wie auch nach den
Varianten des Künstlerhabitus durch das vorliegende Buch. Damit werbe ich für eine empirische Kulturgeschichte
als einen Zugang zur Kreativität des Menschen“ (Wolfgang Ruppert S.14 f.). Ruppert versteht unter
Kulturgeschichte einen umfassenden Begriff, der anders als die Ideen- oder Philosophie- und die ältere
Kunstgeschichte „die technische Zivilisation, die ästhetische Produktion der Künstler und die rational-reflexive
Kultur des Denkens gleichermaßen umfasst“ (Wolfgang Ruppert S. 41). Damit werden die kulturelle
Grammatik, die Mythen und die Konzepte des Künstlers in ihrer Historizität erfass- und vom übergreifenden
Mythos >des Künstlers< abgrenzbar.
„In der westlichen Kultur ist eine überindividuelle Vorstellung >des Künstlers< im Bildungskanon der Gesellschaft
präsent, die mit der kulturgeschichtlichen Entwicklung fortlaufend modelliert wird. Diese Vorstellung
[…] beinhaltet […] die Merkmale von erfinderischen >geistigen< Ideen und kreativer Arbeit an Kunstwerken,
die ihn als Schöpfer […] zum Träger mythischer Aufladungen werden lassen. Kant bemühte sich,
den Charakter des […] Geistigen zu definieren: >Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip
im Gemüte<. Diese Arbeit am >Geistigen<, als dem >Belebenden< in der Phantasie und in den Gefühlswahrnehmungen
des Menschen, bildet den Kern der Anstrengungen des Künstlerindividuums. Daran haben
die künstlerischen Professionen in unterschiedlichen Graden Anteil“ (Wolfgang Ruppert S. 41). In der Alltagskommunikation
sprechen die Akteure vom >Künstler in mir< und verweisen damit auf „die unterschiedlichen
Wissensanteile, die im Künstlerhabitus verdichtet sein können. Sie umfassen beim Architekten auch
ingenieurwissenschaftliche, werkstoffkundliche, stadtplanerische und andere Kompetenzen. Im kulturellen
Konstrukt >des Künstlers< durchdringen sich somit sowohl spezifische künstlerische Kernkompetenzen als
auch kulturelles Alltagswissen in unterschiedlichen Anteilen. In einer künstlerischen Berufsrolle dominiert
jedoch die künstlerische Alltagspraxis […]. Die Einsicht in die Historizität der gesellschaftlichen und kulturellen
Bedingungen, in die unterschiedlichen sozialen Wirklichkeiten, in denen die Künstlerkreativität ausgeformt
wird und als künstlerische Individualität in den Werken fassbar ist, schärft unsere Urteilsfähigkeit für
die individuelle Leistung“ (Wolfgang Ruppert S. 41 f.).
An Wasssily Kandinsky und Paul Klee, den Pionieren der Abstraktion, kann Ruppert zeigen, dass bei ihrer
Selbstfindung der konzentrierte künstlerische Wille eine entscheidende Rolle gespielt hat. „Sie schufen eine
je eigenständige ästhetische Sprache und trieben die sukzessive Etablierung ihres Werks im Kunstbetrieb
voran. Hierauf konnte sich der hohe Ton von Zuschreibungen als >Schöpfer< des >Geistigen< oder als >Pioniere
der Abstraktion< zu Recht stützen. Freilich beruht die ihnen entgegengebrachte Huldigung als >große
Individualisten< auf einem in der bürgerlichen Kultur idealisierten Menschenbild […]. Die heroische Vorstellung
eines in sich geschlossenen modernen Individuums verstellte jedoch den Blick auf den Preis […]:
auf die besonders >schwierigen<, in sich widersprüchlichen Persönlichkeiten Kandinskys wie auch Klees
mit ihren zeitweise >dunklen< Gemütsstimmungen. Somit erweist sich diese Rhetorik der Kunstkritik als ein
Teil der Konstruktion von Mythen um den modernen Künstler“ (Wolfgang Ruppert S. 57).
Der Etablierung der so gefassten Vorstellung eines modernen Künstlers gingen unter anderem der Handwerkerkünstler
des Mittelalters, der Hofkünstler der absolutistischen Ständegesellschaft, die Durchsetzung
selbstbestimmter, autonomer künstlerischer Arbeit gegenüber den Auftraggebern, die Herausbildung einer an
Kultur interessierten bürgerlichen Öffentlichkeit ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert und die Etablierung
des Kunstmarkts, des Ausstellungswesens und der Kunstkritik voraus. Die Freiheit zum selbstbestimmten
Arbeiten blieb jedoch „für finanziell nicht abgesicherte Künstlerindividuen ambivalent. Bei einer mangelnden
Verkäuflichkeit ihrer Werke auf dem freien Markt schloss sie den freien Fall ins existentielle Nichts
ein“ (Wolfgang Ruppert S. 77). „Die existentielle Not zahlreicher Künstler setzt sich bis zur Gegenwart fort“
(Wolfgang Ruppert S. 95). Eine mögliche Lösung ist die Aufgabe der Selbständigkeit und die Übernahme
von Auftragsarbeiten oder von Nebenjobs.
Im Bauhaus sollte sich die künstlerische Kreativität nicht mehr vorrangig auf die Befriedigung der elitären
Bedürfnisse des bürgerlichen Kunstbetriebs, sondern auf den Lebensalltag aller Menschen ausrichten. „Die
Verbindung von >nutzlos< Schönem mit den >nützlichen Künsten< bildete die Utopie einer neuen Konzeption
der Künstlerausbildung. Auch beim Bauhaus“ als dem Laboratorium der Moderne ist „zwischen der Mythenbildung
und der Realität dieser Institution zu unterscheiden“ (Wolfgang Ruppert S. 103). Die in der Zeit
des Nationalsozialismus eingeführte Unterscheidung von sogenannter »arteigener« und angeblich »entarteter
« Kunst führte zur Ausgrenzung der modernistischen, demokratischen, linkspolitischen und »nichtarischen
« Minderheiten aus der Kunstöffentlichkeit. Herbert Bayer, Walter Gropius, László Moholy-Nagy, Josef
Albers und andere emigrierten in die USA und setzten dort ihre Arbeit als Künstlergestalter höchst erfolgreich
fort. „Nach der Machtübernahme durch den Reichskanzler Adolf Hitler und seiner >nationalen Regierung<
am 30.1.1933 vollzog sich sukzessive die >Gleichschaltung< des öffentlichen
Kulturbetriebs“ (Wolfgang Ruppert S. 133). Karl Hofer, Paul Klee und andere verloren schon in der ersten
Entlassungswelle ihre Professuren. Maler wie Adolph Ziegler, Werner Peiner oder Hermann Gradl, die Filmemacherin
Leni Riefenstahl und Bildhauer wie Joseph Thorax und Arno Breker wurden zu den Stars, die
den nationalen Zeitgeist und die Erwartungen »des Führers« mit am besten trafen. In der Ausstellung »Entartete
Kunst« 1937 in München und in den »Großen Deutschen Kunstausstellungen« zwischen 1937 und 1944
wurde die von der nationalsozialistischen Regierung erwartete Kunstauffassung einer großen Öffentlichkeit
bekannt. Damit ist überdeutlich, dass die künstlerische Autonomie auch durch den jeweiligen Zeitgeist eingeschränkt
wird.
>Die Lust des Menschen, sich auszudrücken< (Paul Klee), sich emotional zu öffnen und der eigenen Kreativität
freien Lauf zu lassen hat freilich auch der Nationalsozialismus nicht unterbinden können. Wird dieser
Ausdruck professionell ausgebildet und gefördert, kann man nach Ruppert vom >Künstlerhabitus< sprechen.
Er beschreibt die im Inneren des Subjekts ausgebildete Kompetenz des Künstlers, „die spezifischen Arbeitspraktiken
und stilistischen Unterscheidungsmuster zu erschließen, in denen sich das kreative Individuum
zunächst selbst finden kann. Dessen Entfaltung in der künstlerischen Arbeit setzt den individualisierten Ausdruckswillen
in ästhetischen Formen und symbolischen Medien voraus. Basis sind die unbewussten Empfindungen
und inneren Bilder in der Psyche. In diesem Sinn ist der Habitus des modernen Künstlers durch ein
Ensemble von spezifischen Kompetenzen charakterisiert, die sich in den von >geistigen< Ideen gespeisten
Arbeitskonzepten konkretisieren. Seine Arbeit an den kulturellen Mustern, Vorstellungen, Begriffen, Wahrnehmungen
sowie Gefühlen in ästhetischen und symbolischen Formen dient der Suche nach einem Ausdruck
für seine Erfahrung des Menschlichen und Zeitgenössischen. Der Künstlerhabitus bildet den Fokus für die
innere Befähigung des originär kreativen Subjekts zur schöpferischen Arbeit“ (Wolfgang Ruppert S. 166).
In der kulturellen Moderne trennen sich um 1800 die wissenschaftlich und künstlerisch Kreativen. „Der Wissenschaftler
arbeitet mit Argumenten und der Logik, dem Nachweis und der gedanklichen Nachvollziehbarkeit
mit Gründen der Vernunft. Der Künstlerhabitus avanciert dagegen zum inneren Kraftzentrum im künstlerischen
Arbeitsprozess. Er hat seine Bezugspunkte im Unbewussten und in der freien Phantasie. Die Intuition
wurde zum Operateur im Künstlerhabitus“ (Wolfgang Ruppert S. 167). Auch die Grenzerweiterungen
künstlerischer Arbeit, das moderne und das postmoderne Spiel und die ironischen Brechungen der Konventionen
haben ihre Bezugsgrößen im tradierten Künstlerhabitus (vergleiche dazu Wolfgang Ruppert, Künstlerische
Praktiken. In: https://gesellschaft-museum-ludwig.de/gmkadmin/resources/kik33beiblatt.pdf).
Im Avantgardismus des 20. Jahrhunderts wurde die Verbindung des Künstlerhabitus mit den jeweiligen kulturellen
Innovationen zum Programm erklärt. „Damit verschob sich der überwiegend unbewusste Zeitausdruck
in Form, Farben und Zeichen, in denen sich die künstlerische Identität jeweils neu orientierte, hin zum
Kult des radikal Neuen, der Erforschung des Unbekannten […]. Zeitchiffren wurden von den Künstlern in
der Abfolge der kulturellen Modernisierungen entworfen, variiert und erprobt. Mit dem Wechsel ihrer visionären
Innovationsversprechen erhielten diese künstlerischen Arbeitskonzepte jeweils neue Namen mit stilbezogenen
Begriffen, Jugendstil und den so genannten >Ismen<: Kubismus, Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus.
Hinzu kamen schließlich die Aktions- und Konzeptkunst. Mit dem Kult >des Neuen< in der
>Avantgardebewegung< […] setzte eine Verselbständigung der Bildräume ein. Die symbolischen Formen
wurden abstrakter und lösten sich vom Abbild der Realität. Die distinktiven ästhetischen Sprachen […] wurden
jedoch jeweils nur für kurze Zeit als aktuell empfunden“ (Wolfgang Ruppert S. 187). Zwischen den letzten
1960er und den anfänglichen 1980er Jahren lösen sich die überkommen Zuordnungen zu Gattungen Stilen
und >Ismen< auf. Im Zentrum steht jetzt das Künstlerindividuum. Martin Kippenberger setzt der Ansage
von Joseph Beuys >Jeder Mensch ist ein Künstler< seine Einsicht >Jeder Künstler ist ein Mensch entgegen
und wird zum Repräsentanten der postmodernen Strömungen der 1980er Jahre. „Die stärkste Herausforderung,
an der er sich abarbeitete, ging für ihn von den Mythen des modernen Künstlers und deren personifizierten
Trägern wie Beuys und Picasso aus. Genau mit diesem Bezug malte er das Bild >Beuys’ Mutter in
einer idealisierten Weise, in Anspielung auf das“ (vergleiche dazu https://www.google.de/search?
q=martin+kippenberger+die+mutter+von+joseph+beuys&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ve
d=2ahUKEwiOxdixppLfAhVRYVAKHYgIDloQsAR6BAgGEAE&biw=1679&bih=909) „bekannte Werk
Dürers. Mit dieser provokanten Haltung wurde er existentiell immer wieder auf die Inszenierung seines
Selbst zurückgeworfen. Kippenberger führte in seiner ironisch gebrochenen Bildlichkeit mit malerischen
Mitteln eine auf Ideen, Zeichen und Symbole bezogene, postmoderne Form der Konzeptkunst fort […]. Seine
Positionierung stützte sich auf ein Spiel zwischen Alltagsbezügen und der ironischen Brechung von kollektiv
tradierten Künstlermythen, auf diffuse Zitate des Künstlerhabitus, vordergründig ohne jeden visionären
Anspruch. Der als künstlerische Haltung beanspruchte postmoderne >Epochenbruch< mündete bei ihm
in der traktierten Beliebigkeit des >Anything goes<“ (Wolfgang Ruppert S, 331 f.).
Christoph Schlingensief und Jonathan Meese zelebrieren nach Wolfgang Ruppert die Selbstfeier des künstlerischen
Egos. Jonathan Meese hat ähnlich wie Schlingensief seine künstlerische Karriere als begabter Selbstinszenierer
begonnen (vergleiche dazu etwa https://www.google.de/search?q=jonathan+meese+bilder&
tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwjqy5LKqJLfAhWCK1AKHeWoBWAQs-
AR6BAgFEAE&biw=1679&bih=909). „Er setzte sich demonstrativ mit mythischen Stoffen auseinander,
die in der zeitgenössischen Kultur mit Ambivalenz besetzt sind. Allerdings […] beharrt er in seinen Interventionen
auf einem elitären Verständnis von Kunst, womit er an die Sonderrolle der >hohen Kunst< anschließt.
Dieses steigert er zum gestischen Postulat einer >Diktatur der Kunst<. die er nicht nur fordert, sondern als
deren Prophet er auftritt. Sein Begriff >Diktatur< steht in Spannung zu der mit dem Künstlerhabitus verbundenen
>Freiheit der Kunst<, die Meese für seine Arbeit selbstverständlich reklamiert […]. Meese arbeitete
systematisch an seiner Profilierung als Künstler innerhalb selbstgeschaffener Freiräume. Dem diente beispielsweise
ein >Dialog< mit Joseph Beuys […] in seiner Ausstellung >Erzstaat Atlantisis< 2009 im Arp
Museum Rolandseck […]. Ein in einer Kinderhandschrift geschriebener Text repräsentiert in infantiler Anmutung
die Brechung der Emphase des Künstlerhabitus durch Banalisierungen: »Ziel der Kunst: Ihre Herrschaft.
In der Kunst kann nur ihre Herrschaft angestrebt werden, also >Diktatur der Kunst<. Ein Mensch, der
sich selbst mit der Kunst verwechselt, begeht >Hochverrat< an der Kunst. Kunst ist totales Nervenspiel. Totale
Kunst ist totale Schlüpferrevolution.«
Sein radikaler Gestus von demonstrativen subjektiven Setzungen (>Es interessiert mich nicht<) ist gleichzeitig
auf die Thematisierung von Kunst und Künstlerhabitus wie auf die ästhetische Bezugnahme zur deutschnationalen
Symbolwelt gerichtet, mit der sich die politischen Mythen im kollektiven Unterbewusstsein des
Publikums verbinden. Entscheidend für Meeses Wirkung sind jedoch nicht die zwei- und dreidimensionalen
Werke. Vielmehr versteht er es, in performativen Auftritten mit markantem Outfit und schnellen Sprachbögen
die Aufmerksamkeit der Zuhörer an sich zu binden. Seine Assoziationsketten kreisen um und enden mit
Kunst: »Kunst ist Spiel, Kunst ist Maskenspiel. Kunst ist Bühne, größer als Politik«. Es sind literarische Setzungen
dieses Autorschauspielers mit apodiktischer Absolutheit, die in ständigen Kehrtwendungen und Widersprüchen
[…] das Mitdenken des Zuhörers zu einer Herausforderung durch das Absurde, Groteske und
Traktierte machen […]. Seine […] Beziehung zu seiner Mutter […] bildet einen Gegenpol zur demonstrativen
Eigenständigkeit im Habitus des modernen Künstlers“ (Wolfgang Ruppert S. 349 ff.).
Ob Meese den in der reflexiven Moderne des anfänglichen 21. Jahrhundert anstehenden ästhetischen Neuformulierungen
der Symbol- und Bildwelt über den Kreis seiner treuen Anhänger und erklärten Gegner hinaus
gerecht wird, wird sich in ein, zwei oder drei Jahrzehnten gezeigt haben.
ham, 8. Dezember 2018
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