Publikation zur gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen vom 21. Juli – 21. Oktober 2018,
herausgegeben von Otto Letze und Nicole Fritz mit einem Vorwort der Herausgeber und Essays von
Nicole Fritz, Franklin Hill Perrell und Otto Letze
Kunsthalle Tübingen, Institut für Kulturaustausch Tübingen, Hirmer Verlag, München, 2018,
ISBN 978-3-7774-3186-4, 144 Seiten, 70 Abbildungen, Klappenbroschur, Soft-Touch-Einband,
Format 21 x 21,5 cm, € 29,90 (D) / € 30,80 (A) / CHF 36,80
Als Duane Hansons Skulptur Putzfrau, 1972, Öl, Polyester, Kleidungsstücke, Kunsthaarperücke, Eimer,
Putzlappen, 81 x 117 x 95 cm (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/
einzelansicht/sgs/werk/einzelansicht/BBFC3B384BAF57A78E5F0DA0DF7E1901.html) ihren Platz in der
Staatsgalerie Stuttgart gefunden hatte, soll ein Wachmann bei seinem nächtlichen Rundgang pflichtschuldigst
den Notarzt alarmiert haben, als er eine leblose Putzfrau in einem der Schauräume entdeckt hat. „Und erst
bei Reanimationsversuchen habe sich herausgestellt, dass das Opfer aus unverwüstlichem Polyvinylacetat
gegossen war“ (Hans Joachim Müller, Echt oder nicht? In: DIE ZEIT, 04/1996, https://www.zeit.de/1996/04/
Echt_oder_nicht_).
Hansons jüngst in der Kunsthalle Tübingen gezeigten lebensgroßen Skulpturen Cowboy with Hay, 1984 –
1989 und Bodybuilder, 1990, beide Bronze, farbig bemalt mit Öl, Mischtechnik, Accessoires haben ebenso
wenig wie die andern 28 hyperrealistischen Skulpturen in der von der Kunsthalle und dem Institut für
Kulturaustausch organisierten Ausstellung Almost Alive (vergleiche dazu unter anderem https://
www.youtube.com/watch?v=F6gpngVDCE4) einen Notarzt gebraucht und es ist auch nicht überliefert, dass
Wachleute versucht haben, einen Notarzt zu rufen. Die Ausstellung hat den weltweit ersten Überblick über
die Entwicklung dieser Skulpturengattung in den letzten fünfzig Jahren ermöglicht. Mit Werken von
Künstlern wie Zharko Basheski (Mazedonien), Berlinde De Bruyckere (Belgien), Maurizio Cattelan (Italien),
Carole A. Feuerman (USA), Robert Gober (USA), Ron Mueck (Australien), Patricia Piccinini (Australien),
Gregor Schneider (Deutschland) und George Segal (USA) spiegelt die Ausstellung das kulturelle Leben und
die wechselnden Körperkonzepte ihrer Entstehungszeit.
So reflektiert die Kunstfigur Mathilde, Mathilde 1999, Soundskulptur, Dummy mit Lautsprechern, Radio,
CD-Player, Einkanalvideo, DV, 4:3, 178 x 60 x 35 cm (vergleiche dazu https://www.google.de/search?
q=Mathilde+ter+Heijne,
+Mathilde&sa=X&tbm=isch&tbo=u&source=univ&ved=2ahUKEwjUutra7qveAhXO2qQKHdkeBggQsAR
6BAgFEAE&biw=1546&bih=910#imgrc=4av2-EuEmuHHNM:) von Mathilde ter Heijne „ein
masochistisches Frauenbild, das insbesondere in französischen Filmen von François Truffaut, Jean-Claude
Brisseau oder Patrice Leconte häufig anzutreffen ist. Nach immer demselben Muster begehen darin die
Protagonistinnen nach einer unglücklichen Liebesbeziehung mit einem Mann Selbstmord. Indem ter Heijne
die nicht selten zerstörerischen Muster an ihren eigenen künstlichen Doubles wie in Mathilde, Mathilde,
1999 […] stellvertretend ausagiert, stellt sie die Geschlechterstereotypen nicht nur in Frage⟨,⟩ sondern macht
⟨sie⟩ dadurch, dass sie die Geschlechterklischees stellvertretend für das Publikum wiederholt, auch bewusst.
>Mich hat sehr früh […] das Verhältnis von Innen- und Außenleben interessiert, der Spalt dazwischen, und
was ›Menschsein‹ bedeutet …<, so die Künstlerin, > … Dazu kommt das Moment der kulturellen Differenz,
die Frage, was gehört zu mir, und was kommt von außerhalb<“ (Nicole Fritz / Mathilde der Heijne S. 60).
John deAndrea setzt dagegen in seiner Lisa, 2016, Bronze, farbig bemalt mit Öl, Echthaar, 31 x 170 x 91 cm
(vergleiche dazu https://www.focus.de/fotos/die-lisa-aus-dem-jahr-2005-von-john-de-andrea-wirkt-fastecht_
id_5434084.html) auf „die Illusion tatsächlicher physischer Präsenz eines lebendigen Gegenübers.
DeAndrea verfolgt, wie Duane Hanson, das Prinzip des menschlichen Doppelgängers. Im Gegensatz zu den
sozialkritischen Aussagen Hansons sind seine Arbeiten jedoch Auseinandersetzungen mit menschlicher
Körperlichkeit, im Sinne der Ideale der klassischen Antike“ (Katalog S. 78, vergleiche dazu auch http://
www.artnet.com/artists/john-deandrea/).
Dass die Ausstellung ein Publikumserfolg werden würde, war schon bei der überfüllten Eröffnung
abzusehen. Am Ausstellungsende konnten 35 000 Besucher gezählt werden. Was bleibt ist der klassisch
gestaltete, glänzend gedruckte und hoch informative Katalog.
ham, 29. Oktober 2018
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