Publikation zu den Ausstellungen vom 2. Juni bis 9. September 2018 in der Kunsthalle Mannheim und vom
5. Oktober 2018 bis 6. Januar 2019 im Mudam Luxembourg, Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean,
herausgegeben von Sebastian Baden, Christophe Gallois, Ulrike Lorenz, Clément Minighetti mit Texten von
Davide Campany, Jean-François Chevrier, Suzanne Cotter, Bernd Stiegler und den Herausgebern
Kunsthalle Mannheim / Mudam Luxembourg / Edition Cantz, Esslingen, ISBN 978-3-947563-08-1, 144
Seiten, ca. 60 Farbabbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 32,5 x 28,5 cm, € 29,80
Der 1946 in Vancouver geborene Jeff Wall gilt als Klassiker der zeitgenössischen Kunst, Pionier der
Konzeptfotografie und als einer der „langsamsten“ Fotografen: Er nimmt sich für alle Arbeiten genau wie ein
Bildhauer die Zeit, die sie brauchen, bis sie fertig sind. Er ist mit großformatigen, an die Werbefotografie
angelehnten Leuchtkästen und aufwendig inszenierten Aufnahmen weltbekannt geworden. Viele dieser
Aufnahmen wurden zu Ikonen der Fotografie, darunter ›The Destroyed Room‹, 1978, 159 x 234 cm, ›Picture
for Women‹, 1979, 163 x 229 cm und ›After ‘Invisible Man’ by Ralph Ellison, The Prologue, 1999 – 2001,
174 x 250,5 cm (vergleiche dazu http://artlead.net/content/journal/modern-classics-jeff-wall-destroyedroom-
1978/ und https://www.moma.org/learn/moma_learning/jeff-wall-after-invisible-man-by-ralph-ellisonthe-
prologue-1999-2000-printed-2001).
Seit 1967 hat er keine 200 Werke veröffentlicht. Damit nimmt er eine Gegenposition zur Bilderfülle und den
schnell wechselnden Moden der Facebook- und Instagramgeneration ein. Neben seinen Leuchtkästen stehen
Schwarz-Weiß-Fotografien wie ›Passerby‹, 1996, silver gelatin print, 250 x 339,5 cm (vergleiche dazu etwa
https://www.artsy.net/artwork/jeff-wall-passerby) und farbige C-Prints wie ›Listener‹, 2015, Inkjet print,
159,4 x 233 cm (vergleiche dazu https://www.kuma.art/sites/default/files/Arbeitsblaetter/ly_ab-jeffwallkurs_
20180703.pdf). Der zu den Ausstellungen in Karlsruhe und Luxembourg erschienene Katalog bringt
Wall-Klassiker mit Arbeiten unter anderem aus seiner Privatsammlung zusammen, die bisher selten in
Ausstellungen gezeigt worden sind.
Der studierte Kunsthistoriker Wall geht davon aus, dass sich Menschen ein Leben lang selbst ein Rätsel
bleiben und alle großen Bildproduzenten genau diesen Punkt offenlegen. Für Ulrike Lorenz ist er einer dieser
Großen. „Walls […] Kompositionen lassen sich schwerlich mit einer spontanen, improvisierten oder
zufallsgesteuerten Fotopraxis in Verbindung bringen“ (Jean-François Chevrier S. 87). Sie stehen zwischen
Konstruktion, Dokumentation und Erzählung. Nach Walls Auffassung können Fotografien zwar keine
Erzählung ersetzten. Aber das hält ihn nicht davon ab, sie narrativ aufzuladen. Die Rätselhaftigkeit und
Mehrdeutigkeit seiner fotografierten Szenen wird durch „die eine wesentliche Ebene der Mehrdeutigkeit
verdoppelt, die die Natur des Bildes selbst betrifft. Das Rätsel beschränkt sich keineswegs auf das Sujet,
sondern durchdringt das gesamte Bild und rührt an das, was es grundlegend bestimmt: sein zugleich
indexikalischer und gestellter Charakter, seine Beziehung zur Welt, seine zeitliche Dimension, der Raum,
den es dem Blick und der Interpretation des Betrachters eröffnet. Das ist die Bedeutung des Begriffs
Appearance, den Wall als Titel seiner Ausstellung […] gewählt hat. In dem doppelten Sinne, den es im
Englischen hat, bezeichnet das Wort sowohl das Aussehen und das Erscheinen von Gegenständen,
Handlungen, Phänomenen und Personen als auch den Prozess, vermittels dessen sie sich durch das Bild dem
Blick darbieten und in Erscheinung treten“ (Sebastian Baden / Christophe Gallois / Clément Minighetti S. 13
f.).
Wall begreift sich in der Tradition von Charles Baudelaire als ›Maler des modernen Lebens. Für Bernd
Stiegler ist diese Selbst- und Positionsbestimmung ebenso originell wie kompliziert, „da zum einen
Baudelaires Verdikt gerade gegen die Fotografie, der er die Fähigkeit zu künstlerischer Einbildungskraft
abspricht und die er ins Reich der götzendienerischen Imitation verdammt, zu den berühmtesten der
Geschichte gehört und zum anderen damit eine Moderne reaktualisiert wird, die mit den
Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts ebenso wenig zu tun hat wie mit deren postmodernen
Erscheinungen. Baudelaires und Walls Deutung der Moderne ist dabei eine doppelte. Auf der einen Seite
verpflichtet sie den modernen Künstler auf die Gegenwart, andererseits auf eine zeitlose ästhetische
Gültigkeit seiner Bilder. Denn auch Wall […] ist […] »nach etwas auf der Suche, das die Modernität zu
nennen man mir [Baudelaire] erlauben möge; da es nun einmal kein besseres Wort gibt, für das, was mir
vorschwebt. Für ihn [Guys] geht es darum, der Mode etwas abzugewinnen, was sie im Vorübergehenden an
Poetischem enthält, aus dem Vergänglichen das Ewige herauszuziehen«“ (Bernd Stiegler / Jeff Wall S. 102).
Der in der Edition Cantz erschienene klassisch erarbeitete und gestaltete Katalog wird der von Wall
angestrebten Versöhnung der zwei Seiten der Moderne voll und ganz gerecht: ihrer Öffnung hin zur
Aktualität und ihrer zeitlosen Gültigkeit.
ham, 27. August 2018