Studien zu einer postsäkularen Theorie des Kirchenraums
Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2017, ISBN 978-3-374-04832-8, zahlreiche farbige Abbildungen,
Klappenbroschur, Format 23 x 15,5 cm, € 34,00
Für den 1998 verstorbenen Praktischen Theologen und langjährigen Leiter des Deutschen Evangelischen
Kirchbautags Rainer Volp war Kunst die Sprache der Religion und die Diskussion des Verhältnisses von
autonomer Kunst, Kultur und Religion eines der zentralen Lebensthemen (vergleiche dazu etwa Rainer Volp,
Religiöse Erfahrungen in der aktuellen Kunst. In: Die Kunst und die Kirchen, hgg. von R. Beck, R. Volp und
G. Schmier, München 1984, Seite 180–196 und Rainer Volp, Lebenskunst und Kunstbetrieb. In: R. Bürger,
H.A. Müller, Rainer Volp (Hg.), Kirche im Abseits? Zum Verhältnis von Religion und Kultur, Stuttgart 1991,
S. 64–80).
Ich selbst habe 2005 in meinem Vortrag „Spirituelle Erfahrungsräume. Warum brauchen die Kirchen Kunst,
wenn es doch Museen gibt und Museen Spiritualität, wenn es Kirchen gibt?“ in der Kunsthalle Baden-Baden
(vergleiche dazu Helmut A. Müller, Spirituelle Erfahrungsräume. In: Mitteilungen der Gesellschaft für
Gegenwartskunst und Kirche Artheon Nr. 23, Juni 2006, S. 26- 31: http://www.artheon.de/fileadmin/bilder/
download/Mitteilungen/Artheon23.pdf) vorgeschlagen, die ästhetischen, naturwissenschaftlichen und
religiösen Zugänge zur Wirklichkeit in spirituelle Erfahrungsräume einzuzeichnen. Spirituelle
Erfahrungsräume laden zu wechselseitigen Grenzüberschreitungen und der Verschränkung von ästhetischen,
naturwissenschaftlichen und religiösen Erfahrungen ein. Sie bringen die üblichen Sichtweisen und Begriffe
ins Fließen. Ich bin von offenen Begriffsbildungen ausgegangen und davon, dass künstlerisches Schaffen,
naturwissenschaftliche Forschung und theologischer Umgang mit Erfahrungen von Gott, Mensch und Welt
insofern vergleichbar sind, „als es allemal um den Diskurs über den Umgang mit diesen Erfahrungen geht.
Es kommt auf den Prüfstand, was in der Welt wahrgenommen wird […]. Unter Spiritualität will ich […] die
innere geistige Kraft verstehen, die es erlaubt, das Leben in seiner Fülle und Ganzheit zu verstehen“ (Helmut
A. Müller, a. a. O. S. 26).
Nach diesem auf Georg Picht und A. M. Klaus Müller zurückgehenden Denkmodell gehört der Blick über
den eigenen Horizont hinaus zur Conditio Humana. Kunst bringt Alternativen zur überkommenen
naturwissenschaftlichen „Wahrnehmung ins Spiel, gibt diesen Alternativen in aller Regel eine materielle,
sinnlich fassbare Gestalt und macht sie dadurch besprechbar. Religion stellt Erfahrungsräume in Rechnung,
die jede mögliche Vergangenheit und Zukunft überschreiten. Sie vertraut darauf, dass der menschliche Blick
und Zugriff auf die Welt nicht der letzte mögliche ist. Liturgie, Symbol und Ritual, gottesdienstliche Feier,
gelebte Frömmigkeit, Spiritualität und nicht zuletzt die »heiligen« Räume bringen die Zuversicht ins Spiel,
dass über Mensch und Welt noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Beide, Kunst und Religion, beziehen
sich auf die Frage nach dem Sinn und halten sie offen“ (Helmut A. Müller a. a. O. S. 26).
Thomas Erne setzt begrifflich und sachlich noch einmal neu an, wenn er die in den räumlichen Grenzen von
Kirchen auch von areligiösen Flaneuren und Kunstkennern erfahrbare Entgrenzung als eine zuerst
„ästhetische Erfahrung von Transzendenz“ (Thomas Erne S. 9) und Kirchen als hybride Räume der
Transzendenz bestimmt. „Kirchen als hybride Räume der Transzendenz umfassen […] sowohl den
kontinuierlichen Übergang der ästhetischen in eine religiöse Form der Transzendenz wie auch die kritische
Distanz und Montage heterogener Momente“ (Thomas Erne S. 18). Erne greift in seiner Begriffsbildung auf
das Konzept des von Homi K. Bhabha vorgeschlagene dritten Raums zurück. „Der dritte Raum ist ein Ort
des Schwebens. Hier sind Fragen der Zugehörigkeit zu Ethnien, Milieus, Religionen und Klassen für eine
bestimmte Zeit außer Kraft gesetzt. Zwischenräume sind kein leerer Raum zwischen Dingen. Die räumliche
Metapher, die Homi Bhabha für diesen dritten Raum gebraucht, ist daher das Treppenhaus. In einem
Treppenhaus bewegt man sich in einem Raum zwischen oben und unten, innen und außen. Für die Zeit des
Aufenthalts […] gelten […] die distinkten Zuordnungen nicht mehr. Solche Zwischenräume einer zeitlich
begrenzten Suspension von Regeln und sozialen Ordnungen in Zonen des Übergangs nennt Homi K. Bhabha
hybride Räume […]. Auch die christliche Religion hat ihre hybriden Räume. Gewissermaßen die
Treppenhäuser des Christentums sind seine Kirchen“ (Thomas Erne S. 18 f.). Ihr Potential liegt für Erne
heute nicht mehr in erster Linie in ihrer Ausgrenzung aus dem Alltag und in ihrer Schutzfunktion, sondern
darin, dass sie soziale, ästhetische und religiöse Differenzen in der Schwebe halten. „Hybrid sind Kirchen im
Blick auf die Überlagerung von ästhetischen und religiösen Formen, die jede für sich als ein bestimmter und
in sich vollständiger Fall von Transzendenz verständlich gemacht werden kann“ (Thomas Erne S. 21).
Im nachsäkularen Kirchenbau verstehen sich Kirchen dann nicht mehr vornehmlich vom Modell der Kirche
als dem Haus Gottes her und auch nicht mehr als Orte, an denen sich die Gemeinde zum Gottesdienst
versammelt. Damit baut auch nicht mehr länger die Liturgie die Kirche. Ins Zentrum rückt jetzt die mit der
autonomen künstlerischen Form gegebenen Selbsttranszendenz. Die von Le Corbusier ausdrücklich als
Kunstwerk gebaute Kapelle von Ronchamp markiert den Übergang. In Ronchamp fundiert nicht mehr „die
Liturgie […] die Architektur, sondern die autonome Baukunst ist die Grundlage für die starke Aura und die
liturgische Funktion“ (Thomas Erne S. 84). Damit werden Kirchen zu Orten der Daseinserweiterung
(Thomas Erne S. 122 ff.). Wozu brauchen wir heute also noch Kirchen? Für Erne einmal nach wie vor für
Gottesdienste, auch wenn die Zahl der Gottesdienstbesucher sinkt. Dann aber auch und vor allem, weil „viele
Menschen sie brauchen. Kirchen sind als Bauwerke eine Heimat, ein Ort der Daseinserweiterung für
Besucher, die den Raum ästhetisch erleben. Kirchen werden gebraucht als ein domus hominis spiritualis et
äesthetici. […]. Sie sind ein öffentlicher Ort, wo Menschen mit dem Raum und seiner Aura eine Weitung
und Überschreitung ihres Daseins verbinden, die sie nicht mehr, jedenfalls nicht mehr ausschließlich, religiös
interpretieren“ (Thomas Erne S. 37).
Die Kirche im Internet ist aber „vermutlich die Zukunft […]. Was macht das Internet für die Kirche so
attraktiv? Es bietet neue, ungeahnte Möglichkeiten der religiösen Kommunikation, eine neue Form von
Kirche, eine ecclesia virtualis sui generis. Der Geist einer alle Grenzen der Sprache und Kulturen
überwindenden Verständigung, der an Pfingsten […] in den ersten Christen brannte, findet im Internet seine
postmoderne Erfüllung […]. Ich würde […] die Kirche im Internet eine Religionssimulation nennen, eine
Bühne für religiöses >Probedenken und Probehandeln< […]. Bei solchen Glaubens-Simulationen bleibt
offen, ob sie durch authentischen Vollzug im realen Leben ratifiziert werden, und zwar deshalb, weil sie im
>Vermöglichungs-Raum< des Internets durch einen authentischen Vollzug überhaupt nicht ratifiziert werden
können […]. Die Cyber-Churches im Cyberspace erzeugen einen Bedarf an realen Kirchen und an
engagiertem Religionsvollzug an konkreten Orten […]. Kirchen sind und waren immer auch virtuelle
Räume, die etwas vergegenwärtigen, das ein immaterielles Versprechen ist, wie das himmlische Jerusalem
oder der Leib Christi. Aber unter den Bedingungen der neuen Medien wird die virtuelle Räumlichkeit zu
einer eigenständigen Form der Transzendenz, eben eine ecclesia virtualis sui generis. Zwischen dieser
virtuellen Kirche und den realen Kirchen entsteht ein neuer Hybridraum der Transzendenz, in dem sich
hybride Formen von religiöser Realität und religiöser Simulation überlagern, ergänzen und irritieren. Die
Kirche wird in Zukunft als ein Hybridraum der Transzendenz diesen virtuellen Raum umfassen. Es werden
hybride Formen entstehen, wo der liturgisch-reale Raum leiblicher Präsenz und der liturgisch-virtuelle Raum
leiblicher Diskretion miteinander koalieren oder auch kollidieren. Die modernen Medien werden die
Sehnsucht nach dem materiellen Kirchenraum als Kontraktion oder als Kompensation der virtuell
enthemmten religiösen Kommunikation immer wieder aufs Neue hervortreiben“ (Thomas Erne S. 223 ff.).
ham, 6. Juli 2017
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