Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 14. Oktober 2016 – 26. März 2017 im Haus der Kunst in
München. Herausgegeben von Okwui Enwezor, Katy Siegel und Ulrich Wilmes mit Texten unter anderem
von Dipesh Chakrabarty, Yasufumi Nakamori, Galia Bar Or, Damian Lentini, Walter Grasskamp und den
Herausgebern

Haus der Kunst / Prestel Verlag, München 2016, ISBN 978-3-7913-5583-2, 848 Seiten, 816 Abbildungen,
Leinen gebunden mit Prägedruck, Format 29,6 x 23,9 cm, € 69,00 (D)

Die 2014 vom Haus der Kunst in München in Zusammenarbeit mit der Tate Modern, London, dem Institut
für Kunstgeschichte, LMU München, und dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München verantwortete
viertägige Konferenz Postwar wollte die künstlerischen Kräfte und das kulturelle Erbe nach dem Zweiten
Weltkrieg nach eigenem Bekunden so analysieren, dass die prägenden indigenen Wurzeln, Antriebe und
Motive und das kulturelle Erbe der Kunstproduktion seit 1945 im globalen Kontext sichtbar werden. Dafür
haben die knapp vierzig Referenten der Konferenz den nach dem Krieg dominierenden eurozentrischen und
westlich-amerikanischen Blick hintangestellt und den Schwerpunkt auf eine polyphone und multifokale
Betrachtungsweise der Kunst verlagert (vergleiche dazu http://postwar-conference.hausderkunst.de/
index.php/konferenzen/konferenz-mai-14/, abgerufen am 15.12.2016). In der Kunstgeschichtsschreibung der
Nachkriegszeit hatte sich bekanntlich die schlichte Lesart durchgesetzt, dass nach dem Kriegsende Kunst
nicht mehr in Europa, sondern in den USA zu Hause ist und der Abstrakte Expressionismus und die Pop Art
die europäische Abstraktion und die expressive Figuration abgelöst haben. Mit der Aufteilung der Welt in
eine kapitalistische und eine kommunistische Einflusssphäre, dem Kalten Krieg und der politisch
aufgeladenen Parole Freiheitliche Demokratie versus Sozialismus hat sich die allzu grobe Zweiteilung der
künstlerischen Produktion in die Abstraktion im Westen und den Sozialistischen Realismus im Osten in den
Köpfen verfestigt. Die spannende und bisher ungelöste Frage ist, wie der alternative Kanon aussehen müsste,
der Regionalität und Universalität in einer global gedachten Moderne ausgleichen und die bisher
dominierenden Dualismen überwinden kann.

Nach dem Bericht von Kia Vahland im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung war auch nach der Postwar-
Konferenz mit „einem alternativen Kanon […] nicht zu rechnen. Zu divers ist das, was in den
Nachkriegsjahren in Ateliers, Akademien und im öffentlichen Raum geschah. Indische Künstler etwa
reagierten um 1950 weniger auf westliche Impulse als vielmehr auf sowjetische Kunst, die in den großen
Städten gastierte (Devika Singh). In Jugoslawien experimentierten Künstler mit naturkundlichen Ansätzen,
um nebenbei auch die Wissenschaft zu humanisieren (Armin Medosch). Türkische Künstler verbanden auf
der Brüsseler Weltausstellung von 1958 virtuos volkstümliche und modernistische Formensprache (Burcu
Dogramaci). Und in Bagdad schwärmte eine Künstlergruppe 1950, eine angewandte Moderne könne im Irak
»von menschlichen Massakern, von der Distanz zwischen Mensch und Gott zeugen« (Nada Shabout)“ (Kia
Vahland, Wir bauen die neue Welt. In: http://postwar-conference.hausderkunst.de/wp-content/uploads/
2014/07/SZ_Postwar_Wir_bauen-die-neue-Welt.pdf, abgerufen am 15.12.2016.). Andere wie der Kubaner
Gerardo Mosquera haben den Begriff Postwar rundweg abgelehnt und an brasilianische Fortschrittsutopien
in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und die Parole „Wir bauen die neue Welt“ erinnert (Kia Vahland. a.
a. O.).

Auch die auf der Konferenz aufbauende und seit 14. Oktober 2016 im Haus der Kunst in München gezeigte
Ausstellung Postwar ist mit ihren 350 Kunstwerken von 200 Künstlern aus 52 Ländern in der Frage eines die
universalen und regionalen Bezüge der globalen Moderne angemessen abbildenden alternativen Kanons
nicht wirklich weitergekommen. Sie kann zwar die Fülle der Exponate in folgende acht thematische
Abteilungen gliedern: 1. Nachwirkungen: Die Stunde Null und das Atomzeitalter ; 2. Form ist bedeutsam; 3.
Neue Menschenbilder; 4. Realismen; 5. Konkrete Visionen; 6. Kosmopolitische Moderne; 7. Formsuchende
Nationen; 8. Netzwerke, Medien & Kommunikation. Aber sie kann und will „keine neue Landkarte
abbilden“, und dies mutmaßlich deshalb, weil es keine Einigung über gemeinsam getragene Kriterien gibt,
die einem neuen Kanon zugrunde liegen müssten. Sie begnügt sich statt dessen mit den Verknüpfungen der
in den zwei Jahrzehnten nach 1945 zwischen Pazifik und Atlantik entstandenen Kunst und will die Probleme
aufzeigen, „die den ungleichen Austausch zwischen dem Westen und dem Rest geformt haben. Auf der einen
Seite liefert sie, trotz aller Einschränkungen, einen Überblick über die kreative Vitalität und das Potenzial
von Kunst, über den Weg, den die Künstler jener Zeit beschritten, sowie über deren Experimente mit Formen
und Materialien. Das beinhaltet die Veränderungen innerhalb der ästhetischen Systeme und in der Logik der
künstlerischen Produktion, als mit neuen Ideen und Bewegungen, Technologien und Techniken die Sujets,
Strategien und Sprachen der zeitgenössischen Kunst neu definiert werden konnten. Zur gleichen Zeit
markieren die Nachkriegsjahre einen kritischen Zeitpunkt in der Kunst weltweit: die schwindende Macht
europäischer Kunst darin, die Agenda des globalen Kunstdiskurses zu bestimmen, und der Aufstieg der
Hegemonie der amerikanischen Kunst. Gleichzeitig entstand eine künstlerische Weltlichkeit, in der sowohl
transnationale und entkolonialisierte Subjektivitäten als auch solche in der Diaspora neue Wege des
künstlerischen Diskurses bestritten. Vor diesem Hintergrund baut diese Ausstellung auf die Prämisse eines
globalen Bildes des künstlerischen Schaffens in den beiden betrachteten Dekaden“ (Okwui Enwzor S. 38).
Aber wie kann Enwezor in Postwar an der Prämisse „eines“ auf eine „breite Leinwand“ zu zeichnenden
„globalen Bildes“ festhalten und im selben Atemzug „keine neue Landkarte“ (Okwui Enwezor ebenda)
abbilden wollen? Und, wie schon gesagt: An wem und an was sollen sich die von ihm angestrebte
Spurensuche und Reflexion orientieren, wenn der alternative Kanon, seine Kriterien und die globale
Perspektive allenfalls vage erahnbar bleiben?

Enwezor kann zwar, und das zeichnet Postwar ebenso aus wie die parallel im ZKM Karlsruhe gezeigte
Ausstellung Kunst in Europa 1949 – 1968, Kunstwerke nebeneinander präsentieren, die man bisher nie
nebeneinander gesehen hat. Aber die Überfülle der so bisher nicht gesehenen Arrangements und die Vielzahl
der Exponate überfordern nahezu jeden Besucher. Im Ergebnis bleiben deshalb die schon oft gezeigten und
gesehenen big pieces visuell und mit dem Namen der Künstler in Erinnerung, so beispielsweise aus der
ersten Abteilung Francis Bacons Fragment einer Kreuzigung von 1950, Frank Stellas Arbeit Macht Frei von
1958 und Karel Apples Hiroshima-Kind von 1958, aber Andrzej Wróbleskis Hingerichteter Mann,
Hinrichtung mit Gestapomann von 1949, Imi und Yoshi Markus Feuer, Tafel II der Hiroshima-Tafeln von
1950, Enrico Bajs Manifesto Nuclear BUM von 1951 und Igael Tumarkins Aggressivität von 1964/65
allenfalls visuell. Vor diesem Hintergrund könnte der zur Ausstellung erschienene Katalog die Chance bieten,
die Autoren und die kulturellen Hintergründe der bisher wenig bekannten Arbeiten nachzurecherchieren und
sie vor dem eigenen inneren Auge mit den bekannten Arbeiten zusammenzudenken. Aber auch dieser Weg ist
alles andere als bequem. Er erfordert bei fünf einleitenden Essays, einem Bildessay und einer Chronologie
der sozialen und politischen Ereignisse der beiden Nachkriegsjahrzehnte, ganzseitigen Einleitungen in die
acht Abteilungen und über 30 Einzeluntersuchungen wie der zur historischen Logik des chinesischen
Nationalistischen Realismus der 1940er– bis 1960–er Jahre intrinsische Motivation, Sitzfleisch und eine
buchstäblich starke Hand: Der Katalog gehört zu den Schwergewichten seiner Art und wiegt nicht weniger
als 4,5 Kilogramm. Deshalb ist an ein entspanntes Lesen im Liegen nicht zu denken und auch nicht daran,
dass man die allesamt herausragenden Einzeluntersuchungen in einem Zug durcharbeiten und mit den
abgebildeten Exponaten zusammenbringen kann.

Catherine Grenier hat die Sammlung des Centre Pompidou schon 2012/13 unter dem Titel Modernités
plurielles neu geordnet und dabei über 1000 Werke von 400 Künstlern aus 47 Ländern im Kontext einer
weltumspannenden Moderne präsentiert. Damit nahm sie den Versuch von Postwar, die Kunstgeschichte im
Horizont der globalen Moderne nachzuzeichnen, im musealen Kontext vorweg. Bei der Vorbereitung dieser
Präsentation war gefragt worden, was gezeigt werden, wie es präsentiert und wie das Gezeigte
weiterentwickelt werden soll. Üblicherweise, so Grenier, orientiere man sich bisher an dem von Alfred H.
Barr am Museum of Modern Art in New York entwickelten chronologischen und genealogischen Modell, das
das historischen und geografischen Kriterien folgende „Louvre-Modell“ in den meisten westlichen Museen
abgelöst hat. Die museal präsentierte Geschichte der Kunst mag zwar objektiv erscheinen, „ist in der Tat
jedoch ein intellektuelles Konstrukt, eine Geschichte, die die Institution legitimiert. Eine chronologische
Präsentation liefert keine weit(er)gehende Garantie für Objektivität als eine interpretative Erzählung, da sie
aus einem System von Einbeziehungen und Ausschlüssen hervorgeht, das zudem auf kritisierbaren Kriterien
basiert. Die Geschichte künstlerischer Neubewertungen hat uns gezeigt, dass diese Kriterien keineswegs
universal und unveränderlich sind […]. Hervorgehoben werden jene Künstler, deren Werk dem etablierten
Kanon entspricht und die aufgrund ihrer Beteiligung an diesen modernen Strömungen einen Platz in der
kollektiven Geschichte einnehmen […]. Postkoloniale Studien haben die westlich zentrierte Kunstgeschichte
kritisch hinterfragt und eine neue Anerkennung für Kunstformen der nicht westlichen Länder und der bislang
als „Peripherie“ geltenden Regionen bewirkt. Kultur- und Bildwissenschaften haben ebenso dazu
beigetragen, Hierarchien umzustoßen und einen anderen Blick auf die unterschätzten Bereiche zu werfen
[…]. Die Reintegrationen in eine Gesamtsicht der Welt hinterfragt die westliche Klassifizierung und deren
Verständnis von Kunst. Diskriminierende Kriterien – wie »modern«, »anti- modern«, »bahnbrechend«,
»verspätet«, »bedeutend«, »unbedeutend« – verlieren ihre Legitimität. Es wurde eine neue Dynamik erkannt,
die die Verachtung für die Kunst der »unterentwickelten« und »provinziellen« kulturellen Regionen beendet.
Das Studium von Einflüssen wurde durch Studien zu Austausch, Transfer und Opposition abgelöst.
Komplexität wurde wieder eingeführt und betont. Das Hybride und Heterogene hat seine positive Bedeutung
zurückerlangt“ (Catherine Grenier, Modernités plurielles: Die Geschichte einer weltumspannenden
Moderne, S. 568 f.).

Damit sind mögliche Kriterien, die den Blick auf die globale Moderne leiten könnten, zumindest benannt
und zur Diskussion gestellt. Aber es ist überdeutlich, dass sich mit diesen Kriterien keine von
Mehrheitsmeinungen geteilte einsinnige, einlinige und einheitliche Kunstgeschichte mehr schreiben lässt.
Und genau deshalb wird es weder heute noch in Zukunft eine wie auch immer breite Leinwand geben, auf
der sich auch nur die mit Notwendigkeit mehrsinnigen, deutungsoffenen und pluralen Entwürfe der noch zu
schreibenden Kunstgeschichten der globalen Moderne nachzeichnen lassen.

ham, 16. Dezember 2016

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