Publikation zu den Ausstellungen vom 31. 3. bis 1.7. 2012 im Kunstverein Ludwigshafen, vom 23. 3. bis
28.4. 2013 in den Flottmann – Hallen Herne und vom 10. 6. bis 28.9.2014 im DA, Kunsthaus Kloster
Gravenhorst, herausgegeben von Gerd Andersen, Bettina Bürkle und Klaus Illi mit Texten von Dirk Manzke,
Hans Magnus Enzensberger und den Herausgebern
Kerber Verlag Bielefeld 2014, ISBN 978-3-7356-0013-4, 112 Seiten, 106 Farbabbildungen, Hardcover
gebunden, Format 23 x 30,5 cm, € 34.00 / CHF 44,60
Erste Atem und Raum gebende und nehmende kinetische Objekte von Klaus Illi waren vor 20 Jahren unter
anderem in der Ausstellung „Atem. Raum“ in der Hospitalkirche Stuttgart zu sehen. Bettina Bürkle hatte
parallel dazu raumbezogene minimalistische Objekte für den Hospitalhof Stuttgart entwickelt. Seit Ende der
1990er Jahre fließen die Atem- und Raumvorstellungen des Künstlerpaars in gemeinsam projektierte und
realisierte skulpturale Formationen des Windes, des Hauchs und im übertragenen Sinne auch des Atems und
des Geistes ein, die Bürkle und Illi Pflanzen- und Wolkenatem nennen. Der eine Bezugspunkt dieser Kunst,
Natur, Technik, Welt- und Glaubensbilder kreativ verwandelnden orts- und raumbezogenen Formationen ist
geistiger Natur und reicht in die Vorstellungswelt der hebräischen Bibel zurück. Nach 1. Mose 1, 2 schwebte
der Geist Gottes vor der Schöpfung über den Wassern (1. Mose 1, 2). Nach der Erschaffung des Menschen
bläst Gott dem Menschen den Odem in seine Nase ein (1. Mose 1, 27); erst danach wird aus dem Erdling
Adam ein lebendiges Wesen. Wenn Gott den Atem wegnimmt, vergeht der Mensch (Psalm 104, 29). Es
verwundert kaum, dass Gott in dieser Vorstellungswelt in den Wolken erscheint (3. Mose 16, 2), auf den
Wolken daher fährt (5. Mose 33, 26), Gottes Scheitel an den Himmel reicht und sein Haupt an die Wolken
rührt (Hiob 20, 6).
Der andere eher prosaische Bezugspunkt der kinetischen Pflanzen- und Wolkenformationen von Bürkle und
Illi ist technischer Natur: Es sind die Belüftungsanlagen, die die Künstler Ende der 1980er Jahre bei einem
gemeinsamen Studienaufenthalt über den Dächern von New York gesehen hatten. Sie waren für das Paar
„Anlass für zahllose statische Arbeiten und wurden grundsätzlich auch zu Impulsgebern für die Atem-
Arbeiten“ (Bettina Bürkle, Klaus Illi S. 18 f.).
In Ludwigshafen waren weiße Wolkenformationen an der Hallendecke unter den Lüftungsrohren installiert.
Die Betrachter blieben unten auf dem matt reflektierenden Terazzoboden stehen und sahen nach oben. Aus
dieser unteren Ebene wuchsen vier schwarze Stängel „nach oben in den Luftraum und“ streckten „sich wie
heliotrope Pflanzen dem Licht und den Wolken entgegen“ (Bettina Bürkle, Klaus Illi S.19). In den Flottman
– Hallen in Herne wurden die schwarzen Stängel zu Waldformationen in unterschiedlichen Grau- und
Grüntönen erweitert. Sie schienen sich wie unter fliegenden Wolken im Wind zu wiegen. Im Kunsthaus
Kloster Gravenhorst sind rote „Inspirationsschläuche“ an die Stelle der Stängel und der Waldformation
getreten. Man mag an übergroße Hörrohre denken, die auf den Himmel ausgerichtet sind und den Kontakt zu
den Himmel offen halten. Oder an Pfingsten und an die Vorstellung, dass durch Gottes Geist und die
Synthese von Kunst, Kultur und Technik ein neues Verstehen über sonst starre Grenzen hinweg möglich
wird.
Der stringent durchkomponierte Katalog fängt die unterschiedlichen Stimmungen in den drei
Ausstellungshallen in ausgedehnten Bilderstrecken kongenial ein und regt den Leser dazu an, über seinen
aufrechten Gang und seine herausgehobene Stellung zwischen Himmel und Erde nachzudenken.
ham, 30. 5. 2015