Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Band 137, herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte

Walter de Gruyter, Berlin / Boston, 2023, ISBN 978-3-11-079799-2, 684 Seiten, 33 Abbildungen, 2 Tabellen, ein Literatur- und Quellenverzeichnis von 79, ein Personenverzeichnis von fünf und Ortsverzeichnis von zwei Seiten, Hardcover gebunden, mit Schutzumschlag, € 79,95

Nach Albert Schweitzer sind wir Leben inmitten von Leben, das leben will und wir müssen doch zugleich begreifen, dass das Sterben Teil des Lebens ist. Wenn man dem 1981 in Stuttgart geborenen und in Schwäbisch Hall aufgewachsenen Historiker Florian Greiner und seiner mit dem Mieczysław-Pemper-Forschungspreis ausgezeichneten und 2023 unter dem Titel ›Die Entdeckung des Sterbens. Das menschliche Lebensende in der deutsch-deutschen Zeitgeschichte nach 1945‹ Habilitation folgt, mündet der Diskurs um das Sterben im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts letztlich in der Frage, was eigentlich ein ›gutes Sterben‹ ist (vergleiche dazu das SWR-Feature ›Wie selbstbestimmt und würdevoll kann Sterben sein?‹, 18.08.2022, https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/wie-selbstbestimmt-und-wuerdevoll-kann-sterben-sein-100.html).

Nach dem Zweiten Weltkrieg unterlag das Sterben systemübergreifenden Prozessen der Ausdifferenzierung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung, „die ihrerseits neue Deutungskämpfe um das Lebensende verursachten. So traten, nicht zuletzt aufgrund steigender Kosten, zunehmend mehr Akteure und verschiedene Interessen auf das Parkett: Kirchen, Pharmaindustrie, Gesundheitspolitik, Ärzte, Sozialwissenschaftler, Medien sowie neue zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Hospiz- und Sterbehilfebewegung partizipierten allesamt an der Debatte, die immer mehr öffentliche Breitenwirkung entfaltete: Diese ›Entdeckung des Sterbens‹ wird als eine Sonde einer allgemeineren Gesellschaftsgeschichte begriffen, die Aufschluss über politische Zielvorstellungen, kulturelle Konventionen, sozialen Wandel und vorherrschende normative Grundstrukturen gibt“ (Florian Greiner, Zeitgeschichte des Sterbens. In: http://www.floriangreiner.de/forschung). 

Greiner schlägt vor, unter Sterben die Phase menschlichen Lebens zu verstehen, „in dem ein Schwerkranker keine Aussicht auf Heilung mehr hat. Damit einher geht eine Schwerpunktsetzung, die nötig ist, um das Sterben als Prozess in den Blick zu bekommen: Erstens werden ›natürliche‹ Sterbeverläufe infolge chronischer Erkrankungen fokussiert. Diese entwickeln sich statistisch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur dominanten Form des Sterbens […]. Dass diese Sterbeverläufe zugleich ins Zentrum der gesundheitspolitischen, wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Aufmerksamkeit sowie zunehmend auch der kulturellen Repräsentationen des Lebensendes rückten, lag zugleich daran, dass sie ein neuartiges Maß an Sinngebung erforderten und hohe Kosten verursachten“ (Florian Greiner S. 6). Ausgeblendet werden die nach 1945 seltener werdenden Fälle eines gewaltsamen Todes, des Suizids mit Ausnahme des ärztlich assistierten Suizids und der Tötung auf Verlangen. Und auch der Schwangerschaftsabbruch kommt nur am Rande vor. 

„Zweitens klammert die Arbeit weitgehend die Themenfelder Trauer, Bestattung und Sepulkralkultur aus. Im Zentrum steht das, was unmittelbar vor dem Tod passiert und nicht das, was nach dem Ende des Lebens kommt“ (Florian Greiner S. 7). Damit ergibt sich folgender Aufbau der Studie:

1. Einleitung

2. 1948: Das Treffen, oder: Sterben nach dem Massensterben?

3. 1955: Die These, oder: ein Todestabu in der Moderne?

4. 1969: Das Buch, oder: die Erfindung des Sterbeaktivismus

5. 1973: Der Skandal, oder: Euthanasie reloaded?

6. 1978: Das Dokument, oder: „Wie willst du gestorben werden?“

7. 1985: Die Serie, oder: Sterben in der „Schwarzwaldklinik“

8. 1989: Der Kongress, oder: Schöner Sterben im Sozialismus und im Kapitalismus

9. 1993: Die Verhaftung, oder: Ringen um das „humane“ Sterben

10. 1997: Der Paragraf, oder: Triumph der Sterbebegleitung?

11. 2020: Ausblick und Fazit, oder: Was ist das eigentlich – ein „gutes Sterben“?

Greiner eröffnet jedes ihrer elf Kapitel mit einem Fallbeispiel, einem darüber notierten passenden Zitat und den Band mit folgender Beobachtung von Erika Faust-Kübler, der Schwester von Elisabeth Kübler-Ross: ›Und irgendwie irritierte es mich auch. Sie hat so viel über Tod und Sterben geschrieben, es sogar verherrlicht. Jetzt, da ihre Zeit kommt, sagt sie: ›Ich muss noch dies und das machen‹. Greiner fährt so fort:

„Elisabeth Kübler-Ross starb langsam und leidvoll. Es begann Mitte der 90er Jahre mit einer Serie von Schlaganfällen, die zu einer weitgehenden Lähmung führten. Die bis dahin so aktive und noch keine 70 Jahre alte Dame war fortan an ihr Zuhause gefesselt – und ein chronischer, ebenso unaufhaltsamer wie langwieriger Verfall eingeleitet. Kübler-Ross, Jahrgang 1926, lebte alleine in der Wüste Arizonas, die Einsamkeit unterbrochen nur von gelegentlichen Besuchen ihres Sohnes und einer mexikanischen Haushaltshilfe. In ihrer im Jahr 1997 erschienen Autobiografie klagte sie über ständige Schmerzen, die Abhängigkeit von ganztägiger Pflege und den Mangel an Privatsphäre: Ihr Lebensende habe sich zum Alptraum entwickelt […]. Im Herbst 1997 berichtete Kübler-Ross dem Spiegel von unendlicher Langeweile, davon, dass es nichts mehr gebe, das ihr noch Spass mache und sie am Wochenende von Wasser und Brot leben müsse, da niemand da sei, um für sie zu kochen. 16 Stunden am Tag im Stuhl sitzen, das sei kein richtiges Leben mehr, sondern ein bloßes Existieren. Immerhin werde das Ende […] noch vor dem 1. Januar kommen: ›Das ist sicher.‹ Doch erst knapp sieben Jahre später, im August 2004, starb Kübler-Ross schließlich. Kurz zuvor hatte sie einer kanadischen Journalistin […] noch den unmissverständlichen Rat gegeben: ›Don’t live past seventy. It’s hell‹“ (Florian Greiner S. 1).

Wie und warum sie zu dieser Empfehlung und nicht zu dem von ihr ein Leben lang propagierten ›guten Sterben‹ gekommen ist, wird in der Studie auf rund 80 Seiten erörtert: Der Tod und das Sterben der amerikanisch-schweizerischen Psychiaterin war für das Sterben der Millionen von Menschen, die in der zweiten Hälfte es 20. Jahrhunderts infolge der steigenden Lebenserwartung und der immer ausgefeilteren Möglichkeiten der Medizin immer länger am Leben blieben, durchaus typisch. Aber Kübler-Ross, neben Cicely Saunders wohl eine der maßgeblichen Sterbeforscherinnen des 20. Jahrhunderts, hätte doch eigentlich einen würdevolleren Tod sterben sollen. Nach den von ihr erforschten berühmten Phasen des Sterbens hätte die fünfte Stufe ihres Sterbemodells gleichsam die idealtypische Körnung eines gelungenen Sterbeverlaufs sein können, die Akzeptanz ihres eigenen Ablebens. Zentral wäre dann der Grundsatz der völligen Schmerzfreiheit im Sterbeprozess gewesen (vergleiche dazu und zum Folgenden Florian Greiner S. 578 ff.), die Vorstellung

von Würde, Selbstbestimmung, Autonomie und Individualität, eine angemessene soziale Einbindung und Kommunikation, menschliche Nähe, Zuwendung und Begleitung und die Annahme des eigenen Schicksals. Dieses Kübler-Ross’sche Konstrukt eines ›guten Sterbens‹ hatte trotz vielfacher Kritik und diverser eigener Korrekturen eine enorme Relevanz für die Praxis der Sterbebegleitung, das Selbstverständnis der Thanatologen, Ärzte, Seelsorger, Gesundheitspolitiker, Pflegekräfte und Freiwilligen der Hospizbewegung gewonnen und letztlich wohl auch zum Aufbau der stationären Hospize und der Palliativstationen in Krankenhäusern geführt. 

In seiner mit Fakten und Fallstudien gespickten Kultur-, Medien-, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte des Sterbens kommt Greiner unter anderem auch auf die mit dem Leiter der Abteilung Dienste für seelische Gesundheit der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart Helmuth Beutel (vergleiche dazu https://www.eva-stuttgart.de/ueber-uns/meldungen/artikel/helmuth-beutel-wird-80), Reinhard Tauch (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_Tausch) und Daniela Tausch (vergleiche dazu daniela-tausch-flammer-gespraech100.pdf im Bayerischen Rundfunk https://www.br.de › Sendungen ›alpha-worum) verbundenen Ursprünge der Stuttgarter Hospizidee zu sprechen (vergleiche dazu Florian Greiner S. 402 ff.). Demnach gründete sich in Stuttgart im Frühjahr 1984 „ein Projekt namens ›Sitzwache‹, in dem ehrenamtliche Helfer bei Sterbenden in den Pflege- und Altenheimen der Stadt Nachtwachen hielten. Die Zahl der beteiligten Freiwilligen stieg bereits in den ersten beiden Jahren auf knapp 30. Diese Aktivitäten bereiteten den Nährboden, auf dem die Hospizidee ab 1987 rasch Einzug in der Landeshauptstadt halten konnte. Initiatoren waren […] Helmuth Beutel, der einige Jahre zuvor irrtümlich mit einer tödlichen Krebserkrankung diagnostiziert worden war, sowie die von ihm eingestellte junge Psychologin Daniela Tausch, deren Eltern, Reinhard und Anne-Marie Tausch, als Koryphäen auf dem Gebiet der Psychotherapie galten. Infolge des Krebstodes ihrer Mutter im Jahr 1983 […] hatte sich der Kontakt von Daniela Tausch zu Elisabeth Kübler-Ross intensiviert, die sie bereits zuvor über ihre Eltern kennengelernt hatte […]. Das von Beutel und Tausch ins Leben gerufene Projekt ›Hospiz. Begleitung Sterbender und ihrer Angehöriger‹ veranstaltete ab Anfang 1988 Schulungskurse für ehrenamtliche Sterbebegleiter, deren Teilnehmer sie verpflichteten, anschließend mindestens ein Jahr lang wöchentlich sechs bis acht Stunden lang mitzuarbeiten. So konnte die Initiative unter anderem eine telefonische Beratung für Sterbende und ihre Angehörigen anbieten und eine intensive Öffentlichkeitsarbeit betreiben“ (Florian Greiner S. 402 f.).

Warum Greiner bei seiner sonstigen Detailfreude und Genauigkeit nicht auch auf die ab 1980 vom damaligen Pfarrer an der Hospitalkirche und am Hospitalhof Stuttgart Martin Klumpp (vergleiche dazu https://www.deutsche-biographie.de/pnd1036867978.html) ins Leben gerufenen Kurse ›Das helfende Gespräch‹, die Gesprächskreise ›Eltern in Trauer‹ und die von ihm von 1980 bis Anfang 1987 verantworteten zahlreichen Vorträge zum Thema Tod, Sterben und Trauer eingegangen ist, bleibt sein Geheimnis (vergleiche dazu und zum Folgenden die ab 1980 erschienen Halbjahresprogramme des Evangelischen Bildungszentrums Hospitalhof Stuttgart und der Evangelischen Kirchengemeinden in Stuttgart sowie die mediale Begleitung dieser Arbeit unter anderem in der Stuttgarter Zeitung, den Stuttgarter Nachrichten und im Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg): So hat Elisabeth Kübler-Ross schon am 17. März 1982 im Hospitalhof Stuttgart neben anderen zum Thema ›Leben, Tod und Übergang‹ gesprochen. Der Vortrag wurde in Zusammenarbeit mit dem Süddeutschen Rundfunk organisiert und vom Hospitalhof aus direkt übertragen. Bei dem von Klumpp in Zusammenarbeit mit Manfred Schreier verantworteten Format ›Musik und Texte zum Karfreitag‹ in der Schwabenlandhalle Fellbach haben am 1. April 1983 der Biologe Günter Altner und Elisabeth Kübler-Ross die Wortbeiträge ›Woran wir sterben – wovon wir leben‹ verantwortet. In der für den Zeitraum 13. September 1983 – 25. Januar 1984 im Hospitalhof geplanten Vortragsreihe ›Leben mit Krebskrankheit‹ hätte Anne-Marie Tausch am 13. Dezember zum Thema ›Der Patient im Umgang mit seiner Krankheit‹ sprechen sollen. Aber sie war schon am 27. Juli 1983 an den Folgen ihrer Krebserkrankung verstorben. Ihr Mann Reinhard Tausch und ihre Tochter Daniela haben ihr Thema dann am 1. Februar 1984 im Hospitalhof unter dem Titel ›Persönlichen Entwicklung bei Krankheit und Sterben für Betroffene und Angehörige‹ und in den Folgejahren in weiteren Vorträgen aufgegriffen. Im ersten Halbjahr 1987 haben sich drei Vorträge mit dem Thema ›Aids‹ auseinandergesetzt, am 31. März 1987 der Psychiater und Psychoanalytiker Christian Reimer mit dem Thema ›Selbstmordgefährdung‹ und am 3. April 1987 der Theologe Gerhard Ebeling mit ›Luthers Theologie der Konfrontation mit dem Tode‹. 

Unter anderem deshalb ist Martin Klumpp bei seiner Verabschiedung im März 2023 nach 43 Jahren Hospizarbeit und mehr als 20 Jahren Vorsitz im Hospiz-Förderverein als ein Urgestein der Hospizbewegung gefeiert worden (vergleiche dazu und zum folgenden Jan Sellner, ›Ein Anführer mit großer Herzenskraft‹. In: Stuttgarter Nachrichten vom 31. März 2023: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.hospizarbeit-in-stuttgart-ein-anfuehrer-mit-grosser-herzenskraft.f46fa04a-c075-4f9f-8e59-23a1f3387a99.html). Demnach stand Klumpp mit am Anfang der Hospizbewegung in Stuttgart. Der Aufbau des Erwachsenenhospizes in der Stafflenbergstraße und des Kinder- und Jugendhospizes in der Diemershalde hoch über der Stadt gehen auf seine Initiative zurück. Die Würdigung fiel entsprechend überschwänglich aus. Klumpps Schlüsselerlebnis in jungen Vikarsjahren war der Besuch einer Frau, deren Kind tot geboren worden war. „Allein das Dasein half. ›Wenn schon das pure Dasein hilft, dann wollte ich das Besser-Dasein lernen‹, nahm Klumpp sich vor. Das ist ihm offenkundig gelungen, wie der große Zuspruch zu den von ihm initiierten Trauergruppen zeigt, die er weiterhin betreuen will. Zu seinem ideellen Nachlass gehört auch der Appell, in die Herzensbildung zu investieren und sich weniger auf das ›Machen‹ und mehr auf das ›Bekommen‹ zu konzentrieren, wenn es um Abschiede im Leben geht“ (Jan Sellner a. a. O.). 

Zu den Ergebnissen von Greiners Studie gehört die Einsicht, dass sich die Perspektiven auf das Lebensende und auf die Vorstellung vom ›guten Sterben‹ je nach individuellen Umständen unterscheiden und stark abhängig sind von den Rahmenbedingungen in den jeweiligen medizinischen Einrichtungen, die Sterbebegleitung praktizieren. „Immer wieder standen die individuellen Erfahrungen von Sterbenden dem Ideal entgegen, empfanden sie beispielsweise Fremdbestimmung keineswegs als etwas pauschal Negatives, zumal im Rahmen des auf Vertrauen anbauenden Arzt-Patienten-Verhältnisses. Denn paradoxerweise insistierte das Leitbild ausgerechnet in einer Lebensphase auf vollständige Selbstbestimmung, die notwendigerweise mit dem sukzessiven Verlust jeglicher Autonomie einhergeht: dem Sterben. Mitunter drängten Sterbebegleiter Todkranken ein ›bewusstes‹ Sterben förmlich auf und zwangen Patienten geradezu, über ihr Sterben zu sprechen und sich aktiv mit den eigenen Wünschen und Vorstellungen auseinanderzusetzen. Auf diese Weise wurde die ›Nötigung zur Selbstbestimmung‹zu einem Teil des ›palliativen Geschäfts‹ und es kam gar zu einer latenten Pathologisierung von Menschen, die sich nicht in jene Rolle drängen ließen, die für sie vorgesehen war.

Die Wurzeln dieses Problems reichen bis in die 60er und 70er Jahre zurück. Sie sind letztlich angelegt in der Entdeckung und Rahmung des Sterbens durch Lebende sowie in deren historischen Ursachen. Die moralische Überhöhung und pathetische Aufladung des ›guten Sterbens‹ war dabei in vielerlei Hinsicht Katalysator einer notwendigen Verbesserung der Sterbebegleitung, barg langfristig aber Risiken […]. Die Suche nach dem Happy End – sie dauert noch an.“ (Florian Greiner S. 582 ff.).

ham, 25. November 2023

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller