Publikation zur gleichnamigen Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie Berlin vom 18.11.2023 bis 28.9.2025, herausgegeben von Joachim Jäger, Marta Smolińska und Maike Steinkamp, mit einem Vorwort von Klaus Biesenbach
Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz / E. A. Seemann Verlag in der E. E. Seemann Henschel Verlagsgruppe, Leipzig, 2023, ISBN 978-3-86502-514-2, 304 Seiten, 210 farbige und 104 schwarz-weiße Abbildungen, Hardcover, gebunden, Format 27,5 x 20,5 cm, € 36,00
Die Gründung der beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg und die Teilung Berlins haben den von Ludwig Justi (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Justi) mit Adolf Janosch (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Jannasch) entwickelten Plan für eine neue »Galerie des 20. Jahrhunderts« verhindert.
„Das Gebäude der Nationalgalerie lag auf der Museumsinsel im Osten der Stadt, wo sich jedoch nur Teile der Sammlung befanden. Viele Objekte waren in Westdeutschland ausgelagert. Diese fanden ihren Weg im Lauf der 1950er Jahre zurück nach West-Berlin. Gleichzeitig verfolgte Adolf Jannasch dort die Idee einer »Galerie des 20. Jahrhunderts« weiter. Bis 1954 erwarb er als ihr Leiter über 150 Kunstwerke. Im Mittelpunkt der Sammlungsaktivitäten stand einerseits die Wiedergutmachung an den als »entartet« diffamierten Künstler*innen, andererseits die Darstellung des »lebendige[n] […] Zusammenhang[s] der Kunst unserer Zeit mit unserer Gesamtkultur«. Er wollte die Sammlung für die Kunst der Gegenwart öffnen – die westliche wohlgemerkt. Im Jahr 1967 wurde die »Galerie des 20. Jahrhunderts« mit den im Westen verbliebenen Beständen der Nationalgalerie vereinigt. Sie fand 1968 ihren Platz in der von Ludwig Mies van der Rohe gebauten Neuen Nationalgalerie“ (Joachim Jäger, Marta Smolińska, Maike Steinkamp, S. 10).
Justi musste dagegen die Idee einer Nationalgalerie im Ostteil der Stadt angesichts der am Sozialistischen Realismus ausgerichteten Kunstpolitik in der DDR nach und nach aufgeben. „Zwar gingen die Werke der aktuellen Kunst, die er in den ersten Jahren erworben hatte, in den Bestand der abschnittsweise wiedereröffneten Nationalgalerie auf der Museumsinsel über, gezeigt werden konnten die Werke unter der restriktiven Kunstdoktrin Anfang der 1950er Jahre jedoch nicht. Später wurde das Ursprungsgebäude der Nationalgalerie ganz der Kunst des 19. Jahrhunderts gewidmet, die Werke des 20. Jahrhunderts zogen in das benachbarte Alte Museum. Groß war die Sammlung der Kunst des 20. Jahrhunderts (Ost) zu diesem Zeitpunkt nicht. Durch fehlende Mittel und die ausschließliche Bezahlung in DDR-Mark wurden die Ankäufe vornehmlich innerhalb der DDR getätigt, was auch das Sammlungsprofil erheblich verengte. So fanden beispielsweise die Bildhauer Fritz Cremer, Waldemar Grzimek oder Gustav Seitz ab Mitte der 1950er Jahre Eingang in die Sammlung. In größerem Umfang wurde die Kunst der Gegenwart erst sehr viel später angekauft, vor allem in den 1970er uns 1980er Jahren, als unter der politischen Losung »Weite und Vielfalt« ein größeres Spektrum an Themen und Ausdrucksformen berücksichtigt werden“ (Joachim Jäger, Marta Smolińska, Maike Steinkamp S. 10 ff.).
Der Westen setzte dagegen bewusst auf Internationalität. In der Folge mussten nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auch die Bestände der beiden Nationalgalerien mit ihren unterschiedlichen Interpretationen der Kunst des 20. Jahrhunderts zusammengeführt werden. Die doppelte Sammlungsgeschichte, die in Teilen auch immer ein Spiegel der Politik war, macht die Qualität und die Einmaligkeit der heutigen Sammlung mit ihren über 4000 Werken zur Kunst des 20. Jahrhunderts aus. Lücken im Bereich des Kubismus und Surrealismus, der Pop und Minimal Art sowie der Konzeptkunst konnten seit den 1990er Jahren durch Leihgaben und Schenkungen ausgeglichen werden.
Der Titel »Zerreißprobe« verdankt sich Günter Brus’ gleichnamiger Aktion von 1970, in der er die Belastbarkeit seines Körpers durch den Zug von Stahlseilen austestete (vergleiche dazu das Interview Günter Brus: „Die Konzentration hat die Schmerzen verdrängt“. In: https://www.achtzig.com/2015/07/guenter-brus-im-interview/). Für die Kuratoren gibt das Thema den roten Faden vor, der sich durch alle Kapitel der Ausstellung verfolgen lässt. Er wird zudem zur Metapher für jene Konflikte und Debatten, die auf die Kunst des 20. Jahrhunderts Einfluss nahmen.
Die 14 Kapitel der Ausstellung greifen zentrale künstlerische und gesellschaftliche Themen des 20. Jahrhunderts im Spiegel der Werke von Künstlern auf, so die Frage nach Abstraktion und Figuration in Werken von Max Ernst (vergleiche dazu https://recherche.smb.museum/detail/2457858/junger-mann-beunruhigt-durch-den-flug-einer-nicht-euklidischen-fliege) und Werner Tübke (vergleiche dazu https://x.com/TheUntranslated/status/1863454735790936421?mx=2). Künstlerische Antworten auf die Ängste der Welt werden in Werken wie Wilfredo Lams „Die Hochzeit“ von 1947 (vergleiche dazu https://www.bildindex.de/document/obj02510480) oder Strawaldes „Bewertung“ von 1958 (vergleiche dazu https://www.tumblr.com/baconwithmeat/57609871030/strawalde-beweinung) deutlich. Barnett Newmans „Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau IV“ (vergleiche dazu https://freunde-der-nationalgalerie.de/blog/erwerbungen/barnett-newman/), Karl Otto Götz (vergleiche dazu https://ko-goetz.de/leinwaende/bagatelle-ii/) und weitere stehen für das performative Bild, Carolee Schneemann (vergleiche dazu https://www.muzeumsusch.ch/de/1246/Up-to-and-Including-Limits-After-Carolee-Schneemann) und Jackson Pollock (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Jackson_Pollock#Werke_(Auswahl)) stehen für die feministische und verkörperte Malerei, Tadeusz Kantor (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Tadeusz_Kantor) für die Integration des Alltags in die Kunst, Lucio Fontana für die Erweiterung des Bildraums (vergleiche dazu https://www.singulart.com/de/blog/2024/09/16/raeumliches-konzept-warten-von-lucio-fontana/) und Endre Tót für den Wunsch, die durch die Berliner Mauer errichtete Grenze zu überschreiten (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Endre_Tót und https://www.mathiasguentner.com/kuenstler_in/endre-tot/arbeiten/). Weitere Arbeiten stammen unter anderem von der Pop- und Minimal Art, der Konzeptkunst und Künstler*innen wie Marina Abramović, Joseph Beuys, Francis Bacon, Lee Bontecou, Rebecca Horn, Valie Export, Konrad Klappheck, Wolfgang Mattheuer, Louise Nevelson, Roman Opalka, Bridget Riley, Pipilotti Rist, Cornelia Schleime, Hans Ticha oder Andy Warhol. Ergänzt wird die Präsentation schlaglichtartig um Werke von Künstlerinnen wie Kiki Kogelnik oder Ewa Partum, die bisher nicht in der Sammlung der Nationalgalerie vertreten sind.
Der lesenswerte Band bietet einen kompakten Überblick über die fundamentale Neuausrichtung der von Deutschland nach 1945 gesammelten Kunst und zeichnet sich darüber hinaus durch seine allgemeinverständliche Sprache und seinen Verzicht auf jedes Kunstkauderwelsch aus.
ham, 7. Januar 2025