Mai 24

Zarina Bhimji

Von Helmut A. Müller | In Kunst, Rezensionen

Katalog zu den gleichnamigen Ausstellungen vom 19.01. – 09.03. 2012 in der Whitechapel
Gallery, London, vom 20.01. – 14.04.2012 in The New Art Gallery Walsall und vom 01.06. –
02.09 2012 im Kunstmuseum Bern, hrsg. von Achim Borchardt-Hume, Kathleen Bühler und Doro
Globus mit Texten von TJ Demos und einem Gespräch von Achim Borchardt-Hume und Kathleen
Bühler mit Zarina Bhimji
Whitechapel Gallery / Kunstmuseum Bern / The New Art Gallery Walsall / Ridinghouse, 2012,
ISBN 9l78-1-905464-51-7, 144 S. zahlreiche s/w- und Farbabbildungen, Softcover, Format 25 x
21,5 cm , SFR 28,–
Die zusammen von der Whitechapel Gallery London und vom Kunstmuseum Bern erarbeitete
erste Retrospektive der britischen Fotografin, Filmemacherin und Installationskünstlerin Zarina
Bhimji stellt die Tochter indischer Eltern als poetisch-sanfte Kritikerin der mit Migration,
Globalisierung und postkolonialer Geschichte verbundenen Erfahrungen von Ausgrenzung,
Nichtteilhabe und Gewalt vor. Die 1963 geborene Bhimji war unter Idi Amin zusammen mit den
meisten anderen Indern aus Uganda vertrieben worden und litt in den frühen 1970er Jahren als
Neueinwanderin in Leicester unter der Gewalt der National Front: „Mit Schlagstöcken schlugen
sie wahllos auf Menschen ein. Es gab viele aggressive Lehrer, es gab Enoch Powells Reden gegen
Emigranten; es war noch eine ganz andere Zeit. Wir, die nächste Generation beschlossen, dass
mit dem >>Paki-Bashing<< Schluss sein müsse. Wir nahmen das Gesetz in unsere eigenen Hände:
Wir bewarfen die National Front mit rotem Chilipulver, um uns zu verteidigen“ (Zarina Bhimji).
Die Erfahrung dieser Selbstverteidigung floss unter anderem in ihre Arbeit ‚Sie liebte es, zu atmen
– reine Stille‘ von 1987 ein. „Es war wichtig für mich, keine Kunst zu machen, die einfach an der
Wand befestigt werden konnte. Das Werk sollte frei im Raum stehen, diese Gestik der
Unabhängigkeit haben. Unbewusst hatte ich auch dabei das >>Paki-Bashing<< im Kopf. So
entstand die Idee, Chili und Kurkuma auf den Fußboden auszulegen. Als ein Performance-Werk,
das sich jedes Mal, wenn es gezeigt wird, reaktiviert, stellt es eine Metapher für einen
Kulturenwandel dar“ (Zarina Bhimji). Für ihre groß angelegten Filminstallationen recherchiert
Bhimji in den Londoner Bibliotheken und in den Bibliotheken vor Ort. Sie fotografiert, macht
Aufzeichnungen, trifft sich mit den Menschen vor Ort und unterhält sich mit ihnen. Die Recherche
ist ein entscheidender Bestandteil ihres Arbeitsprozesses. Für ihre Single screen installation
‚Yellow Patch‘ von 2011 hat sie sich mit dem Erdbeben vom 26. Januar 2001 im indischen
Bundesstaat Gujarat auseinandergesetzt, das als Bhuj-Erdbeben bekannt geworden ist. „Über 800
000 Häuser wurden beschädigt oder zerstört – ein Viertel aller Häuser in dieser Region. Wenn
einem derartiges passiert, fühlt man sich in höchstem Maße von der Erde betrogen. Ich wollte
begreifen, was passiert war. In Mumbai ging ich ins Verlagsgebäude der ‚Times of India‘, um
nachzulesen, wie sie über das Erdbeben berichtet hatten. Ich fühlte mich damit verbunden; ich
wollte jede Einzelheit darüber wissen. Für mich wurde das Erdbeben auch zu einer fesselnden
Metapher für die Migration. Es inspirierte mich zu dem Titel meiner Fotografie ‚Elastic Waves‘
(2007)“ (Zarina Bhimji). „Ausgehend von der Handels- und Migrationsgeschichte zwischen
Indien und Afrika ist ‚Yellow Patch‘ an vier Hauptschauplätzen Vorderindiens gedreht… Für die
Auswahl der Schauplätze war ihre Geschichtsträchtigkeit ebenso entscheidend wie die jeweils
bestimmenden Lichtbestimmungen, die Details ihrer Architektur und der besondere
landschaftlichen Charakter. Die vollendeten Bilder vom Meer, der Wüste und von Wohn- und
Verwaltungsgebäuden begleiten Tonspuren von Wellengeräuschen, Vogelrufen, Schreibmaschinen
und Stimmen, die Empfindungen wie Furcht, Verlust, Leidenschaft, Liebe. Zärtlichkeit und
Sicherheit hervorrufen. Sieben Jahre dauerten die Arbeiten zum Film und wurden erst durch diese
große Einzelausstellung zum Abschluss gebracht. Seine Uraufführung fällt mit der Ausstellung
zusammen“ (Ausstellungsführer des Kunstmuseums Bern). In dem Film spielt das Licht eine
zentrale Rolle. „Ich wollte viel Licht in den Wasserszenen. Im Außenraum sollte jedoch alles in
der Abend- oder Morgendämmerung gefilmt werden. Ich wollte ein weiches buttriges Licht mit
rosafarbenen Schimmern. Es sollte nicht wie das Indien aussehen, das man kennt, weil es nicht um
Indien geht. Das Licht ist eine Metapher für Schmerz… Ich habe zwar Verwandte in Indien, doch
wegen der langen Zeit der Migration braucht die Annäherung wiederum Zeit. Das ist das Traurige;
man kann nie wirklich zurückkommen. Migration bedeutet, Angehörige und Freunde zurücklassen
zu müssen. Obwohl beide dabei sterben, der, der geht, und der, der zurückbleibt? Die Trennung
bewirkt einen Bruch, und das kulturelle Erbe wird in Frage gestellt…“ (Zarina Bhimji).
Neben ‚Yellow Patch‘ werden unter anderem die zwischen 1998 und 2011 in Sansibar erarbeiteten
Seelandschaften ‚Jangbar‘ und ‚Revolution‘ die zwischen 1988 und 2007in Uganda erarbeitete
Serien von 40 Fotografien ‚Love‘ und die bis 2002 auf der Documenta 11 vorgestellte
Filminstallation ‚Out of Blue‘ gezeigt.
(ham)

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