Mai 24

Privat/Privacy

Von Helmut A. Müller | In Kunst, Rezensionen

Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 01.11.2012 – 03.02.2013 in der Schirn Kunsthalle
Frankfurt
Hrsg. von Martina Weinhart und Max Hollein mit Essays unter anderem von Martina Weinhart, Boris
Groys und Jan Verwoert und einem Vorwort von Max Hollein
Schirn Kunsthalle Frankfurt/Distanz Verlag, Berlin, 2012, ISBN 978-3-942405-89-8, 240 S., 200
Farbabbildungen, Broschur, Format 32 x 24 cm, € 27,80 (Museumsausgabe) / € 38,–
(Buchhandelsausgabe)
Die Väter des Grundgesetzes haben die Privatsphäre nach dem Terror des Nationalsozialismus vor
dem Zugriff von Staat und Öffentlichkeit weitgehend geschützt. Die unter diesem Schutz entstehenden
Privatbiotope galten der Folgegeneration der 1968er als zu eng und zu muffig. Deshalb haben sie nicht
nur die Talare auslüften wollen, („unter den Talaren der Staub von 1000 Jahren“), sondern auch den
Terror der Intimität gebranntmarkt. Zeitdiagnostisch wache Künstler wie HA Schult haben den im
Mülleimer versammelten Abfall des Fußballstars Franz Beckenbauer öffentlich ausgestellt und zur
Kunst erklärt und Fernsehprogramme aus Wohnzimmern von Siedlungen auf die Straße geholt. Wenn
heute Regimekritiker wie Ai Weiwei die eigene politische Überzeugung und Missstände im Land
tagtäglich über einen Block sichtbar macht, bekommt die Einsicht der 1968-er, dass das Private
politisch sei, eine neue Dimension.
Die von Martina Weinhart kuratierte Schirn-Ausstellung geht dieser und weiteren Facetten von privat
und öffentlich im Spiegel von 30 jüngeren und jüngsten künstlerischen Positionen nach. Mit Max
Hollein ist Weinhart der Überzeugung, dass wir auf dem Weg zur Aufhebung der Privatheit sind, auf
dem Weg zur Post-Privacy. Als Belege führt sie unter anderem Tracy Emins 1999 ausgestelltes
benütztes Bett inklusive Bettwäsche, gebrauchter Strumpfhose und Kondomen vor, weiter eine Serie
von Privatpolaroids von Dash Snow mit Sex- und Koks-Szenen. Dazu kommen gepostete Handyfotos
von Menschen, die in öffentlichen Verkehrsmitteln vom Schlaf übermannt wurden und von Mark
Wallinger zu einem dichten Tableau verwoben worden sind. Peter Piller hat in seiner Serie ‚Frau
Baum‘ (2012-2012) Bildmaterial von Online-Dating-Portalen zusammengestellt. Jörg Sasse bearbeitet
Privatfotos digital , nimmt ihnen ihren Dokumentationscharakter und gibt ihnen eine gefakte
überzeitliche Schönheit. Zu den eindrücklichsten Arbeiten gehört Richard Billingham Serie ‚Ray’s a
Laugh‘ von 1989 – 1996, in der er den von Alkohol und Eintönigkeit geprägten Alltag seines Vaters
und seiner Mutter festhält. Seine übergewichtige Mutter setzt im üppigen Blumenkleid auf dem Sofa
und legt Puzzleteile zusammen. Ihre Arme sind tätowiert. Das Gesicht des Vaters ist vom Alkohol
verwüstet. Im Katalog liest man, dass die Eltern Billinghams in einer Sozialwohnung in Birmingham
leben.
(ham)

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