Ein Gespräch mit Andrea Tornielli

Übersetzt aus dem Italienischen von Elisabeth Liebl

Kösel-Verlag, München, 2016, ISBN 978-3-466-37173-0, 128 Seiten, Hardcover gebunden mit
Schutzumschlag, Format 20,5 x 13 cm, € 16,99 (D) / € 17,50 (A) / CHF 22,90

Das deutsche Wort „Barmherzigkeit“ gibt nach Hans-Helmut Eßer die übertragene Bedeutung der
griechischen Substantive ›eleos‹, ›oiktirmos‹ und ›splangchna‹ wieder, „die sich in ihrem ursprünglich Sinn
etwas so unterscheiden“, dass ›eleos‹ mehr das Gefühl der Rührung, ›oiktirmos‹ mehr die Äußerung der
bemitleidenden Klage beim Anblick des Mißgeschicks eines anderen und ›splangchna‹ „am stärksten den
Sitz dieses Gefühls, etwa das »Herz« bezeichnet“ (Hans-Helmut Eßer, Barmherzigkeit. In: Theologisches
Begriffslexikon zum Neuen Testament, herausgegeben von Lothar Coenen, Erich Beyreuther und Hans
Bietenhard, Wuppertal 1970, S. 52). ›Eleos‹ ist seit Homer belegt und die „»Rührung, die jemand angesichts
eines Übels, das einen anderen (unverschuldet) getroffen hat, ergreift«[…], also das Mitleid, Erbarmen, die
Barmherzigkeit; sie bilden den Gegensatz zu Neid auf das Glück des anderen“ (Hans-Helmut Eßer / Rudolf
Bultmann a. a. O.). ›Eleos‹ und seine Ableitungen kommen in der Septuaginta fast 400 mal vor und sind im
Neuen Testament 78 mal zu zählen. ›Oiktirmos‹ ist seit Aeschylos und Sophokles belegt und bedeutet „das
Bejammern, Beklagen, Bedauern des Unglücks oder Tods eines Menschen, im übertragenen Sinne dann
Mitleid, Erbarmen“ (Hans-Helmut Eßer, a. a. O. S. 55). Im Neuen Testament begegnet das Substantiv nur
bei Paulus und im Hebräer, das Adjektiv nur bei Lukas und Jakobus. ›Splangchna‹ und seine Ableitungen
charakterisiert in Markus 1,41 das messianische Erbarmen beim Anblick einer menschlichen Not, in den
beiden Gleichnissen vom Schalksknecht (Matthäus 18, 23-35) und vom verlorenen Sohn (Lukas 15,20) das
Gefühl liebender bzw. erbarmender Hinwendung, „das den völligen Umschwung des Geschehens
bringt“ (Hans-Helmut Eßer, a. a. O. S. 57). „Barmherzigkeit im Sinne der Bibel ist primär etwas anderes, als
es der deutsche Sprachgebrauch vermuten lässt: denn durch Mitleid, Verständnis für fremde Not, milde
Nachsicht sind nur je einzelne Aspekte der Sache erfasst. Die Bibel versteht Barmherzigkeit gerade nicht von
Empfindungen, sondern von der Bundestreue Gottes her. Barmherzigkeit ist […] die Treue Gottes“ zu seiner
gesamten Schöpfung (Hans-Helmut Eßer a. a. O. S. 58).

Wenn Papst Franziskus in seiner zweiten Predigt als Papst am 17. März 2013 Jesu Umgang mit der
Ehebrecherin (Johannes 8, 1-11) als Barmherzigkeit ausgelegt und daraus geschlossen hat, dass Jesu
Botschaft »die Barmherzigkeit« und dies »die stärkste Botschaft des Herrn« ist (Papst Franziskus S. 9), steht
er in der Mitte der heute gängigen Auslegungstradition der maßgeblichen neutestamentlichen Belegstellen
und sagt das, was man von einem katholischen Prediger erwarten kann. Wenn er aber als erfahreneren
Seelsorger davon spricht, dass er als Papst ein Sünder wie Simon Petrus und wie dieser auf Barmherzigkeit
angewiesen ist und dass er Barmherzigkeit zum Herzstück seines Pontifikats machen will, lässt das
aufhorchen. „Ein wenig mehr als ein Jahr danach kam Franziskus am 7. April 2014 bei der Frühmesse […]
auf diese Stellte des Evangeliums“ aus Johannes 8 „zurück und gestand seinen Zuhörern, wie sehr ihn diese
Zeilen rührten: »Gott verzeiht nicht mit Erlassen, sondern mit einer zärtlichen Berührung.« Denn mit seiner
Barmherzigkeit »geht Jesus über das Gesetz hinaus. Er verzeiht, indem er sachte über die Wunden unserer
Sünden streicht«“ (Papst Franziskus S. 13).

Wie das gehen kann, zeigt seine Antwort auf die Frage von Andrea Tornielli, was er mit dem Satz »Ein
kleiner Schritt inmitten großer menschlicher Begrenzungen kann Gott wohlgefälliger sein als das äußerlich
korrekte Leben dessen, der seine Tage verbringt, ohne auf nennenswerte Schwierigkeiten zu stoßen« im
Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium meine: „Das liegt doch eigentlich ganz klar auf der Hand. Das
ist die katholische Lehre. Es gehört zum großen Geheimnis der Kirche, das(s) ein »et et« (sowohl – als auch)
ist und nicht ein »aut aut« (entweder – oder). Für einige Menschen, die in schwierigen Umständen sind, die
menschliche Dramen durchleben müssen, kann ein kleiner Schritt, eine winzige Wandlung in den Augen
Gottes viel wert sein. Ich erinnere mich noch gut an ein Mädchen, das ich einmal am Eingang einer
Wallfahrtskirche getroffen habe. Sie war wunderschön und strahlte so richtig. Und sie sagte mir: » Ich bin so
glücklich, Padre. Ich bin gekommen, um der Madonna für eine Gnade zu danken, die sie mir erwiesen hat.«
Sie war die Älteste einer ganzen Reihe von Geschwistern, die keinen Vater mehr hatten. Um zu helfen, die
Familie durchzubringen, ging das Mädchen auf die Straße: »In meinem Dorf gab es einfach keine andere
Arbeit …« Sie erzählte mir, eines Tages sei ein Mann in das Bordell gekommen, in dem sie arbeitete. Er war
aus beruflichen Gründen dort und lebte eigentlich in einer Großstadt. Die beiden mochten sich, und am Ende
fragte er sie, ob sie nicht mit ihm kommen wolle. Das Mädchen hatte lange Zeit immer wieder zur Madonna
gebetet, ob sie ihr nicht eine Arbeit verschaffen könne, die ihr erlauben würde, ihr Leben zu ändern. Sie war
überglücklich, dass sie endlich aufhören könnte, das zu tun, was sie eben machte.
Ich stellte ihr nur zwei Fragen: Zuerst nach dem Alter des Mannes, den sie kennen gelernt hatte. Ich wollte
mich vergewissern, das es nicht etwa ein alter Mann war, der sie nur weiter ausbeuten wollte. Aber sie sagte,
er sei jung. Und dann fragte ich sie: »Und wird er dich heiraten?« Sie: »Ich möchte schon, aber ich habe
noch nicht gewagt, ihn zu fragen, aus Angst, ihn abzuschrecken …«“ (Papst Franziskus S. 94 f.) […].

Ein anderes Beispiel […] sind die Mütter und Ehefrauen, die sich jeden Samstag und Sonntag vor dem
Gefängnistoren anstellen, um ihren Söhnen oder Männern, die dort einsitzen, Essen und Geschenke zu
bringen. Sie unterziehen sich der Demütigung der Leibesvisitation, weil sie ihre Söhne oder Ehemänner nicht
verleugnen wollen. Obwohl sie Fehler gemacht haben, kommen sie sie besuchen. Dies ist eine Geste, die
unbedeutend scheinen mag, in den Augen Gottes aber groß ist. Eine Geste der Barmherzigkeit, die sie ihren
Lieben trotz der Fehler, die sie gemacht habe, erweisen.

In weiteren Passagen des Gesprächs geht Franziskus auf die Fragen ein, ob es zu viel Barmherzigkeit geben
kann, was der Unterschied zwischen der Sünde und dem Korrumpiertsein ist und welche Erfahrungen ein
Gläubiger im Heiligen Jahr der Barmherzigkeit machen soll. Auf die letzte Frage antwortet er knapp und
bündig: „Sich für die Barmherzigkeit Gottes zu öffnen, sich selbst und das eigene Herz zu öffnen. Zu
erlauben, dass Jesus ihm entgegenkommt, und sich voller Vertrauen auf die Beichte zu stützen. Und
barmherzig zu den anderen Menschen zu sein“ (Papst Franziskus S. 123).

ham, 24. März 2016

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