Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-7371-0060-1, 512 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen und Schutzumschlag, Format 21 x 13, 5 cm, € 24,00

Wer in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, hat den Satz noch im Ohr, dass es ihm einmal besser als seinen Eltern gehen soll: „Du sollst es einmal besser haben als wir“. Deutschland ging es  nach dem Zweiten Weltkrieg in der Tat wirtschaftlich und sozial immer besser und die Demokratie hat sich gefestigt. Für Francis Fukuyama sah es so aus, als könnte der ökonomische und politische Liberalismus seinen weltweiten Siegeslauf vollenden und das Ende der Geschichte einläuten. „Habe sich die westliche Demokratie als Regierungsform überall durchgesetzt, sei die ›final form of human government‹ erreicht – und damit das Ende der Geschichte. Seit den Revolutionen der Aufklärungszeit, besonders der Französischen Revolution, seien zwei Prinzipien für die geschichtliche Entwicklung leitend geworden: zum einen ein naturwissenschaftliches Denken, das zu dauerhaftem technologischen Fortschritt und – in dessen Folge – zum Verlangen nach allgemeiner Bildung führe, sowie zum anderen ein Streben des Individuums nach ›recognition‹, nach Anerkennung, das auf die Entstehung konstitutioneller Demokratien und den Schutz von Persönlichkeits- und Freiheitsrechten abziele. Dabei folge die Liberalisierung der politischen Sphäre zeitlich einem wirtschaftlichen Liberalismus. Paradebeispiele dieser Entwicklung waren für Fukuyama die Staaten Südostasiens. Dort habe die ›common marketization‹ die Bildung moderner Demokratien bewirkt. Ähnliches sei in der Sowjetunion und in China zu erwarten, ausgehend von den Reformen Gorbatschows und Deng Xiaopings. Fukuyamas Kurzform der These lautete: ›We might summarize the content of the universal homogenous state as liberal democracy in the political sphere combined with easy access to VCRs and stereos in the economic‹” (Stefan Jordan, Francis Fukuyama und das Ende der Geschichte. In http://docupedia.de/zg/Fukuyama,_Ende_der_Geschichte).

Nach der Weltfinanzkrise von 2008, der Weltklimakrise, dem von Donald Trump angezettelten Welthandelskrieg (vergleiche dazu https://www.businessinsider.de/trumps-welthandelskrieg-warum-nach-china-nun-die-eu-zittern-muss), der von den Wirtschaftsweisen vorausgesagten schwächeren wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland (vergleiche dazu https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/konjunktur-deutschland-schrammt-wohl-doch-an-rezession-vorbei-a-1294419.html), der wachsenden Kritik an den politischen Eliten und der steigenden Unzufriedenheit mit der Entwicklung der Demokratie ist die Erzählung vom Fortschritts-  ins Abstiegsnarrativ gekippt. Linke wie Rechte saugen aus den in Talkshows und in den Medien verbreiteten Untergangserzählungen Honig und setzen auf ihren ästhetischen Zauber. Die Linke geht davon aus, dass man seinen Status nicht halten kann und dass die Aussage ‚Unseren Kindern wird’s besser gehen als uns‘ der Vergangenheit angehört, „weil wir […] in eine Post-Wachstumsgesellschaft eingetreten sind […]. Die rechte Erzählung ist: Es geht alles nach unten, wir sind kein Volk mehr“ (Herfried Münkler in „Alle Reden vom Untergang – wir nicht!“. In: https://www.deutschlandfunkkultur.de/marina-und-herfried-muenkler-abschied-vom-abstieg-alle.1270.de.html?dram:article_id=459280).

Auf lange Sicht gesehen haben sich in der Kultur- und Religionsgeschichte die Aufstiegs- und Abstiegsszenarien immer wieder abgewechselt. Für den Umschlag vom Positiven ins Negative ist die aus dem achten vorchristlichen Jahrhundert überlieferte Rede vom ›Tag des Herrn‹ schlagend, der einmal als Tag der Erlösung und dann als Tag des Gerichts erwartet worden ist: „Weh denen, die den Tag des Herrn herbeiwünschen! Was soll er euch? Denn der Tag des Herrn ist Finsternis und nicht Licht, gleichwie wenn jemand vor dem Löwen flieht und ein Bär begegnet ihm und er kommt in ein Haus und lehnt sich mit der Hand an die Wand, so sticht ihn eine Schlange“ (Amos 5, 18 – 19). Nach dem Propheten bringt der Tag des Herrn‹ zwar das Gericht; aber es gibt für ihn auch die Möglichkeit der Umkehr. Auch Jona wird nach der gleichnamigen Lehrerzählung von Gott nach Ninive geschickt, um die Bewohner der Stadt vor dem drohenden Untergang zu warnen. Jona will vor diesem Auftrag auf dem Schiff nach Tarsus fliehen, weil er glaubt, dass Gott Ninive verschonen wird, wenn seine Bewohner seine Bußpredigt ernst nehmen und umkehren. Auf dem Meer kommt ein  Sturm auf, der nicht mehr enden will; die Seeleute finden heraus, dass es an Jona liegt, dass der Sturm nicht aufhört. Sie werfen ihn ins Meer und Jona landet im Bauch eines Walfischs. Der trägt ihn nach Ninive und speit ihn am Ufer aus. Seine Bußpredigt hat den von ihm befürchteten Erfolg: Die Menschen kehren um und Gott reut es, dass die Stadt untergehen soll. Das macht Jona so zornig, dass er sterben will. „Ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. So nimm meine Seele von mir; denn ich will sterben“ (Jona 4, 2f.). Jona geht vor die Stadt, setzt sich unter eine Staude, die Gott eigens für ihn hat wachsen lassen, und wartet, was passiert. Am anderen Morgen schickt Gott einen Wurm, der sticht in die Staude und sie verdorrt. Ein heißer Ostwind kommt auf; die Sonne brennt Jona auf den Kopf und er ermattet. Er jammert, dass er seinen Schattenspender verloren hat und wünscht sich den Tod. Da fragt ihn Gott, ob er zurecht über die in einer Nacht gewachsene und in einer Nacht verdorrte Staude jammert: Er habe sich nicht um sie bemüht und sie auch nicht aufgezogen. Sollte es Gott dann nicht auch jammern, dass beim Untergang von Ninive mehr als 120 000 Menschen verderben?

Herfried und Marina Münkler haben die Sorgen derer, die sich vor einem möglichen Abstieg und Untergang fürchten, anders als Jona im Blick. „Es gibt in dieser Gesellschaft soziale Abstiege […]; es gibt Niedergänge, etwa den der Volksparteien oder der Gewerkschaften“ (Herfried Münkler in der Süddeutschen Zeitung Nr. 214 vom 16. September 2019 S.11). Und es gibt, zumindest in Ostdeutschland, „reale Depravatationserfahrung“. Die Erwartung, dass nach der Wende alles nach oben geht, hat sich nicht bewahrheitet (Marina Münkler in Marina und Herfried Münkler, „Alle reden vom Abstieg, wir nicht!“. In: https://www.deutschlandfunkkultur.de/marina-und-herfried-muenkler-abschied-vom-abstieg-alle.1270.de.html?dram:article_id=459280). Aber „wir sind keine Abstiegsgesellschaft“ und es gibt „keinen grundsätzlichen Niedergang des politischen Systems und des demokratischen Rechtsstaates“ (Herfried Münkler in der SZ a. a. O.). Deshalb monieren Münkler und Münkler auch die Lücke, die zwischen Noam Chomskys drastisch ausgemalten Untergangsszenarien und seiner Hoffnung auf Besserung klafft.

Wenn man „die Dramatik seiner Untergangsszenarien und die von ihm gelieferte Begründung für die Abwendung der Katastrophe nebeneinanderhält, fällt das deutliche Missverhältnis zwischen beidem auf. Was Chomsky als den Grund der Hoffnung benennt, mag für eine im Kern reformistische Politik genügen, zumal dann, wenn diese längerfristig angelegt ist […]; der unmittelbar bevorstehende Untergang lässt sich damit jedoch keinesfalls verhindern. Die Propheten des Alten Testaments glaubten bei ihren Verkündigungen und der in Aussicht gestellten Rettung ›im letzten Augenblick‹ einen allmächtigen Gott an ihrer Seite zu haben. Wenn nun göttliche Allmacht durch den guten Willen einiger Aktivisten ersetzt wird, bleibt eine Lücke, die nicht geschlossen werden kann: Entweder ist das beschriebene Unheil so groß, dass mit dem Allerweltszutrauen, wie es politische Gruppierungen gerne ins Spiel bringen, nicht dagegen anzukommen ist; oder aber die verfügbaren Kapazitäten zur Problembeschreibung sind derart überschaubar, dass man sich nur Aufgaben stellen sollte, die im Rahmen reformistischer Politik zu lösen sind. Letzteres würde bedeuten, dass keine Untergangsszenarien an die Wand gemalt werden dürfen, denn nach einiger Zeit führt das, was als Weckruf gedacht war, zu Resignation oder Verzweiflung. Aus linker Sicht kann es einen ›Abschied vom Abstieg‹ geben, aber der ›Absprung vom Untergang‹ ist ein Projekt, das weder theoretisch zu Ende gedacht worden ist noch politisch implementiert werden kann“ (Marina und Herfried Münkler, Abschied vom Abstieg  S. 134 f.).

Im von ihnen favorisierten ›Abschied vom Abstieg‹ setzen Marina und Herfried Münkler mit Zygmunt Baumann auf eine erhöhte Ambiguitätstoleranz, die in der unter Entscheidungszwang stehenden ambivalenter werdenden Moderne nur durch Bildung, Bürgerbeteiligung und die Orientierung am Gemeinwohl erreicht werden kann. „Die Optionen, die dem Einzelnen bei seiner Lebensgestaltung zur Verfügung stehen, haben sich […] vervielfacht – mit der Folge, dass Lebenswege weniger vorhersehbar sind; mit der Zunahme von Entscheidungsmöglichkeiten entsteht ein Entscheidungszwang, der immer ein Risiko einer falschen Wahl einschließt; die Chancengleichheit wächst, doch es wächst auch der Konkurrenzdruck; mehr Autonomie und zunehmende Orientierungslosigkeit gehen Hand in Hand Gewissheiten müssen aufgegeben werden, aber das Bedürfnis nach Gewissheiten bleibt und kann nicht mehr befriedigt werden. Je fortschrittlicher eine Gesellschaft ist, desto mehr Ambiguitätstoleranz ist erforderlich. Ambiguitätstoleranz ist jedoch keine Fähigkeit, die ohne weiteres vorhanden ist. Sie setzt die Ausbildung starker und selbstbewusster Persönlichkeit voraus. Die aber sind in modernen Gesellschaften keineswegs in der Mehrheit, sondern treten nur vereinzelt in Erscheinung. ›Ambivalenz der Moderne‹ heißt also, dass in modernen Gesellschaften die Entgegensetzung von Aufstieg und Abstieg ihre vormalige Bedeutung für die Beschreibung von sozialen Veränderungen verloren hat“ (Marina und Herfried Münkler, Abschied vom Abstieg S. 134 f.).

Bildung kann für Münkler und Münkler keine bloße Anhäufung von Wissen, aber auch kein Verzicht auf theoretisches und praktisches Wissen sein. Sie ist eng verbunden mit der Ausbildung „von Fähigkeiten, Verstand und Urteilskraft. Ein solcher Bildungsbegriff zielt auf das Individuum, legt aber auch Wert auf dessen Teilhabe an der Gesellschaft und der Orientierung am Gemeinwohl […]. Der Abschied vom Abstieg des Bildungssystems gelingt, wenn man Schule weder als Repressions- noch als Freizeitort begreift, wenn man Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrerinnen und Lehrer das Lernumfeld so angenehm macht, dass sie dort sein wollen, um zu lernen und zu lehren“ (Marina und Herfried Münkler, Abschied vom Abstieg S.255). 

Auf kommunaler Ebene könnten durch Los bestimmte Bürgerkomitees den elitistisch–expertokratischen demokratischen Betrieb basisdemokratisch fundieren, kommunale und zivilgesellschaftliche Aufgaben zusammenführen und so den initiativen Einfluss der Bürger stärken. „Während auf gesamtgesellschaftlicher Ebene der Einbezug zivilgesellschaftlicher Initiativen in die Politik auf die Einladung von Verbandsvertretern in Beiräte und politikberatende Gremien hinausläuft, sollte es auf kommunaler Ebene möglich sein, Bürger auch ohne Zugehörigkeit zu Verbänden in politische Aufgaben einzubinden und ihnen so die demokratische Grunderfahrung einer Gleichzeitigkeit von Herrschen und Beherrschtwerden zu vermitteln. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass ihnen auch relevante Entscheidungen übertragen werden, die sie in Verantwortung für die gesamte Bürgerschaft der Kommune treffen. Die Aufgaben, die solchen Bürgerkomitees für begrenzte Zeit übertragen werden, können sich auf sämtliche Tätigkeitsfelder der Kommunalpolitik erstrecken – von der Versorgung eines Stadtteils mit Krippen- und Kindergartenplätzen bis zur Gewerbeansiedlung oder der Reduzierung von Luftverschmutzung. Bei der Auswahl der Bürger in solche Gremien bietet sich eine Kombination von freiwilliger Meldung, Vorschlägen der Vereine sowie dem Losverfahren an, um mit dem demokratischen Grundsatz ernst zu machen, dass jeder Bürger, jede Bürgerin Verantwortung für das Gemeinwohl tragen soll“ (Marina und Herfried Münkler, Abschied vom Abstieg S. 317).

„Die Umsetzung von Gemeinwohlvorstellungen wird auf Dauer nur möglich sein, wenn Deutschland – und Europa – im globalen Wettbewerb um wirtschaftliche Stärke und wissenschaftlich-technologische Innovationskraft eine Spitzenposition behalten. Hier ist in den letzten Jahrzehnten manches versäumt worden, und so ist eine ganze Reihe von Defiziten wettzumachen. Dabei will wohlerwogen sein, welche Beschränkungen man sich beim Export bestimmter Produkte wie in der Forschung aus politisch-ethischen Gründen auferlegt. Die Debatte darüber beginnt bei Fragen der Bildung und Ausbildung und reicht bis zu wissenschaftlichen und technologischen Spitzenleistungen […]. Rohstoffarmut […] macht es erforderlich, dass das Land ebenso umsichtig wie energisch in die Fähigkeiten seiner Menschen investiert. Die dafür erforderlichen Investitionen in Bildung stärken auch den sozialen Zusammenhalt und die demokratische Orientierung, wenn es gelingt, Bildung tatsächlich für alle zu ermöglichen“ (Marina und Herfried Münkler, Abschied vom Abstieg S. 412 f.)

ham, 25. November 2019

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