Aug 23

Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 22.7. – 18.10.2015 im Städel Museum, Frankfurt am Main, hgg. von Martin Engler. Mit einem Grußwort von Jürgen Fitschen, einem Vorwort von Max Hollein, Texten von Zdenek Felix, Walter Grasskamp, Franziska Leuthäusser und einem von Martin Engler moderierten Podiumsgespräch mit Walter Grasskamp, Max Hetzler und Ingrid Raab

Städel Museum, Frankfurt am Main ; Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 2015, ISBN 978-3-7757-3928-3, 264 Seiten, über 250 vorwiegend farbige Abbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 28,5 x 25,7 cm, € 49,80 (D)

 

Ganz unwidersprochen wird die von Martin Engler vorgeschlagene Anbindung der unter diversen Labels wie „Neue Wilde“, „Junge Wilde“, „Heftige Malerei“, „Neo – Expressionismus“, „Pop-Expressionismus“, „Moritz- Boys“ und „Hetzler-Boys“ bekannt gewordenen Figurativen Malerei der 1980er Jahre an die Neoavantgarde schon deshalb nicht bleiben, weil die meisten Protagonisten, Befürworter und Gegner dieser Malerei noch aktiv am System Kunst beteiligt sind, Museumsleute andere Akzente setzen wie Kritiker, Galeristen oder Künstler und das in sich vielfältig ausdifferenzierte Phänomen schwerlich über einen Kamm geschoren werden kann. Der Städel – Kurator begründet seinen Vorschlag mit dem Collage – Charakter dieser Malerei. Er grenzt sich damit deutlich von Benjamin H. D. Buchloh ab, der den sich schon 1979 abzeichnenden Übergang von der Konzeptkunst zur figurativen Malerei als regressives Phänomen gebrandmarkt hat. „Sie ist mitnichten eine Abkehr von der Avantgarde, auch keine Avantgarde, die zögert und stolpert, sondern eine überraschende Transformation und Camouflage der Neo-Avantgarde: die Bilder von Albert Oehlen, Walter Dahn, Ina Barfuss, Rainer Fetting, Bettina Semmer, Andreas Schulze und der anderen wären dann lesbar als eine Fortsetzung der Konzeptkunst mit den Mitteln der Malerei“ (Martin Engler S. 19).

Der 2009 verstorbene Stuttgarter Galerist Hans – Jürgen Müller kann sich zu der von Martin Engler vorgeschlagenen kunsthistorischen Einordnung der Figurativen Malerei der 80er Jahre und der ihr zugrunde liegenden Dehnung des überkommenen Verständnisses von Konzeptkunst und von Malerei nicht mehr äußern. Mutmaßlich hätte er sie heute, also gut 20 Jahre nach seinem selbstgewählten endgültigen Ausstieg aus dem Kunstsystem einfach zur Kenntnis genommen. Danach wäre er zur Tagesordnung übergegangen und hätte sich mit der Fortentwicklung seiner zusammen mit seiner Frau Helga erträumten, zuerst Atlantis und später Mariposa genannten Vision einer gelebten Einheit von Natur, Kultur, Kunst, Philosophie und politischer Reflexion auf Teneriffa gewidmet. 1979 lagen seine Akzente noch deutlich anders. Hans – Jürgen Müller hatte 1973 seine Kölner Galerie an die Mitarbeiter übergeben, sich auf Teneriffa mit den Schwierigkeiten im Umgang mit zeitgenössischer Kunst beschäftigt und seine Erfahrungen und Einsichten in seinem 1976 erschienenen Buch „Kunst kommt nicht von Können. Ein Streifzug durch die Kunst der sechziger Jahre“ einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.1979 hat er dann in Stuttgart zusammen mit Max Hetzler und Ursula Schurr die Ausstellung „Europa 79“ zum IX. Internationalen Kunstkongress auf den Weg gebracht und ihr den programmatischen Untertitel „Kunst der 80er Jahre“ gegeben. In „Europa 79“ waren Arbeiten von mehr als 100 Künstlern aus 10 europäischen Ländern zu sehen, darunter Arbeiten u.a. von Sandro Chia, Enzo Cucchi, Francesco Clemente, Martin Disler, Günther Förg, Nikolaus Koliusis und Isa Gensken. Für Johann Karl Schmidt „indizierte diese Ausstellung nicht nur das in Ansätzen damals bereits Vorhandene … , sondern sie (wurde) … zur Achse des Umschwungs von den konzeptionellen, intellektuellen Siebzigern zu den affektiven frühen achtziger Jahren … Zum ersten Mal ging es ihren Initiatoren bewußt wieder um europäische Kunst in der Vermutung einer beginnenden geistigen Gewichtsverlagerung von Amerika nach Europa … In Stuttgart wurde erstmals sichtbar, wohin sich die Kunst nach Minimal, Konzept-, Foto-und Videokunst wenden könnte: in Richtung auf eine neue, subjektiv begründete Gegenständlichkeit“ (Johann Karl Schmidt, Tiefe Blicke, Köln 1985, S. 10).

Das Kunstforum International hat der Ausstellung ihren 36. Band gewidmet und auf der Titelseite die in Stuttgart unmittelbar vor der Ausstellung entstandenen Rauminstallation Nino Longobardis „Ohne Titel“, Tigerfell, mit Kohle überzeichnete Leinwand, ca. 215 x 490 x 105 cm, Tigerfell rückseitig signiert Nino Longobardi 1975, gezeigt, ein halb an der Wand und halb auf dem Boden drapiertes Tigerfell, dessen Streifen sich „sporadisch“ (Jürgen Hohmeyer am 15.10. 1979 im Spiegel) auf der Leinwand fortsetzen. Die Arbeit hatte nur deshalb entstehen können, weil Hans -Jürgen Müller den Sammler Thomas Grässlin dazu überreden konnte, sie schon vor ihrer Entstehung für 17 000.00 DM zu kaufen. In den Folgejahren Jahren ist Longobardis Arbeit dann als Beleg für den sich Ende der 1970er vollziehenden Übergang von Konzept in Malerei gewertet worden. Damit war Englers kunsthistorische Einordnung vorweggenommen. 2006 konnte die „von einem süddeutschen Sammler“ eingelieferte Arbeit im Kunsthaus Lempertz in Köln für 29.750.00 € versteigert werden.

Müller hat in den Folgejahren seinen Blick auf die Kunst der frühen 80er erweitert und bis 1984 zusammen mit Johann Karl Schmidt die Sammlung „Tiefe Blicke. Kunst der achtziger Jahre aus der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Österreich und der Schweiz“ für das Hessische Landesmuseum Darmstadt aufgebaut. Die Sammlung bezieht auch die 1979 in Stuttgart noch übersehene Düsseldorfer Künstlergruppe YIUP (Peter Angermann, Robert Hartmann u.a.) und die Berliner Moritzboys mit ein, weiter Siegfried Anzinger, Marianne Eigenheer, Friedemann Hahn, Blalla W. Hallmann, Thomas Huber, Gustav Kluge und viele andere mehr. Schon diese knappe Aufzählung zeigt, dass die figurative Malerei Anfang der 80er deutlich breiter angelegt war als in Frankfurt gezeigt und dass sie ein europäisches Phänomen war.

Unter den Beiträgern für den Frankfurter Katalog knüpft Walter Grasskamp mit am deutlichsten an Hans – Jürgen Müller an. Das hindert ihn aber nicht, sowohl in seinem Essay als auch im Podiumsgespräch mit Max Hetzler und Ingrid Raab bei seinem einmal für die Figurative Malerei gefunden Etikett „Pop – Expressionismus“ zu bleiben und sich gegen die vorgeschlagene Angliederung der Figurativen Malerei an die Avantgarden zu wenden. Auch von einem „Hunger nach Bildern“ (Wolfgang Max Faust, Gerd de Fries) habe er nichts gespürt. „Der Kölner Kunstmarkt hing voll mit Gemälden … Das meiste habe ich damals … als >>Pop-Expressionismus<< betrachtet … Und da sind wir beim Thema. Im Rahmen … einer solchen Ausstellung muss man sich darüber klar sein, dass man diese Zeit historisiert, der man selber angehört hat, man muss sich trennen von seinen Parteinahmen, man muss sich distanzieren, man muss sie kontextualisieren. Und da hilft die Begriffskonstruktion der Avantgarde auch nicht weiter, genauso wenig wie die einer Transavantgarde … Die 80er Jahre in irgend einer Form als Dekade festzulegen, ist für mich die eigentliche Herausforderung zur Kritik“ (Walter Grasskamp S. 195).

Es gehört zu den Vorzügen des Frankfurter Katalogs, dass er Grasskamps Kritik an der Etikettierung und Periodisierung des Jahrzehnts ebenso offenlegt wie den noch nicht abschließend diskutierten und bewerteten Einfluss der Medien und die Rolle der zumeist diskret im Hintergrund agierenden Galeristen. Vielleicht kommt die schon nach 30 Jahren versuchte Historisierung des Phänomens auch schlicht zu früh. Max Hollein hat den Ansatz der Frankfurter Ausstellung dann auch auffällig vorsichtig skizziert und eigens auf den „schmalen Grat zwischen Gegenwart und Kunstgeschichte“ hingewiesen: „Mit der Ausstellung Die 80er. Figurative Malerei in der BRD bewegt sich das Städel Museum bewusst auf einem schmalen Grat zwischen Gegenwart und Kunstgeschichte … Es ist … ein musealer, historischer Blick, den es heute, mehr als drei Jahrzehnte später auf diese Malerei zu richten gilt … Mit dem kunsthistorischen Abstand gilt es nun … die … sich abzeichnenden gemeinsamen Strukturen sichtbar zu machen. Es geht um mehr als nur ein Zeitphänomen, um mehr als die journalistische Forcierung der Wahrnehmung dieser Werke … Ohne die Neuheiten und Besonderheit der Bilder zu negieren, soll die Frage gestellt werden, woher diese Malerei tatsächlich kam, wie sie sich im Zeitalter der Postmoderne zu ihrer eigenen Tradition verhält und welche Rolle eine neue oder differenziertere Betrachtung für unsere Gegenwart spielen könnte … Ein zentrales Anliegen dieser … Ausstellung ist es somit, einen validen kunsthistorischen Ansatz zu liefern für ein ebenso unbestreitbares wie unbestreitbar komplexes ästhetisches Phänomen, das um 1980 den Kunstbetrieb auf den Kopf stellte … Vor allem aber gilt es einen gewaltigen Bilderschatz zu heben, der schon zu lange durch die Brille überkommener Diskurse und Klischees gesehen wird. Bilder, die einerseits zu unserem kollektiven Bildergedächtnis gehören, andererseits in ihrer malerischen Potenz und konzeptuellen Komplexität lange unterschätzt und zu wenig gewürdigt wurden“ (Max Hollein S. 8 f.).

ham, 22.8.2015

 

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