Prestel Verlag, München. London. New York, 2017, ISBN 978-3-7913-8335-4, 208 Seiten, gebunden,
Hardcover, Format 25,6 x 23,5 cm, € 29,95 / CHF 39,90

Straßenfotografie ist eine offene Bezeichnung von Fotografie im öffentlichen Raum und wird unter anderem
mit so nicht wiederholbaren Augenblicken verbunden, die gleichwohl die besonderen Atmosphären von
Orten und Zeiten zeigen. Zumeist werden Momentaufnahmen von Menschen in berührenden, witzigen und
haarsträubenden Situationen mit Straßenfotografie konnotiert, aber auch menschenleere Orte und Plätze. Die
abgebildeten Menschen sind nicht als Privatpersonen, sondern als anonyme Figuren einer allgemein
menschlichen Situation gemeint.

Für den 1957 in Ilford, Essex geborenen britischen Straßenfotografen David Gibson steht bei seiner Auswahl
von 100 Straßenfotografien aus aller Welt die Frage im Vordergrund, ob ihn ein Foto anzieht und zum
Nachdenken anregt oder nicht (Vergleiche dazu das in der Verlagsanzeige abgebildete Cover des Bandes und
die Rubrik Zusatzabbildungen unter dem Link https://www.randomhouse.de/Buch/Street-Photography:-
Die-100-besten-Bilder/David-Gibson/Prestel/e518940.rhd). Auch für Gibson fällt jedes Bild mit und ohne
Personen unter den Begriff „Straßenfotografie“, das ohne Inszenierung im öffentlichen Raum gemacht
worden ist. Es geht um Alltägliches, „aus dem zahlreiche und unterschiedliche Fotografen etwas
Außergewöhnliches machen“ (David Gibson S. 6) Sein Band will die Straßenfotografie der
Internetgeneration würdigen, sich aber nicht auf sie festlegen. „Zu einer ausgeglichenen Auswahl gehört
auch die Berücksichtigung dessen, was vorher da war, sodass zu den zahlreichen Bildern aus den letzten fünf
Jahren auch einige ältere hinzukamen, manche sogar aus den 1990er-Jahren und eines, das 1981 entstand
[…]. Niemand bestreitet, dass das digitale Zeitalter die Straßenfotografie verändert hat, nicht nur hinsichtlich
der Art, wie Fotos gemacht werden, sondern vor allem, wie sie wahrgenommen und im Netz verbreitet
werden. Die Technik eröffnet für nahezu jeden neue Möglichkeiten. An vorderster Front steht die
Smartphone-Fotografie“ (David Gibson a. a. O.). Gleichwohl ist Gibson wie schon Henri Cartier-Bresson
davon überzeugt, dass die technischen Veränderungen letztlich unwichtig bleiben, wenn es um die Frage der
Qualität geht. Nach wie vor zählt „nur das Beste […]. Die besten Fotografen haben etwas Wesentliches
gemeinsam: Intelligenz, Tiefe und Menschlichkeit“ (David Gibson S. 6 f.).

Der Band beginnt mit dem im Mai 2012 in Wroclaw aufgenommenen Bild eines älteren gut gekleideten
Herrn im blauen Anzug mit weißem Einstecktuch, der mit seinem braunen Koffer möglicherweise zu einem
Taxi eilt. „Der Mann […] hat weder Probleme, noch kämpft er mit scheinbar widerstrebenden Gegenständen,
abgesehen davon, dass er keine Beine besitzt. Also eine optische Täuschung. Man muss zweimal hinsehen.
Das macht den Reiz der besten Fotos aus“ (David Gibson S. 8). Das Foto stammt von dem 1976 geborenen
Jacek Szust. „Szust gehört einer Gruppe äußerst aktiver polnischer Straßenfotografen an. Er lässt sich
insbesondere von den Fotografen der Fotoagentur Magnum und dem polnischen Kollektiv Un-Posed
anregen. Auf seiner Webseite heißt es, die meisten seiner Fotos seien ›Versuche, das Chaos auf öffentlichen
Plätzen zu erfassen, mit ›Mitgefühl und Freude an jeder Situation‹“ (David Gibson S. 8).

Das im Mai 2016 auf dem Hauptbahnhof von Bangkok durch das Fenster eines Eisenbahnwaggons
aufgenommene Foto von Jad Jadsada projiziert das geflügelte Emblem der thailändischen Eisenbahnen auf
einen jüngeren Mann, der sich auf dem Bahnsteig an ein Abflussrohr lehnt, „nicht als Störung, sondern als
perfekte Ergänzung des Motivs […]. Der Mann […] ist ein perfekt inszenierter Engel. Sein angewinkeltes
rechtes Bein scheint den Knick im Abflussrohr bildlich aufzugreifen. Alles ist im Gleichgewicht, auch die
Gruppe auf der Bank, der Liegende links und das Rohr rahmen den ›Engel‹ ein. Niemand blickt in die
Kamera, die Aufmerksamkeit der meisten scheint auf ein Geschehen in der Ferne gerichtet zu sein […]. Die
beiden Züge im Hintergrund geben […] ein herrliches Setting ab, ihre Farben und Linien sorgen für die
Tiefe“ (David Gibson S. 66). Gibson ordnet das Bild an dreißigster Stelle ein.

Als Bild Nummer 100 hat Gibson das Foto eines gesichtslosen Mannes ausgewählt, der wie Gevatter Tod mit
einer Kapuze über dem Kopf an der Haltestange einer U-Bahn lehnt. „Man fragt sich, wie tollpatschig der
dann aussteigen würde“ (David Gibson S. 206). Christophe Agou, der das Foto 2005 in New York
aufgenommen hat, war Dokumentar- und Straßenfotograf und ist 2015 verstorben.

ham, 22. August 2017

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