Klett-Cotta, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-608-98141-4, 552 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag,
25.00 €

2018 wird immer noch gestritten, wie die Studentenrevolte von 1967 / 68 zu deuten ist und was „68“ für
Deutschland und Europa bedeutet. Wer geglaubt hatte, dass „68“ nach 50 Jahren historisiert werden kann,
muss feststellen, dass die bisher angebotenen Deutungen weit auseinanderliegen und „68“ nach wie vor von
den einen glorifiziert und von den anderen verdammt wird. Neuerdings bedienen sich sogar Vertreter der
AfD der Methoden der APO, „nur diesmal mit dem richtigen Vorzeichen“, wie deren Vertreter betonen. Ihre
„Partei positioniere sich nämlich ausdrücklich rechts gegen multikulturelles Denken und ein ›links-rot-grün
verseuchtes 68er-Deutschland“ (Günter Hofmann, Ein bisschen Revolution. 1968. Deutschland hat sich
seitdem vielfach gehäutet. Allerdings dreht sich der Zeitgeist spürbar. In: Das Parlament, 68. Jahrgang Nr. 2–
3 vom 8. Januar 2018 S. 1).

Deshalb ist es zu begrüßen, dass sich der entscheidende Chronist und ausgewiesen beste Kenner der 68er-
Bewegung erneut des Themas annimmt und Details beisteuert, die bisher noch nicht ausgeleuchtete blinde
Flecken aufhellen und zu der lange anstehenden Gesamtdeutung beitragen können. So hat zwar Gretchen
Dutschke in einem im Publik-Forum Nr. 5 / 2018 veröffentlichten Interview unterstrichen, dass Rudi
Dutschke es falsch fand, dass die RAF in den Untergrund ging. „Bevor Ulrike Meinhof in den Untergrund
ging, hat er versucht, sie davon abzuhalten und ihr gesagt, dass das ein großer Fehler sei. Ich denke, dass die
RAF von einer falschen und sehr negativen Analyse der Gesellschaft ausgegangen ist. Sie haben den Tod von
Benno Ohnesorg, das Attentat auf Rudi und die Notstandsgesetze als Zeichen gesehen, dass die faschistische
Gesellschaft wieder da sei. Rudi sah das Positive: Er sah, dass die antiautoritäre Bewegung immer größer
wurde. Er hat gewürdigt, dass Deutschland immerhin eine demokratische Verfassung hat. Er war sicher:
Wenn man Menschen wirklich überzeugen will, eine demokratische Gesellschaft zu schaffen, dann muss
man mit ihnen reden können. Aber wenn man in den Untergrund geht, ist kein Dialog mehr
möglich“ (Gretchen Dutschke a. a. O. S. 46). Aber dieses Bild des ökosozialen, basisdemokratischen und
gewaltfreien Studentenführers hat Wolfgang Kraushaar um zumindest eine Facette erweitert:

In seiner Einleitung erinnert er an den Nachruf des Ex-Kommunarden Fritz Teufel auf Holger Meins und an
Dutschkes im September 1967 in Frankfurt auf der SDS-Delegiertenkonferenz vorgetragenes Konzept des
bewaffneten Kampfes. Fritz Teufel hatte in seinem Nachruf vom 15. Januar 1980 Dutschkes Ausspruch am
Grab von Holger Meins aufgegriffen und geschrieben: „›Ohne das Attentat, meinte Erich Fried, hätte Rudi
Ulrike Meinhof vom bewaffneten Kampf abgehalten. Ohne das Attentat, meine ich, wäre Rudi vielleicht
selbst diesen Weg gegangen und hätte dem bewaffneten Kampf in den Metropolen, ebenso wie Ulrike,
entscheidende Impulse geben können“ (Fritz Teufel / Wolfgang Kraushaar S. 12 f.). Zwei Wochen später ist
das lange als verschollen geglaubte »Organisationsreferat« aufgetaucht, das Rudi Dutschke zusammen mit
Jürgen Kahl verfasst hatte. „Die entscheidende Aufforderung an die SDS-Delegierten lautete: »Die
›Propaganda der Schüsse‹ (Che) in der ›Dritten Welt‹ muss durch die ›Propaganda der Tat‹ in den
Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich
möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion
des Systems der regressiven Institutionen «[…]. Mit der posthumen Veröffentlichung des
›Organisationsreferats‹ war […] ein regelrechter Knoten geplatzt. Es war einer der ersten blinden Flecken,
der bekannt und zumindest ansatzweise aufgehellt worden war. Dutschke schien nun auf einmal derjenige
gewesen zu sein, der erstmals und in aller Öffentlichkeit zur Bildung einer ›Sabotage- und
Verweigerungsguerilla‹ und damit vielleicht sogar zu einer Art Stadtguerilla, zumindest aber zu einer
Vorform derselben aufgerufen hatte. Wer von nun an behauptete, dass die RAF nichts mit der 68er-
Bewegung zu tun gehabt hätte, lief Gefahr, sich lächerlich zu machen“ (Rudi Dutschke / Wolfgang
Kraushaar S. 14 f.).

Kraushaar behandelt in den zwischen 1992 und 2018 entstandenen Aufsätzen seines Bandes zwar nicht nur
weitere blinde Flecken in der Aufarbeitung der 68er-Bewegung, aber doch eine Reihe markanter. Dazu
gehören

• die maßgebliche Rolle der Romantik für die damaligen Akteure;
• die Frage, warum die Dritte Welt von einem DDR-Flüchtling wie Rudi Dutschke für die
Protestbewegung aufgegriffen worden ist und zum eigentlichen Herzstück der Revolte werden konnte;
• der Plan eines Attentats während des Schahbesuchs am 2. Juni 1967 auf den iranischen Despoten;
• die Folgen der zeitlichen Koinzidenz zwischen dem Tod Benno Ohnesorgs und dem israelischen Sieg
während des Sechs-Tage-Kriegs für die ideologische Weltordnung der bundesdeutschen Linken;
• die lange verborgene Tatsache, dass die Parlamentarismuskritik der APO von einem ehemaligen
italienischen Faschisten formuliert worden war, der sich auf einen präfaschistischen Theoretiker aus der
Mussolini-Ära berief;
• die unterschätzte Rolle von Hans Magnus Enzensberger, der nicht nur teilnehmender Beobachter,
sondern Mitakteur der studentischen Revolte war;
• die immer wieder heruntergespielte oder abgestrittene Rolle der Gewaltaffinität führender Exponenten
der 68er-Bewegung;
• die klärungsbedürftige Rolle der Popmusik für Protest und Rebellion und
• die kaum zu entschuldigende Naivität der 68-er im Umgang mit der Sexualität von Jugendlichen und
Kindern (vergleiche dazu Wolfgang Kraushaar S. 23 ff.).

Kraushaar will seine Aufsätze als „historiographische Sonden verstanden wissen, mit denen es möglich ist, in
〔eine〕 bislang verborgene Tiefendimension der damaligen Bewegung vorzustoßen […] und dadurch Teile
ihres bisherigen Selbstverständnisses erschüttern und vielleicht Anstoß zu einer zwingenden
Neuinterpretation bieten zu können“ (Wolfgang Kraushaar S. 25). Man kann Isabell Trommer voll und ganz
zustimmen, wenn sie schreibt, dass der große Vorzug des Buches darin besteht, dass es die theoretischen
Hintergründe der 68-er und ihre „politischen Denkbewegungen ausleuchtet“ (Isabell Trommer, Viel mehr als
ein Aufstand. Wie wird die Studentenrevolte von 1968 fünfzig Jahre danach bewertet? … Achtundsechzig
war heterogener und provinzieller, als viele glauben. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 125, 4. Juni 2018, S. 12).

ham, 17. Juli 2018

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