Eine Einführung in Schwierigkeiten, Herrschaft zu begreifen
Herausgegeben von Uta v. Winterfeld
VSA: Verlag Hamburg, 2015, ISBN 978-3-89965-600-8, 316 Seiten, Broschur, Format 23 x 15,5 cm, € 26,80
Der 1937 in Schwenningen am Neckar geborene langjährige Professor für empirische Theorie der Politik am Otto – Uhr Institut der FU Berlin, Mitbegründer des Komitees für Grundrechte in der Demokratie und
Menschenrechtsaktivist Wolf-Dieter Narr wurde von mir bei seinen alljährlichen ein oder zwei Vorträgen im Hospitalhof Stuttgart seit 1987 in aller Regel als einer der letzten aufrechten Demokraten oder als der mutmaßlich letzte Radikaldemokrat vorgestellt. Sein schon vor 25 Jahren nach einer Vorlesung über
„Probleme der Herrschaftstheorie heute“ begonnener, damals liegen gebliebener und jetzt in einer
überarbeiteten Fassung von Uta v. Winterfeld herausgegebener Grundlagentext „Niemands-Herrschaft“
begründet warum und zeigt darüber hinaus seine durch das eigene Leben gedeckte Haltung auf: „Fast wie zu feudal-absolutistischen Zeiten, da Grundherrn, Kirchenherrn, Klöster, Ritter und ein vielfältiges
Adelsgetümmel von den Bauern materielle Leistungen abverlangten – der Zehnte ist dafür sprichwörtlich
geworden -, wird die überwiegende Mehrheit aller Menschen auf der Erde irgendwie beherrscht. Oft können wir herrschend ausbeutende Institutionen und deren Repräsentanten angeben. Ungleich mehr und wichtiger aber sind in einer >>global<< genannten Welt riesige Organisationen und Apparate, deren Funktionen wir unterworfen werden.
Man denke an die weltdurchwirkende kapitalistische Ökonomie und ihre transnationalen, miteinander
verflochtenen Konzerne. Selbst wenn wir nominell frei sind und angeblich >>die<< Menschenrechte
genießen, sind wir ohnmächtig. Auf Personen zu zeigen ist oft wenig sinnvoll, weil die >>Mächtigen<< der Erde - die Präsidenten, die KanzlerInnen und sonstigen Regierungschefs nebst Ministern, nicht zu reden von der Menge der Manager - zwar hinsichtlich von Einzelheiten und dem Schicksal von Personen einflussreich sind, aber sie sind ihrerseits mit dem goldenen Löffel im Mund Unterworfene. Sie können weder die Ströme des Geldkapitals dirigieren noch das nicht selten tödliche Sicherheitsmanagement des Pentagon verändern. Trotz großem Ärger, auch Enttäuschung … kann man … meist korrekt nur sagen: armer Obama … Mich irritiert an den meisten … Politikern nicht das, was sie anstellen könnten. Mich irritiert vielmehr, dass sie das genau nicht tun können, was sie von Amts wegen oder qua Behauptung tun oder tun müssten. Bedeutet >>Macht<< im Sinne von Hannah Arendt Machen-, d. h. Gestaltenkönnen, dann täuschen Machtpfauenräder … Sie sind bestenfalls begrenzt auf die Bedeutung für eine Person. Diese erhält … eine Postion, und deren materielle und immaterielle Anerkennung. Darum der … bei H. Arendt …auftauchende Ausdruck: Niemandsherrschaft. Es gilt herauszufinden, wie es sich mit Herrschaft im Singular und mit Herrschaften im Plural verhält. Durchgehend gültig bleibt: Herrschaft von Menschen über Menschen und deren natürlichen wie sozialen Bedingungen ist und bleibt in allen Formen, Institutionen und Personen ein Ärgernis. Deshalb befasst sich dieses Buch damit“ (Wolf-Dieter Narr, S. 9f.).
Narrs Titel „Niemands-Herrschaft“ und eine erste flüchtige Lektüre von seinem Prolog schien für einen
kurzen Moment an Thomas Meyers Suche nach der Macht in den Büros der Bonner Republik zu erinnern.
Meyer hatte davon erzählt, wie er die Macht in Bonn gesucht und weder bei den Ministern, noch im
Vorzimmern des Kanzlers noch beim Kanzler selbst gefunden hatte. Später hat er daraus den Vorschlag
abgeleitet, Politik als Theater, als Politainment, als Politikdarstellung zu begreifen. Aber schon das sich bei der genaueren Lektüre der ersten drei Kapitel einstellende und auch von Uta v. Winterfeld eigens notierte Erstaunen, dass Narr auch die politische Theorie als Herrschaftsinstrument begreift, deutet an, dass er bei keiner noch so eleganten Interpretation der Niemands-Herrschaft stehen bleiben, sondern sie wenn irgend möglich verwandeln, abbauen und minimieren will: „Theorie ist von dieser Welt nicht jenseits von ihr. Sie ist nicht immun gegen den Zeitgeist, nicht immun gegen herrschaftliche Vereinnahmung. Ja, mehr noch, sie gestaltet, sie schafft derartiges mit. Und die einkreisende Bewegung hin zu einer >>Theorie der Herrschaft<< sieht sich mit dem tückischen Phänomen konfrontiert, dabei selbst noch theoretisierend-herrschaftlich zu sein oder zu werden“ (Uta v. Winterfeld S. 85). Warum ist dann aber eine Herrschaftstheorie notwendig und was heißt das, Herrschaftstheorie? Weil es Arbeitsteilung, Ungleichheit, Aggression, Macht und Gewaltausübung von Menschen über Menschen und eine institutionelle Verfestigung von Machtverhältnissen gibt, die „wir Herrschaft nennen“. Eine Theorie der Herrschaft hätte „die Herrschaft und ihre unter Menschen und ihren sozialen Zusammenhängen wirkenden Motive und treibenden Motoren zu ergründen“ und wenn „menschenmöglich zu minimieren“ (Wolf-Dieter Narr, S. 89).
Kapitel V ist als „erste Nachricht vom Staat“ den Themen Gewalt, Gewaltmonopol und Legitimität
gewidmet, Kapitel VI den Instrumenten der Herrschaft, Kapitel VII dem Markt, dem Weltmarkt und der
Verflüchtigung von Politik, Kapitel VIII der historischen Ontologie und Psychologie von (staatlicher)
Herrschaft und Kapitel IX der (liberalen) Demokratie als Herrschaftsform. Im IX. Kapitel fasst Narr die Kennzeichen der liberalen oder repräsentativen Demokratie in fünf ambivalenten und dazuhin ironischen Schlussfolgerungen wie folgt zusammen:
„ I. Alle bestehenden Demokratien sind demokratisch nominell. Sie sind keine selbstbestimmten Herrschaften
der Bevölkerung eines Landes als politische Subjekte …
II. Den liberalen und repräsentativen, also durchgehend vermittelten Als-Ob-Demokraten, liegt die
kapitalistische Vergesellschaftung zugrunde …
III. Die Geltung der Verfassung wird durch übergeordnete Verträge à la Europäische Union und/oder die
ungeschriebene Verfassung des Weltmarkts und ihre bundesdeutschen Effekte bis zur Unzugänglichkeit
verändert …
IV. Das staatlich beanspruchte und legitimatorisch vorab abgesegnete Monopol legitimer physischer
Gewaltsamkeit behauptet als die allgemeine Sanktionsinstitution des Rechtsstaats eine überall gegenwärtige Präsenz. Die gegebenen liberalen Normen des Verfassungsstaats werden dadurch zusätzlich gefährdet, dass die staatlich allgemeine und unzureichend benutzbare Gewaltpräsenz eine staatliche Ersatzpolitik qua Gewalteinsatz erlauben …
V. Welch ein, wenn auch klassenpolitisch halb gelähmtes Versprechen: Verantwortliche Politik! Heute klingt dieser (klassen)bürgerlich emphatische Slogan, als spiele man die 9. Symphonie und ihren letzten Satz auf einem Leierkasten …“(Wolf Dieter Narr, S. 281f.).
Als Gegenkräfte macht Narr in nicht wenigen liberalen Demokratien insbesondere Bürgerinitiativen und
Formen zivilen Ungehorsams aus. Zugleich sind seiner Auffassung nach „selbst im Rahmen der liberalen
Demokratie die Möglichkeiten nicht ausgeschöpft, ihren Defiziten abzuhelfen … Eine Politisierung der
Bürokratie und eines Gutteils der Strukturen und Funktionen geltender Privatheit stünde an erster Stelle. Anders lässt sich das auch nicht verwirklichen, was angesichts der Neuen Technologien und ihrer zusätzlichen Gefährdungen des privaten Bezirks der Person als >>informationelles
Selbstbestimmungsrecht<< 1993 vom bundesdeutschen Verfassungsgericht begründet worden ist.
Zweitens könnten demokratische Prozesse, Beteiligungen nicht zuletzt an technischen Großprojekten nur
vermehrt in Gang kommen, wenn ihnen neue Räume geöffnet würden. Eine demokratische Landnahme wäre
nur möglich, würden bürokratische Einrichtungen aufgegliedert, institutionelle Teilautonomien und
Teilautarkien zugestanden und dezentral die Fülle der Aufgaben verkleinert.
Drittens wären mit beträchtlichen demokratischen Rationalitätseffekten >>langsamere<<, atemvollere
Entscheidungs- und Willensbildungsverfahren zu installieren …
Viertens besteht die schwierigste Aufgabe darin, die schier ungehemmte Entwicklung in die Fülle der Leere und die Leere der Fülle zu bremsen, gar zu lenken. Nur wenn eine große Mehrheit zu diesem
unwahrscheinlichen Schluss käme, wäre ein solcher Prozess einzuleiten … Schon an den intellektuellen
Voraussetzungen hapert es. Unseres Wissens gibt es keine größere Gruppe von Wissenschaftlerinnen,
kritischen politischen Ökonomen in diesem Falle vor allem -, ja, selbst rechnete man die Ökonomen
zusammen -, die sich in nüchterner Fantasie dem Problem eines in sich dynamischen, aber nicht expansiven Wachstums zuwendete oder von Placebo-Vorschlägen abgesehen schon zugewendet hätte …
Die Strukturkrise der liberalen Demokratie zu markieren, heißt nicht, zu empfehlen, sie ob ihrer Mängel vollends abzuschaffen … Stattdessen wäre eine allerdings nicht wahrscheinlichen Rettung
anzustreben“ (Wolf-Dieter Narr S. 284-86).
Das abschließende X. Kapitel diskutiert die Doppelfrage, ob die Folgen der ineinander verwobenen
globalen Herrschaft von Kapital, Imperien und eigendynamischer Technologien mit human verlässlichen
Kriterien und Prozeduren aufgebrochen und abgemildert werden können und ob Möglichkeiten bestehen,
„Herrschaft(en) gigantomaner Sach- und struktureller Machtkomplexe unter politische Kontrolle zu bringen, also menschlich handelnd primär zu bestimmen“ (Wolf- Dieter Narr S. 293). Es schließt mit einem anarchischen Ausblick auf den unwahrscheinlichen, aber möglichen Rückbau der Niemands-Herrschaft. „ Heute kommt fast alles darauf an, die technologischen Vorkehrungen hartnäckig umzufunktionieren. Heute zählt fast mehr als andere Versuche, die riesigen, Menschen anverwandelnden Sachzusammenhänge qualifizierend zu verkleinern … Wie wär's, man höbe Schritt um Schritt mit umfassenderem Ziel mit dem an, was es noch nie oder nur in wenigen Segmenten gab: Einer Demokratie kleiner gemachten Gemeinden von unten nach oben, eingeschlossen eine entsprechende Steuer- und Haushaltspolitik samt den nötigen ökonomischen Seiteneffekten … Selbstverwaltung der Arbeit und ihrer Grenzen, rätedemokratische Organisations- und Produktionsformen verlören dann ihren entfremdenden, demokratisches Selbstbewusstsein zerstörenden Einfluss. An die Stelle der ökonomisch primären Versachlichung mit den economics and policies of scale träte Mit- und Selbstbestimmung. Darum würde zum ersten Mal in neuer Geschichte ein Primat der Teilnahme überschaubarer selbst organisierter Politik realisiert. Sollen Herrschaften gigantomaner Sach- und struktureller Machtkomplexe unter politisch primäre Kontrolle gebracht werden, so gilt es, sie menschlichem Handeln wieder zugänglich zu machen … Gelänge es nicht, das stupende, das täglich erneuerte Ausmaß der Innovationen zu humanisieren, und das heißt sie sozial und insbesondere politisch verantwortlich zu fassen, also entsprechen human fassbar und kontrollierbar zu organisieren, dann wären alle noch so erstaunlichen Innovationen ohne Wert. Schlimmer noch: sie enteigneten die Menschen und ihre Fähigkeiten diesseits und jenseits tragischer Verhängnisse. Darum lautet das erste Gebot der politisch, sozial und organisatorisch einfallslosen Hypermoderne unserer Tage und ihrer innovatorischen Hybris: Politisch-soziale und organisatorische Aneignung und konsequent human reflexiv bezogene Innovationen“ (Wolf-Dieter Narr S. 309 -313).
ham, 10.9.2015
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