Hrsg. vom Institut für moderne Kunst Nürnberg mit Texten von Ludwig Fels,Harriet Zilch sowie einem Gespräch zwischen Nicola Graef und Winfried Baumann und Kurzbeschreibungen von Winfried Baumann und Anke Schlecht
Hirmer Verlag, München, 2014, ISBN 978-3-7774-2218-3,352 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, Klappenbroschur, Format 24 x27 cm , € 29,90 (D) / SFr 40,00
„Tippelbrüder“ hat man noch vor 25 Jahren obdachlose Randständige genannt, noch früher Landstreicher, Vagabunden , Tramps oder fahrendes Volk. Sie sind von Dorf zu Dorf gezogen, haben vornehmlich an Pfarr – und gelegentlich auch an Privathäusern angeklopft und um ein Vesper ,etwas zu Trinken und die Überlassung von ein paar Mark gebeten. Dabei haben sie mehr oder weniger fantastische Geschichten erzählt, die begründen sollten, warum sie auf der Straße gelandet und ohne Arbeit sind ,weshalb sie gerade heute mit dem Zug nach Tübingen oder München oder Hamburg fahren müssen und warum ihnen dazu so und so viele Mark fehlen. Manche Pfarrherren haben die Höhe ihres Obolus an der Qualität der erzählten Geschichten bemessen. Andere bestanden darauf, dass sich dieTippelbrüder im Pfarrgarten nützlich machen und ihnen dafür für zwei, drei Tage freie Kost und Logis gewährt. In den Wintermonaten konnten sie in Arbeiterkolonien wie in der im Schwäbischen Wald zwischen Backnang und Murrhardt gelegenen Erlacher Höhe Unterkunft, Arbeit und Brot und sozialtherapeutische Begleitung finden.
Wenn Winfried Baumann seine Wohn -und Hilfssysteme für Obdachlose „Instant Housing“, „Instant Cooking“, „Instant Help“, „Fußbad für alle“, „Instant Housing Shelter“und „Instant Housing Dresscode“ unter dem Label „Urban Nomads“ zusammenfasst und sie bei Aktionstagen mit Berbern unter anderem vor dem Bahnhof Zoo in Berlin, auf dem Odeonsplatz in München, im Andräpark und vor dem Kunsthaus in Graz, bei Kochaktionen vor dem Kunstgebäude auf dem Schlossplatz in Stuttgart und bei der medizinischen Betreuung von Obdachlosen an der Frauentor – Mauer und am Hauptbahnhof in Nürnberg zum Einsatz bringt, zeigt das, dass Nichtsesshafte heute zunehmend in Städten heimisch geworden sind und dort für sich die möglicherweise besseren Überlebensmöglichkeiten sehen. Baumann reagiert mit seinen seit der Jahrtausendwende mit höchstem ästhetischen Anspruch entwickelten Wohn – und anderen Hilfssystemen für urbane Nomaden auf diesen Wandel und ist mit Ihnen seither in ganz Europa zu Gast. Sie nehmen das von ihm vor der Jahrtausendwende bei seiner Serie der „Instant Memorials“entwickelte und 1999 in seiner groß angelegten Ausstellung im Hospitalhof Stuttgart vorgestellte modulare System auf und differenzieren es aus. Bei seinen„Instant Memorials“ ist Baumann von fahrbaren gekachelten Schränken ausgegangen. Diese Schränke können seiner Vorstellung nach mit unterschiedlichstem Ausstellungsgut bestückt werden und auch in kleinen Orten und in dörflichen Rathäusern zum Einsatz kommen. Bei seinen Wohn-und Hilfssystemen für urbanen Nomaden lehnt er sich an die Grundform von fahrbaren Mülltonnen an. Er baut sie aber nicht aus Plastik, sondern aus Leichtmetall. Auch die Grundidee für den Katalog setzt die in Stuttgarter vorgestellte Katalog – Innovation fort: Der Katalog gleicht eher einem Sortimenten -Katalog für Industrie- und Warengüter als einen klassischen Kunst -Katalog. Baumann listet die Einzelexponate im Katalog im Kontext ihrer Serien auf , versieht sie mit einer Seriennummer und lädt zur Bestellung ein. Das auf das Wesentliche reduzierte Basismodell der Serie „Instant Housing“ dient als Schlafplatz und wird im Katalog wie folgt ausgeschrieben: „WBF 240-H, Wohnbehälter, fahrbar mit Haube. Ausstattung: ausziehbare, gepolsterte Liegefläche, Erste-Hilfe-Paket, Spiegel, Trillerpfeife, Taschenmesser, Taschenlampe, Kunststoffhaube mit Sichtfenster. Masse: geschlossen 101x 58 x69 cm / offen 198x58x 102 cm. Material: Leichtmetall. Gewicht:ca. 25kg. . Zul. Gesamtgewicht: 110 kg. Volumen: 240 l… (Serien Nr.: 971-142-HOU- MAO 1)“. Es kann „für die spezielle Lebenssituation seines Bewohners durch individuelle Zusatzausstattungen wie z. B. mit Netzanschluss und autarker Stromversorgung, in diversen Sonderlackierungen, mit Doppelliege, als Familien-oder auch als Luxusversion modifiziert werden.“ ( Winfried Baumann/ Anke Schlecht). Vergleichbares gilt auch für die anderen Systeme. Im zweiten Teil des Katalogs folgen die im Kunstkontext erwarteten Essays ,die biografischen Angaben und sehenswerte Fotostrecken von den Aktionen.
ham,13.7.2014