Kösel-Verlag, München, 2014, ISBN 978-3-466-37122-8, 126 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag,
Format 19 x 12,5 cm, € 12,00
Für den deutschen Politikwissenschaftler und -berater Werner Weidenfeld hatte Europa anders als in Zeiten von
François Mitterrand, Jacques Delors und Helmut Kohl in den ersten und mittleren Jahren des zweiten
Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts ein Führungs- und ein strategisches Defizit und ist von einer Krise in die
andere getaumelt. Gleichwohl kann die Integration Europas als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden.
Deshalb lohnt es sich für ihn, das strategische Defizit anzugehen und über die Stärkung Europas
nachzudenken.
Nach Weidenfeld sollte dabei an den Geist des europäischen Gipfels in Leaken vom Dezember 2001 und an
die Konferenz von Messina angeknüpft werden, bei der das Konzept der römischen Verträge auf den Weg
gebracht wurde. Wenn man beide Aufbruchs-Ideen verbinden will, sollte man wieder neu über die
europäische Identität, die demokratische Legitimation von Macht, eine neue Führungskultur und die
Übernahme weltpolitischer Mitverantwortung in einer multipolaren Welt nachdenken.
Auf die Welt des Sports zu setzen wäre eine Möglichkeit, neu für Europa zu begeistern. „Das Thema ›Sport‹
tauchte bereits vor etlichen Jahren in europäischen Programmen wie ›Jugend in Aktion‹ […] auf. Im Jahr
2008 veröffentlichte das Europäische Parlament sogar ein ›Weißbuch Sport‹. Die europäische Dimension des
Sports sollte eine strategische Ausrichtung und damit auch eine größere Aufmerksamkeit erhalten – so
wollten es die Parlamentarier […]. Die Europäische Union hat die Bedeutung des Sports erkannt und hat
sogar vertragliche Kompetenzen erhalten. Aber in der Umsetzung dieser neuen Möglichkeiten blieb sie
bisher grau, bürokratisch, unscheinbar. Man muss ihr den dringenden Rat geben: Wenn sie die Herzen der
Europäer erreichen will, dann sollte sie bald eine Strategie der Begeisterung erarbeiten lassen. Dieses neue
Europa des sportlichen Aufbruchs hätte großartige neue Chancen“ (Werner Weidenfeld S. 113).
Wenn man Weidenfeld folgt, war nach dem Zweiten Weltkrieg mehr noch als der gemeinsame Euro der
Aufbau eines friedlichen Europas integrations- und identitätsstiftend. Als der Konflikt zwischen Ost und
West beendet war, ist diese identitätsstiftende Größe weggefallen. Aus seiner Sicht könnten die
Herausforderungen der Globalisierung der Faktor werden, die die weitere Integration zwingend machen. Nur
eine in westliche strategische Partnerschaften eingebundene EU kann schlüssige Antworten auf die
Herausforderungen der Globalisierung liefern: Nur „die Gemeinschaft ist stark genug, den einzelnen Staaten
Schutz, Ordnung und Individualität zu garantieren. Europa hat das Potenzial zur Weltmacht. Allerdings muss
dieses Potenzial angemessen organisiert und mit dem Geist europäischer Identität erfüllt werden“ (Werner
Weidenfeld S. 116).
Schließlich und nicht zuletzt könnte eine differenzierte Integration der Mitgliedsstaaten und eine stärkere
Beteiligung der Bürger an der Macht etwa in Form der Direktwahl eines Präsidenten zu einer neuen kulturell
fundierten politischen Ordnung und zum Beginn einer neuen Epoche führen.
Weidenfeld hat zwar schon 2014 an das Wiedererstarkten versunken geglaubter Prägungen erinnert, so an die
religiös wie kulturell bestimmten Räume Europas, an die Renationalisierungen und an die ethnisch
orientierten Machtambitionen (vergleiche Werner Weidenfeld S. 75). Aber der Weltgeist und die politische
und soziokulturelle Großwetterlage machen Sprünge und bleiben unberechenbar. Ob Weidenfeld 2014
geahnt haben kann, dass Viktor Orban im Februar 2018 dunkle Wolken wegen der Einwanderung über
Europa liegen sieht, glaubt, dass westliche Nationen aufhören zu existieren und Ungarn die letzte Bastion
gegen die „Islamisierung“ bleibt, während Europa nicht einmal bemerkt, „dass es überrannt wurde“ (zitiert
nach Deutsche Wirtschaftsnachrichten vom 19.02.2018, vergleiche dazu https://deutsche-wirtschaftsnachrichten.
de/2018/02/19/viktor-orban-der-westen-wird-fallen/), bleibt zumindest offen. Mit seiner
Prognose vom 30. Juni 2014, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Großbritannien Mitglied der Europäischen
Union bleibt, bei 100 Prozent liegt, lag er aber, jedenfalls aus heutiger Sicht, zu 100 Prozent falsch („Europa
ist eine kopflose Weltmacht“ Tim Rahmann im Gespräch mit Werner Weidenfeld. In: „Die
Wirtschaftswoche“, vergleiche https://www.wiwo.de/politik/europa/politikwissenschaftler-wernerweidenfeld-
grossbritannien-bleibt-in-der-eu/10262786-3.html).

ham 1. März 2018

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