Sep 17

Katalog zu den gleichnamigen Ausstellungen im Bucerius Kunst Forum, Hamburg und der KBr Fondación MAPFRE, Barcelona, in Kooperation mit der Fondation Henri Cartier-Bresson, Paris, herausgegeben von Kathrin Baumstark und Ulrich Pohlmann. Mit Beiträgen von Nadya Bair, Kathrin Baumstark, Clément Chéroux, Ulrich Pohlmann, Valérie Vignaux und Deborah Willis

Hirmer Verlag, München; Bucerius Kunst Forum, Hamburg; Fondación MAPFRE,Madrid, 2024; ISBN 978-3-7774-4347-8, 288 Seiten, 270 Abbildungen der ausgestellten Werke, Hardcover, gebunden, Format 28,6 x 22,4 cm, € 49,90 (D)/€ 51,30 (A)

Nach Kathrin Baumstark, der Direktorin des Bucerius Kunstforums, und José Manuel Inchausti Pérez, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Fondación MAPFRE, gibt es kaum einen besseren Titel als Watch! Watch! Watch!, mit dem die Arbeitsweise des französischen Ausnahmefotografen Henri Cartier-Bresson auf den Punkt gebracht werden könnte. „Der stille Beobachter, der alles gleichzeitig wahrzunehmen scheint und sich doch nie bemerkbar macht, erklärte in einem Interview, dass für ihn ‚Sehen alles ist‘. Auch als er 1994, nachdem er die Fotografie längst aufgegeben hatte, gefragt wurde, wie er seine Tage verbringe, antwortete er: ‚Ich schaue‘ “ (Kathrin Baumstark, José Manuel Inchausti Pérez, S. 7).

Die andere lange gepflegte Möglichkeit, die Fotografien von Henri Cartier-Bresson zu beschreiben, bestünde darin, an die von ihm selbst geprägte Idee des alles entscheidenden Augenblicks zu erinnern. Hätte er nur eine Sekunde früher oder später auf den Auslöser gedrückt, hätte er den Sprung des Mannes über eine riesige Pfütze hinter dem Gare Saint-Lazaire, Place de l’ Europe in Paris nicht mehr erwischt: Der Mann würde nicht der springenden Figur entsprechen, die auf einem Plakat im Hintergrund zu sehen ist. Und auch das perfekte Spiegelbild des springenden Mannes in der spiegelglatten Pfütze wäre der Nachwelt nicht erhalten geblieben (vergleiche dazu https://sammlung-online.museum-folkwang.de/eMP/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=96022&viewType=detailView). Für seinen Schüler Frank Horvat ist Cartier-Bresson der Papst, auch wenn er selbst aus der Sicht seiner ‚Religion’ immer ein Häretiker war. „Ein Mann, der über eine Pfütze springt, der alte Matisse inmitten einer Schar von Tauben, ein Sonntag am Ufer der Marne: Diese Schwarz-Weiß-Fotografien gehören zu unserem Bilderkodex und haben unsere Vorstellung von Fotografie-Kunst geprägt“ (Frank Horvat in Luca Fiori, Henri Cartier-Bresson: https://de.clonline.org/news/kultur/2014/07/15/henri-cartier-bresson; vergleiche dazu https://www.buceriuskunstforum.de/ausstellungen/watch-watch-watch-henri-cartier-bresson und https://www.feuilletonfrankfurt.de/2024/07/31/retrospektive-des-franzoesischen-foto-kuenstlers-henri-cartier-bresson/).

Wofür man sich auch immer entscheidet, einig ist man sich darin, dass in seinem Werk das einzelne Schicksal, der Mensch und das Leben im Mittelpunkt stehen. So hat er sich 1937 bei der Krönung König Georges IV. für das Bild einer Zuschauerin auf den Schultern von zwei Männern und Bildern von anderen Zuschauern entschieden. Nach seiner im dritten Versuch gelungenen Flucht aus der deutschen Gefangenschaft in Ludwigsburg versteckt er sich auf dem Land, buddelt seine vergrabene Leica wieder aus und fotografiert 1944 die Befreiung Frankreichs, Kollaborateurinnen und Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre (vergleiche dazu https://www.peterfetterman.com/artists/75-henri-cartier-bresson/works/36652-henri-cartier-bresson-jean-paul-sartre-1946/). Im Januar 1948 fotografiert er in Delhi Mahatma Gandhi, der durch seinen Hungerstreik die verfeindeten Parteien zu versöhnen suchte, kurz vor seiner Ermordung durch einen extremistischen Hindu (vergleiche dazu https://www.magnumphotos.com/newsroom/religion/henri-cartier-bresson-india-death-gandhi/). 1948, 1949 und 1958 folgen die letzten Tage der Kuomintang in Peking und die Übernahme des neuen Regimes in Shanghai (vergleiche dazu https://www.cafelehmitz-photobooks.com/cartier-bresson-henri-china-1948-1949-1958.html). 

1953 ist Henri Cartier-Bresson der erste Fotograf, der nach dem Tod Stalins die Sowjetunion bereisen darf. Anders als noch in den 1930er-Jahren steht er dem Kommunismus nicht mehr nahe; er lässt sich aber auch nicht von dem antikommunistischen Zeitgeist beeindrucken und konzentriert sich auf den Alltag der Männer und Frauen (vergleiche dazu https://www.digitalphoto.de/news/ausstellung/russia-fotografien-von-henri-cartier-bresson-0). Der Mauerbau 1962 in Westberlin (vergleiche dazu https://www.pinterest.de/pin/henri-cartierbresson-west-berlin-1962-the-berlin-wall–613545149212750343/ und https://www.artnet.de/künstler/henri-cartier-bresson/vor-der-berliner-mauer-im-westen-IDNCCmvxhMW_1tY6T9uy1g2) geht ebensowenig an ihm vorbei wie Fidel Castros Cuba (vergleiche dazu https://www.slightly-out-of-focus.com/product-page/cuba-life-magazine-henri-cartier-bresson-march-15-1963), das Schwarze und das Weiße Amerika (vergleiche dazu Henri Cartier-Bresson, Easter Sunday in Harlem, 1947: https://www.metmuseum.org/art/collection/search/270095, Martin Luther-King: https://www.henricartierbresson.org/en/actualites/retratos-portraits-at-the-edificio-da-alfandega-porto/ und Malcolm X: https://www.instagram.com/blackhistory/p/C4RTeyFvXVZ/.

Die letzten Kapitel sind Ritualen der Macht, großen Ereignissen (vergleiche dazu Henri Cartier-Bresson, Charles de Gaulle, French President, Town of Millau, 1961: https://www.mutualart.com/Artwork/Charles-de-Gaulle–French-President–Tow/877FC497D7C19721), Porträts (vergleiche dazu Henri Cartier-Bresson, Marcel Duchamp, um 1960: https://www.artnet.de/künstler/henri-cartier-bresson/marcel-duchamp-CA121WsaTxAeXLf-Vm9huw2), Reisereportagen und den entscheidenden Netzwerken und Magazinen gewidmet, die seine Fotografien vermarktet haben:

„Während das Vermächtnis Henri Cartier Bressons und des entscheidenden Augenblicks fortbesteht, sind wichtige Angehörige seines Netzwerks – darunter Redakteur:innen, Verleger:innen und Fotolaborant:innen – heute weitgehend vergessen, da Fotografiegeschichten individuelle Schöpfer:innen und ikonische Fotograf:innen nach wie vor höher schätzen als die kooperativen Anstrengungen, die für die Entwicklung der Fotografie als Technologie und als soziale und materielle Praxis zentral waren. Die Produktionsgeschichte von The Decisive Moment zeugt nicht nur von der Bedeutung des entscheidenden Netzwerks, sondern auch von der longe durée von Cartier-Bressons fotografischem Verfahren, das lange vor dem Klicken des Verschlusses einsetzte und dem viele Phasen der Postproduktion folgten, oft ohne die Beteiligung des Fotografen“ (Nadya Bair, S. 274).

ham, 16. September 2024

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