Europa Verlag, München, 2019, ISBN 978-3-95890-278-7, 288 Seiten, Pappband mit geradem Rücken, 22,1 x 14,1 cm, 28,00 € (D) / 28,80 € (A)

Seit den 1970er-Jahren werden die globalen Kosten des auf reine Zweckrationalität, bloße instrumentellen Vernunft und möglichst hohe Gewinnerzielung der Anteilseigner setzenden Taylorismus und Fordismus überdeutlich (vergleiche dazu Adelheid von Saldern, Rüdiger Hachtmann, Das fordistische Jahrhundert. Eine Einleitung. In: Zeithistorische Forschungen Heft 2/2009, S. 1 – 7; https://zeithistorische-forschungen.de/2-2009/4508). Die erreichten Wohlstandsgewinne sind national und international mehr als ungleich verteilt. Arbeit wird als entfremdet erlebt und der hohe Ressourcenverbrauch, „den die Massenproduktion und ein ungezügelter Massenkonsum der Industriegesellschaften nach sich gezogen haben“, als umweltschädlich und zukunftsgefährdend (vergleiche dazu Adelheid von Saldern, Rüdiger Hachtmann a. a. O. S. 7). Deshalb freut man sich, wenn alternative Wirtschaftsmodelle in den Blick kommen und ist gespannt, ob die in Volkmar Kochs „Holistic Company“ vorgestellte Vision wieder einmal nur die bestehenden Verhältnisse prolongieren oder die objektiven Arbeitsbedingungen tatsächlich verändern will.

Koch greift in seiner Vision eines mit Liebe geführten Unternehmens auf Hauptlinien des 1926 von Jan Christiaan Smuts (1870 – 1950; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Jan_Christiaan_Smuts) eingeführten Begriff des Holismus zurück und füllt ihn mit der Vorstellung einer den ganzen Kosmos strukturierenden Liebe. Aber er verzichtet darauf, Smuts’ einschlägige Publikation „Holism and Evolution“ in seinem umfangreichen Literaturverzeichnis von über 300 Titeln aufzuführen (vergleiche dazu https://reflexus.org/wp-content/uploads/Smut-Holism-and-Evolution.pdf). Damit folgt er dem in Berlin geborenen jüdischen Psychiater, Psychotherapeuten und Mitbegründer der Gestalttherapie Fritz Perls (1893 – 1970; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Perls). Perls ist nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 zunächst in die Niederlande und dann 1934 nach Südafrika geflohen und hat dort „Holism and Evolution“ begeistert rezipiert. 

Er hat mutmaßlich deshalb nicht auf Smuts verwiesen, weil „Holism and Evolution“ auch faschistoid verstanden werden konnte: Smuts hat als Premierminister der Südafrikanischen Union zwischen 1939 und 1948 die Rassendiskriminierung mit dem Verweis auf den Holismus gerechtfertigt und Adolf Meyer-Abich konnte„Holism and Evolution“ 1938 im nationalsozialisitschen Deutschland veröffentlichen, obwohl Smuts als Justiz- und Premierminister von Südafrika eine antideutsche Politik betrieben und Deutschland 1939 den Krieg erklärt hat. Im für die deutschen Ausgabe verfassten Vorwort spricht Smuts vom „ ›dunklen Übergang, den unsere Rasse jetzt antritt‹, den ›Weg zur Lösung und Errettung über die Pflege, die Reinigung und Bereicherung der menschlichen ­Persönlichkeit‹ und die ›höchsten Per­sönlichkeitsver­treter‹, denen der Staat zu dienen habe … Damit fühlten sich die Nationalsozialisten wohl in ihren Absichten präzise dargestellt … Adolf Meyer-Abich … spricht von einer ›Krisenepoche‹ und meint: ›Wenn jedoch die völkischen und rassischen Träger dieser untergehenden Kulturen in ihrer kulturstiftenden Kraft noch ungebrochen sind, dann entstehen gleichzeitig neue Ideologien, welche aus der Krisenzeit, die auch zum Untergang führen kann, einen historischen Wendepunkt machen‹“ (Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Jan Christiaan Smuts und der Holismus mit zentralen Stellen aus seinem Buch „Holism and Evolution“. In: Gestaltkritik 1/2007; http://www.gestalt.de/smuts_holismus.html). Damit ging holistisches Gedankengut auch in die faschistische Staatsideologie ein (vergleiche dazu auch Was ist Holismus? – Bedeutung, Unterschiede und Beispiele. In: Jura-Forum vom 20.10.2020; https://www.juraforum.de/lexikon/holismus). Was verstand Smuts unter Holismus?

„Smuts formulierte den Holismus als eine zusammenhängende Theorie der Natur- und Geisteswissenschaften. Als solche umfasst der Holismus drei Ebenen:

1. Ganzheitlichkeit ist eine Betrachtungsweise, eine Erkenntnistheorie. Der Mensch strukturiert die ihn umgebenden Einzelteile als sinnhafte Gefüge. In dieser Hinsicht entspricht der Holismus der ›Grazer Schule der Gestaltpsychologie‹ und der von ihr formulierten ›Produktionsqualität der Gestalt‹: Erkenntnis oder Wahrnehmung ist keine Zusammensetzung aus Einzelteilen, sondern die Auffassung von Ganzheiten, Formen oder Sinnstrukturen. Smuts bezieht sich bei diesem Aspekt auf Immanuel Kant.

2. Ganzheitlichkeit ist eine den Dingen innewohnende Eigenschaft. So ist z. B. ein Stein nicht die bloße Anhäufung einer bestimmten Anzahl von Atomen. In dieser Hinsicht entspricht der Holismus der ›Berliner Schule der Gestaltpsychologie‹, die die ›Systemqualität der Gestalt‹ betonte: Das Ganze ist mehr und etwas anderes als die Summe seiner Teile (›Übersummativität‹). Von hier aus ergibt sich auch eine Verbindung zur Feldtheorie. Smuts bezieht sich bei diesem Aspekt auf Platon.

3. Ganzheitlichkeit ist etwas, das angestrebt wird. Die Dinge streben nach Vervollständigung, sie streben danach, ein Ganzes zu werden. In dieser Hinsicht entspricht der Holismus der ›Leipziger Schule der Gestaltpsychologie‹ und ihrer Betonung des Willens, um zu einer Gestalt zu finden. Smuts bezieht sich bei diesem Aspekt auf Hegel.

Aber während sich die Gestalttheorie damit begnügte, Psychologie zu sein, stellte Smuts die These auf, Holismus sei ‚die Struktur des gesamten Kosmos’. Obgleich der Titel seines Buches die Evolutionslehre als zentrales Lehrstück hervorhebt, wird im Verlaufe der Argumentation deutlich, dass auch die Physik und besonders die Relativitätstheorie Albert Einsteins eine tragende Rolle im Konzept des Holismus spielen.

Fritz Perls … fand dort die ihm bekannten gestalttheoretischen Grundsätze wieder, aber sie waren ihrer engen Begrenzung auf ein wissenschaftliches Fachgebiet enthoben und zu einer vollständigen Weltsicht ausgebaut worden … Smuts … zeichnet eine in sich vollkommen harmonische Welt der Ganzheit, der gegenüber die Gestalttherapie die Notwendigkeit von Konflikt und Aggression betont“ (Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Jan Christiaan Smuts und der Holismus. In: Gestaltkritik 1/2007; http://www.gestalt.de/smuts_holismus.html).

Der gelernte Diplomkaufmann, Diplominformatiker, Digitalisierungsexperte und in Gestalttherapie und als Coach fortgebildete Volkmar Koch (vergleiche dazu und zum Folgenden https://heart-at-work.com/volkmar-koch/) ist wohl in der Auseinandersetzung mit Fritz Perls auf dessen Ganzheitsvorstellungen und mutmaßlich auch auf Smuts gestoßen. Nach über zwanzigjährigen Tätigkeit im Management und in der Begleitung von Transformationsprozessen in Unternehmen listet er folgende ernüchternde Fakten in Veränderungsprozessen auf: 

  • „Weniger als 30 Prozent aller ›unternehmerischer Change- bzw. Veränderungsprogramme‹ sind erfolgreich.
  • Viele – bis zu 75 Prozent – aller Strategien scheitern bzw. werden nicht umgesetzt.
  • Bis zu 90 Prozent der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kennen die Strategie des Unternehmens, für das sie tätig sind, nicht, geschweige denn, dass sie sie verstehen.
  • Mehr als 78 Prozent aller Großprojekte scheitern.
  • Je nach Branche erreichen 50 – 80 Prozent der Unternehmenszusammenschlüsse nicht die gesetzten (Fusions-)Ziele. Mehr als 82 Prozent aller Manager wünschen sich grundlegende Veränderung“ (Volkmar Koch S. 11).

Der eigentliche Kern des Problems liegt nach Koch im Fehlen der von ihm holistisch verstandenen Liebe. Aber über Liebe wird in Unternehmenskontexten nicht gesprochen. Deshalb soll seine Publikation dazu helfen, die Tabuisierung der Liebe bei der Unternehmensgestaltung zu überwinden. Anstöße für sein Verständnis von Liebe schreibt er unter anderem so unterschiedlichen Größen und Quellen wie dem Johannes-Evangelium, dem spirituellen Weisheitslehrer Jiddu Krishnamurti (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Jiddu_Krishnamurti), wissenschaftlichen Grenzgängern wie dem russisch-amerikanischen Soziologen Pitirim Sorokin (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Pitirim_Sorokin), dem US-amerikanischen Entwicklungsbiologen und Stammzellenforscher Bruce H. Lipton (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Bruce_H._Lipton), dem deutschen Physiker Hans-Peter Dürr (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Peter_Dürr) und dem deutsch-amerikanischen Psychoanalytiker und Sozialpsychologen Erich Fromm zu (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Erich_Fromm und Volkmar Koch S. 22 f.). Kochs wildes Collagieren und Zusammendenken dieser und weiterer Bezugsgrößen wie Antonio R. Damasio, Gregory Bateson, Heinz von Förster, Niklas Luhmann, Humberto R. Maturana, Rupert Sheldrake, Reinhard Sprenger, Tich Nhat Han, Max Weber, Ken Wilber, und Jon Kabat Zinn im Fokus der Liebe begründet er mit notwendigerweise differenten Zugängen zum einheitlichen schöpferischen Nichts.

Die Welt ist für ihn aus dem schöpferischen Nichts, der reinen Potenzialität, dem Urquell Liebe entstanden. Logisch-deduktives Denken „ist nicht nur aufgrund von Wissensbeschränkungen begrenzt, sondern gleichermaßen durch den Prozess des Erkenntnisgewinns selbst: Deduktives Analysieren und Beschreiben benötigt immer eine Differenz, um etwas zu erkennen und beschreiben zu können … Diese Differenzbildung ist von … Dualität bzw. Polarität geprägt“ (Volkmar Koch S. 115). Die  Trennung der uranfänglichen Einheit in dualistische Pole verführt zu einem Entweder-oder, das nur in der liebenden Annahme beider Pole überwunden werden kann. „Nach der dualistischen Trennung aus einem … schöpferischen Nichts … und allen Erfahrungen in einer dualistischen, polarisierten Welt finden wir durch die Liebe und der mit ihr verbunden Erkenntnis des Einsseins … der beiden Pole bis zum Endpunkt, der Erfahrung der All-Einheit bzw. dem ›Weder-noch‹ im Sinn des Ganzen. Dies ist das Ende des Zustands der Dualität, es ist der Zustand der ›Befreiung‹ oder ›Erlösung‹ – das Nicht-(Mehr-)Differenzierte aus dem auch alles begann, das anfängliche und endliche Paradies“ (Volkmar Koch S.32).

Die jetzt anstehende digitale Transformation der Arbeitswelt sollte deshalb nicht mehr bei den Management-Konzepten des 20. Jahrhunderts, sondern bei der durch Liebe bestimmten achtsamer Führung ansetzen und das mechanistische durch ein holistisches Menschen- und Weltbild ersetzt werden. „Die Digitalisierung gelingt nur dann, wenn wir sie als einen umfassenden Paradigmenwandel verstehen. Sie erfordert, dass wir ein neues Weltbild unserem Handeln zugrunde legen, das auch der Technologie entspricht, auf der Digitalisierung aufgebaut ist: nämlich ein quantenphysikalisches, voller universeller Verbindungen und Wechselbeziehungen, statt eines mechanistischen, voll von objektbezogener Getrenntheit. Und gleichzeitig eine Rückbesinnung auf das, was uns als Menschen von Maschinen unterscheidet – vor allem die Fähigkeit zu fühlen, körperlich zu erleben, empathisch, bewusst, kreativ und, wenn sie sich dem öffnen können, beseelt zu sein. Das Erlernen und Verarbeiten von Wissen sowie algorithmisches Denken können Maschinen besser als wir, und das werden sie uns bald weitgehend abgenommen haben …

Neu hingegen ist meine ganz grundlegende Einsicht, dass Disruption ganz grundlegend immer dort ansetzen kann und wird, wo aus einseitigen Motiven gehandelt wird, wie bei einer zu einseitigen Fokussierung auf die Gewinnmaximierung. Ein solches Handeln findet offensichtlich nicht zu ganzheitlichen und nachhaltigen Lösungen – und wo etwas noch nicht „ganz“ ist, kann und wird es über kurz oder lang besser und erfolgreicher gemacht werden. Und an genau dieser Stelle besteht die Möglichkeit oder auch Gefahr der Disruption durch andere, wenn man dies nicht selbst erkennt.

Oft wird dies von Unternehmen zu spät erkannt und erst dann offensichtlich, wenn äußere Veränderungen stattfinden – beispielsweise durch Technologiesprünge und/oder einen kollektiven Einstellungs- und Bewusstseinswandel. Genau ein solcher Wertewandel hin zu mehr Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung ist derzeit gerade in den jüngeren Generationen zu verzeichnen – und dieser kann angesichts der ebenfalls zunehmenden Transparenz und sozialen Vernetzung durch die Digitalisierung auch großen etablierten Playern im Sinne der Disruption gefährlich werden. Insofern: Kurzfristig mag es für Unternehmen attraktiv scheinen, mehr Gewinn auf Kosten anderer oder auch ›kostenloser‹ natürlicher Ressourcen zu machen. Aber langfristig wird eine Holistic Company, die aus dem Prinzip der Ganzheit und zum Nutzen aller agiert und so Sinn und Gewinn nachhaltig miteinander verbindet, nach meiner Überzeugung erfolgreicher und wettbewerbsfähiger sein – auch wirtschaftlich“. (Das letzte Wort hat_ Volkmar Koch. In karriereführer. Das Jobmagazin für Hochschulabsolvent✫innen 2021.2022: https://www.karrierefuehrer.de/consulting/das-letzte-wort-hat-volkmar-koch.html).

In der Liebe zur eigenen Arbeit, zu Mitarbeitern, Kollegen und Kunden und in holistischem Führungshandeln verschwindet die Angst vor anstehendenVeränderungen und Innovationen. Unternehmen lassen sich darauf ein und beginnen, allen Menschen und der Schöpfung zu dienen. Die Arbeit wird wieder sinnvoll und Menschen übernehmen für sich, für andere und für die Bewahrung der Schöpfung Verantwortung. Nach Koch kann die „Holistic Company“ also Sinnhaftigkeit und Gewinnerzielung verbinden, allen Menschen dienen, den nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg sichern und bislang ungeahnte Potenziale der Unternehmensführung eröffnen. Ob aber Unternehmen allein durch holistisches Führungshandeln und ohne eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Faktor Kapital und die weitere Stärkung der Gewerkschaften und des Faktors Arbeit zu „eierlegenden Wollmilchsäuen“ werden können, ist zumindest offen.

ham, 26. Juli 2021

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