transcript Verlag, Bielefeld, 2021, ISBN: 978-3-8376-5785-2, 467 Seiten, 69 Abbildungen, Broschur, Format 24 x 15,5 cm, 39,00 €
Der 1962 geborene Religionswissenschaftler Volkhard Krech legt in seinem soziologischen Grundriss der Evolution der Religion eine kurze und kompakte Fassung seiner auf drei Bände angelegten Theorie und Empirie religiöser Evolution (THERE) vor. Sie dient ihm zur Selbstvergewisserung im Schaffensprozess und ist für all jene gedacht, die an der Thematik interessiert sind, aber einstweilen noch vor der aufwendigen Lektüre des deutlich umfassenderen Werks zurückschrecken. Krech fundiert die als kommunikatives Zeichensystem verstandene Religion in einer Erkenntnistheorie des Religiösen und denkt die evolutionstheoretische, systemtheoretische und kommunikationstheoretische Annäherungen an Religion in seiner Gesellschaftstheorie zusammen. Er ist sich sicher, dass Religion nicht vom Himmel gefallen ist. Das heißt aber nicht, dass sie Menschenwerken und der menschlichen Psyche entspringen muss. „Sie ist vielmehr als ein gesellschaftlicher Sachverhalt zu verstehen, das heißt als etwas zu begreifen, das zwischen Menschen entsteht und stattfindet“ (Volkhard Krech S. 15).
Krech sieht mit Niklas Luhmann die gesellschaftliche Funktion von Religion darin, „›die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des Welthorizontes in Bestimmtheit oder doch Bestimmbarkeit angebbaren Stils [zu] überführen›“ (Niklas Luhmann nach Volkhard Krech S. 21). Religion überführt Unbeobachtbares in Beobacht-, Beschreib- und Besprechbares, Ausgeschlossenes in Eingeschlossenes, Abwesendes in Anwesendes und damit Transzendenz in Immanenz. „Damit Religion … prozedieren und das Unbeobachtbare beobachten kann, muss die außerweltliche Transzendenz mit weltimmanenten Mitteln dargestellt werden. Das Unbenennbare ist zu benennen, die Einheit der Unterscheidung immanent/transzendent muss einen Namen erhalten. ›Mit diesem Benennen wird das geleistet, was die Religion erst eigentlich zur Religion macht: die Entparadoxierung ihres eigenen Code[s]‹. Als übernatürlich verstandene Mächte und Wesen, Göttinnen und Götter (oder auch ein einziger Gott), Himmel, Paradies, Hölle, Jenseits, Kairos … als günstiger Zeitpunkt für eine Entscheidung, als ›Augenblick, in dem sich Zeit und Ewigkeit berühren‹ usw. – all das sind Beispiele für semantische Konkretionen religiöser Transzendenz, während die immanenten semantischen Korrelate etwa Menschen, die Erde und Existenz von allem im Hier und Jetzt, Alltagserfahrungen sowie als natürlich bestimmte Kräfte und Vorgänge sind. Die Darstellung religiöser Transzendenz mit immanenten Mitteln trifft nicht nur auf Religionen mit Gottesvorstellungen zu, sondern gilt beispielsweise auch für (antike) chinesische Religionen mit Ahnenkult, Divination, Opferpraktiken und dem ›Himmelskult‹“ (Volkhard Krech S. 25). Damit wird Religion als Sinnform zur Bearbeitung unbestimmter Kontinenz begreifbar.
Krech legt nahe, bei der Rekonstruktion religiöser Evolution bei frühen Bearbeitungsformen des Sterbens anzusetzen. „Leben und Tod, Sein und Nichtsein sind die größten Kontingenzen sozio-kultureller Wirklichkeit und werden deshalb – wenn auch nicht nur, aber in besonderer Weise – von Religion bearbeitet. … Der Tod ist einer der wichtigsten Anlässe für die Oszillation zwischen dem ›Diesseits‹ (als dem verräumlichten Bekannten, religiös: dem Immanenten) und dem ›Jenseits‹ (als dem verräumlichten Unbekannten, religiös: dem Transzendenten) sowie zwischen vergegenwärtigtem Erinnern und dem Zeitlosen anheimstellendem Vergessen … Die Tatsache des Todes führt zwar nicht zwangsläufig zu religiöser Kommunikation, ist aber eine Disposition zu ihr, weil es bei Fragen in Bezug auf Sterben und Tod leicht zur Bearbeitung von unbestimmter Kontingent kommen kann. Die ältesten Spuren künstlicher Zeichen innerhalb der sozio-kulturellen Evolution sind ungefähr 430 000 Jahre alt. Spezifisch sinnhafte Zeichenzusammenhänge mit Potenzial für Emergenz von Religion haben sich jedoch – soweit bekannt – erst etwa 330 000 Jahre später gebildet, und zwar insbesondere im Kontext von Bestattungspraktiken“ (Volkhard Krech S. 194 f.).
So wurden in einem Qafzeh genannten Höhlenkomplex in Israel die Reste des Skeletts eines Jugendlichen gefunden, das auf etwa 100 000 vor heute datiert wird (vergleiche dazu https://journals.openedition.org/paleo/4848). „Er liegt auf dem Rücken, mit seitlich angewinkelten Beinen; die Hände befinden sich an beiden Seiten des Halses. Zwischen den Armen liegt ein Teil des Schädels eines Damhirsches … Möglicherweise wurde der Kopf des Hirsches auf den Körper des Heranwachsenden gelegt; es ist aber genauso gut möglich, dass er durch Erderosion in die Nähe des Menschenskeletts gelangt ist. Fachleute deuten das Geweih als Grabbeigabe“ (Volkhard Krech S. 196). Wenn diese Annahme stimmt, könnte die embryonale Haltung, die Bestattung in einer Grube und die Grabbeigabe Vorstellungen vom Beginn und der Weiterexistenz der Person nach dem physischen Tod nahelegen.
Auf Zeit und Überleben bezogen könnte daran gedacht worden sein, dass die Person in einem Zustand weiter existiert, in dem sie sich bereits vor ihrer Geburt befunden hat; in zyklischen Vorstellungen kehrt die Person in gleicher, ähnlicher oder ganz anderer Form wieder (Reinkarnation). In räumlichen Vorstellungen existiert die Person nach ihrem physischen Tod in einer anderen als der bekannten Welt weiter – sei es in der direkten Umgebung wie im Ahnenkult oder an einem fernen Ort, den man später Himmel, Unterwelt oder Hölle genannt hat. „Bei der Entstehung von Vorstellungen nach dem Tod handelt es sich um einen re-entry in die Differenz von Leben und Tod auf der Seite des Lebens … Das Hirschgeweih, das sich in der Nähe des bestatteten Jugendlichen befindet, hat Motivcharakter. Es ist auch Bestandteil späterer steinzeitlicher Höhlenzeichnungen. Im Paläolithikum sind Hirsche zum einen Jagdobjekt und fungieren zum anderen als Gegenstand einer sich allmählich kultisch formierenden Verehrung …Die drei Zeichen GRUBENBESTATTUNG, EMBRYONALE HALTUNG und HIRSCHGEWEIH bergen nicht bereits je für sich genommen ein Potenzial für religiöse Sinnbildung, sondern erst im wechselseitigen Bezug aufeinander, wobei die EMBRYONALE HALTUNG als Zeichen des Anfangs der Ikonizität, die GRUBENBESTATTUNG als Zeichen des Endes der Indexikalität und das HIRSCHGEWEIH als Zeichen der Regeneration als Vermittlung zwischen Anfang und Ende der Symbolizität des semiotischen Arrangements zugeordnet werden kann … Diese Deutung gibt nicht vor, Tatsachen zu rekonstruieren, sondern macht im rekursiven Schlussverfahren ein Potenzial aus, dessen Realisierung sich in spekulativer Hinsicht späteren Zuständen religiöser Evolution verdankt“ (Volkhard Krech S. 197 ff.).
Der zwischen 15 000 und 17 000 vor unserer Zeit zu datierende Vogelmensch aus der Höhle von Lascaux, Frankreich (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Höhle_von_Lascaux#/media/Datei:Lascaux_01.jpg) zeigt einen Jäger, der einen Bison zur Strecke gebracht hat und seinerseits von diesem tödlich verletzt worden ist. Die Wandmalerei wird von dem Bison beherrscht, der dem auf einem Pfahl stehenden Vogel gegenübersteht. Dazwischen liegt der Mensch mit dem Vogelkopf und dem erigierten Penis, ein Mischwesen, das nach seinem Tod aus der Welt des Alltags in die Anderwelt aufsteigt.
“Dafür, dass der liegend dargestellte Jäger als weiterlebend oder wieder lebendig werdend konzipiert ist, spricht neben dem Vogelkopf auch der erigierte Penis, der sich als Hinweis auf sexuelle Potenz und Lebenskraft verstehen lässt … Das Potenzial für spezifisch religiöse Semiotisierung besteht im Pfahl bzw. der Weltenachse. Zusammen mit dem indexikalischen Zeichen Vogel …, das im Falle religiöser Semiotisierung die fremdreferenziell-indexikalische Relation von Transzendenz und Immanenz repräsentiert …, steht der Pfahl … für die Anderwelt als der fremdreferenziellen Transzendenz, die nicht nur die Regeneration der physischen und organischen Umwelt umfasst, sondern auch ein wie auch immer geartetes Konzept einer Existenz des einzelnen Menschen … nach seinem physischen Tod beinhaltet … Aus späterem Material der religiösen Evolution wissen wir, dass … die Weltenachse die Differenz von Tiefe und Höhe aufspannt und für ein Koordinatensystem der Verbindung von oben und unten steht … Dementsprechend gehört die semiotische Verarbeitung der Schwerkraft, des Erhebens, Schwebens, Fliegens, Schwindels und Fallens bereits im Frühstadium religiöser Evolution zur religiösen Semiotisierung im Besonderen und zur Kulturgeschichte im Allgemeinen – vom Motiv des Vogelmenschen über schamanische und gnostische Vorstellungen, außerkörperliche Erfahrungen, Angelologie sowie Auferstehungs- und Himmelfahrtsmotive bis hin zum Batman. Von daher kann in semiotischen Hinsicht der ikonische Aspekt der Darstellung des ›Vogelmenschen‹ im ›Seelenflug‹ nach dem Tod bestehen“ (Volkhard Krech S. 205 ff.).
Die Rekonstruktion der Semiose weiterer prähistorischer Skizzen und Wandzeichnungen wie der eines Menschen mit Hörnern aus der Grotta di Fumane, Verona, ca. 35 000 v. u. Z. (vergleiche dazu http://grottadifumane.eu/publication/view/les-peintures-aurignaciennes-de-la-grotte-de-fumane/), eines tiermenschlichen Wesens aus der Grotte Les Trois-Frères, Ariège, Südfrankreich, ca. 18 000 – 12 000 v. h. (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Drei-Brüder-Höhle#/media/Datei:Pintura_Trois_Freres.jpg) und von Jagdszenen aus dem Mesolithikum kann zeigen, „wie die Beziehung zwischen Jägern, Jagd und Tieren hergestellt wird und wie ›Kultur‹, ›Natur‹ und ›Soziales‹ jeweils die Relation der beiden anderen fundieren … Was mit den Begriffen ›Kultur‹, ›Natur‹ und ›Soziales‹ sehr viel später wissenschaftlich komplex entfaltet wird, ist im elementaren Zeichensystem … als Potenzial bereits angelegt“ (Volkhard Krech S. 226). Mit dem bearbeiteten Schädeldach mit Geweih, Star Carr, Yorkshire, 10. Jtsd v. u. Zeit (vergleich dazu https://www.google.de/books/edition/Excavations_At_Star_Carr/iY48AAAAIAAJ?hl=de&gbpv=1&dq=Star+Carr,+Yorkshire,&printsec=frontcover) und mit der Figurengruppe aus der Caverne du Volp, Ariège, Frankreich, ca. 12 000 v. u. Z., die wohl einen gehörnten Schamanen oder Jäger zeigt, kommt die Ausbildung religiöser Expertenrollen in den Blick, mit den Opferpraktiken, Ritualen und der Erfindung der Schrift die Selbstzentrierung der Religion. In der sogenannten ›Achsenzeit‹ suchen der Konfuzianismus und Daoismus in China, der Jainismus und Buddhismus in Indien, der Zorastrismus und die Propheten im vorderen Alten Orient und die griechische Philosophie im mediterranen Raum nach der letzten Wirklichkeit und einer gesteigerten Form von Transzendenz. Religion wird zunehmend ethisiert. Der Opferkult wird abgeschafft. Das frühe Christentum durchbricht wenigstens prinzipiell den schichtenförmigen Aufbau der Gesellschaft („Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus“ ⟨Galanter 3, 27 f.⟩). Die Frage nach dem letzten Grund des Seins bleibt. „Da Kommunikation ausschließlich zeichenhaft verläuft, ist Gott oder jede andere Semantisierung absoluter Transzendenz gesellschaftlich prinzipiell nicht erreichbar, aber ebenso wenig ist die Gesellschaft symbolisch mit Gott gleichzusetzen … Dafür dass die Gesellschaft nicht gottgleich ist und werden kann, sorgt funktionale Differenzierung, in der Religion eine gesellschaftliche Funktion neben … anderen ist – so auch neben Wissenschaft. Religion und Wissenschaft sind zwei generische Formen der Konstitution von Wirklichkeit“ (Volkhard Krech S. 336)
ham, 19. Mai 2021