Ausstellungsdauer: 3. Februar – 18. März 2023
Der 1965 in Arnsberg geborene und in Berlin lebende Matthias Beckmann zeichnet. Er hat im Deutschen Bundestag, in der Charité, im Kupferstichkabinett, im Neuen Museum, im Humboldt-Forum, im Bode-Museum, im Museum für Technik und in Künstlerateliers in Berlin gezeichnet, in Wunderkammern in Gotha, Ulm, Halle, Kremsmünster und Waldenburg, in der Kunststiftung Erich Hauser in Rottweil, in Bangalore, in Nordheim und Nordhausen und andernorts sonst auch. Aus seinen Zeichnungen in Nordheim und Nordhausen ist seine Serie der Nordheim-Bilder entstanden, aus seinen Zeichnungen im Bode-Museum, im Museum für Technik, im neuen Museum und im ethnologischen Museum im Humboldt-Forum seine Serie der Bilder zur Bibel. Zeichnen ist für ihn eine Tätigkeit wie Klavierspielen, Weinberg – Schneiden oder Brotbacken. Er schätzt am Zeichnen, dass es so unaufwändig ist, wenig Material braucht und auch nicht ewig lange dauert. Wenn er Museen, Städte oder Dörfer porträtiert, ist es ihm wichtig, dass er direkt vor Ort ohne jede Vorzeichnung, ohne fotografische Hilfsmittel und ohne jede Korrektur das zeichnet, was da ist und was er vor sich sieht.
Gerichtszeichner dokumentieren typische Einzelheiten eines Prozesses. Archäologische Zeichner halten die Befunde ihrer Ausgrabungen maßstäblich auf Millimeterpapier fest. Beckmann macht dagegen vor Ort vor allem seine Augen auf, schaut und hält, was er wahrnimmt, linear und relativ direkt mit seinem Druckbleistift 0,5 2 B Faber-Castell auf Din-A-4 Zeichenpapieren fest. Dabei sieht sich der Sauerländer eher als Beobachter denn als Dokumentarist. Wenn ihm ein interessantes Detail auffällt, kann es sein, dass er seine Augenbrauen zusammenzieht und seine Augen aufblitzen, um noch konzentrierter schauen zu können. Er empfängt das ihm Auffallende dann nicht mehr passiv, sondern richtet seinen Blick bewusst auf das Objekt, um es in seinen Umrissen und seiner Größe präzise erfassen und in seine Komposition integrieren zu können. Aber selbst ein solches Detail sticht letztlich nicht weiter aus der Gesamtanlage der Komposition heraus. Auf seinen Blättern bleibt alles gleichwertig. Alles erhält das gleiche Gewicht. Alles steht auf demselben Grund. Hierarchien gibt es nicht. Die gefundenen Formen treten zurück und greifen wie die Teile eines Mosaiks ineinander. Und wenn es dem Zeichner gelingt, die Vielfalt des Gesehenen festzuhalten, das, was plastisch, bewegt, lichtdurchflutet, körperlich und voller Leben ist, legt er den Druckbleistift zur Seite und ist zufrieden.
Zur Lebendigkeit seiner Zeichnungen trägt Beckmanns Spiel mit wechselnden Perspektiven, Ausschnitten, Totalen und Details und der Ortswechsel beim Zeichnen bei. Beckmann zeichnet zuweilen eine ganze Straße und oft auch direkt vor dem Objekt. Häufig entstehen dabei auf den Blättern komplexe Räume und auch sonst Übersehenes bekommt seinen Platz.
Aus Nordheim kommt das neue Rathaus aus der Perspektive des oberen Marktplatzes in den Blick; die beiden Häuser am rechten Rand erscheinen angeschnitten. Am unteren Ende des Marktplatzes fallen die Verkehrsschilder ›20 Kilometer‹ und ›Eingeschränkte Halteverbotszone‹ und ein Blumenkasten auf, vor dem Rathaus der Maibaum mit den Handwerkerschildern. Von der Hauptstraße werden ein Stück Gehweg, geparkte Autos, Straßenlaternen und im Hintergrund das 1593 erbaute alte Rathaus gezeigt. Weiter Marktstände, das 1763 im Rokokostil als Pfarrwohnung und Absteige für Beamte aus Worms fertiggestellte Pfarrhaus in Schrägsicht mit der Sitzbank und dem Blumenkübel rechts neben dem Treppenaufgang, das Innenleben der alten Kelter, die einstens Herzogskelter war, das Backhäusle, der 1990 in seiner jetzigen Form gestaltete Kirchturm der Bartholomäuskirche von der Wassergasse aus, der Glockenstupferbrunnen, der Rathauspark mit dem ökumenischen Gottesdienst vom 17. Juli 2022, dem 1892 im Gaisbühl gefundenen Löwen aus der Römerzeit, dem Mittagsessensangebot des Rathauskellers, Spaziergängern und spielenden Kindern.
Es folgen Zeichnungen aus dem Kindergarten Regenbogen, von Gärten am Katzenbach, vom Kriegerdenkmal, den Soldatengräbern und dem Kreuz der Familien Schwarzkopf, Uhland und Seibold im alten Friedhof, von der Firma Schneider, vom Repair-Café, vom Schlössle, aus dem Verkaufsraum des Weinhauses Nordheim, von den Tank- und Holzfasskellern der Privatkellerei Rolf Willy, von der Dorfstraße, der Kirche, dem Waldensermuseum und dem Waldenserwahlspruch ›Lux lucet in tenebris‹ in Nordhausen, vom Bike-Park und vom Wartturm. Ein Blick auf die Rebflächen, Streuobstwiesen, Äcker und Felder von der ersten Plattform des Wartturms aus ins Land beschließt die Serie. Das Frank’sche Anwesen ist noch zu sehen. Aber Nordheim hat sich im vom Katzenbach gegrabenen Tal mehr oder weniger versteckt.
In der Summe zeichnen die Bilder der Serie ein überaus freundliches Bild.
Beckmanns in der Nordheimer Scheune ausgestellten Bilder zur Bibel schlagen einen weiten Bogen von der Schöpfung von Himmel und Erde im 1. Buch Mose bis zu den Visionen des Sehers Johannes in der Apokalypse. Im Bode-, im Neuen und im Ethnologischen Museum in Berlin gezeichnete Skulpturen und Gemälde und in seinem Atelier in Zeiten von Corona angefertigte freie Zeichnungen und Zeichnungen nach Motiven unter anderem von Albrecht Dürer und Andrea Mantegna werden mit Bibelstellen beschriftet, die im weiteren Sinne mit den Motiven korrespondieren. Die erste Zeichnung dieser Serie zeigt den Zeichner als Schöpfer. Beckmann sitzt mit seinem Druckbleistift und einem Zeichenblatt an seinem Zeichentisch. Eine Kugel spiegelt den Zeichner und den Raum. Unter der Zeichnung wird 1. Mose 1,1 in der Version der Einheitsbibel zitiert: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Einem menschlichen Gehirn und einem Blick in einen aufgeschnittenen Schädel einer weiteren Zeichnung sind Hinweise auf die Lage der Geruchs-, Seh- und Gefühlszentren und das Prophetenwort „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und meine Wege sind nicht eure Wege“ aus Jesaja 55,8 zugeordnet.
Albrecht Dürers Kupferstich ›Ritter, Tod und Teufel‹ von 1513 wird mit einem Spielzeugpferd
getopt und mit Psalm 128, 1 verbunden: „Wohl dem, der den Herrn fürchtet und auf seinen Wegen geht“. Dem im Bode-Museum an einer der Wände installierten zerbrochenen skulpturalen Gekreuzigten ordnet Beckmann Matthäus 27, 28 – 29 zu: „Sie zogen ihn aus und legten ihm einen purpurnen Mantel um“. Ägyptischen Großplastiken aus dem Neuen Museum wird die Zuversicht des Apostels Paulus aus 2. Korinther 4,8 gegenübergestellt „Von allen Seiten werden wir bedrängt, sind aber nicht bedrückt; wir sind oft ratlos, aber nicht kopflos“. Im letzten in Nordheim gezeigten Bild der um die 150 Zeichnungen umfassenden Serie kombiniert Beckmann einen Renaissance-Kopf mit einer Duschflasche in der Form eines Frosches und lädt dazu ein, Offenbarung 16,13 zu lesen: „Dann sah ich aus dem Maul des Drachens und aus dem Maul des Tieres und aus dem Maul des falschen Propheten drei Ungeheuer hervorkommen, die wie Frösche aussahen“.
Auf einem der erläuternden Texte schreibt Beckmann, dass es ihn interessieren würde, was der Theologe zu den Bildern dieser Serie meint. Ich bin ihm bisher eine Antwort schuldig geblieben und antworte jetzt in aller Kürze so: Seine Zuordnung von Bibelstellen zu vorhandenen Bildern entspricht durchaus dem, wie viele Bibelleser mit den Texten der Bibel umgehen. Man hat ja immer etwas im Kopf, wenn man Texte liest, und so auch beim Lesen der Bibel. Vielleicht hat man auch schon gehört, dass sich die Bibel nach Martin Luther selbst interpretiert, wenn man die Bibelstellen miteinander vergleicht und aufeinander bezieht. So habe auch ich die Bibel als Jugendlicher und Jugendleiter in den ersten 1960er Jahren gelesen. Als ich dann nach dem Abitur 1967 und 68 die alten Sprachen Griechisch, Lateinisch und Hebräisch gelernt habe, um beim Theologiestudium Bibeltexte im Urtext lesen zu können, wurde uns von den Spezialisten für das Alte und Neue Testamt im Tübinger theologischen Stift und an der Universität höchst eindrücklich dargelegt, dass es eines ist, seine Gedanken, Vorstellungen und Bilder an die Texte der Bibel heranzutragen und sie auf die Bibel zu projizieren. Aber das sei Eis-Exegese, Hineinlesen in einen völlig anderen Kontext.
Exegese, die Auslegung der Originaltexte erfordere neben der Kenntnis der Sprache auch die Kenntnis der Denk- und Vorstellungswelt ihrer Schreiber, der Umstände ihrer Entstehung, der Zeiträume, in denen die Bücher der hebräischen Bibel und des Neuen Testaments zur Bibel zusammengebunden worden sind. Dazu würde dann noch die Geschichte ihrer Auslegung kommen und schließlich die Etablierung des historisch-kritischen Umgangs mit den Texten. Albert Schweitzer hat 1906 die bis dahin vergeblichen Versuche, dem historischen Jesus nahezukommen, in seiner Geschichte der Leben Jesu-Forschung bilanziert und erklärt, dass Jesu Denken und Handeln nur von der Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Himmelreichs her zu verstehen sei. Deshalb sei es unmöglich, moderne Ideen in Jesus hineinzulegen und sie durch die Neutestamentliche Theologie wieder als Lehen zurückzufordern. Ernst Käsemann, einer meiner Tübinger theologischen Lehrer, ist anders als Schweitzer 1953 in seinem Vortrag „Das Problem des historischen Jesus“ dafür eingetreten, dass man echte Jesusworte finden kann, wenn sie sich weder aus der jüdischen Umwelt noch aus der Lehre des Urchristentums erklären lassen. Die in der Hermeneutik, der Lehre vom Verstehen immer wieder betonte Grenze allen Verstehens spricht nicht dagegen, dass es durchaus sinnvoll ist, die Bibel auch dann zu lesen, auch wenn man an die Grenzen des eigenen Verstehens kommt und nicht alles im ursprünglich gemeinten Sinn versteht. Damit sollte ich aber ans Ende und den Künstler zu Wort kommen lassen.
Helmut A. Müller