C.H.Beck Verlag, München 2022, ISBN 9783406787478, Hardcover gebunden, mit Lesebändchen und Schutzumschlag, 240 Seiten, Format 24,4 x 17,6 cm, € 29,95
Selbstbildnisse gibt es seit der Renaissance; sie sind also keine Erfindung der Moderne. In der Moderne rückt die Gattung aber in den Mittelpunkt. Mit der von dem renommierten Kunsthistoriker Uwe M. Schneede (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Uwe_M._Schneede) jetzt vorgestellten Monografie liegt eine in die Geschichte der westlichen Moderne eingebundene erste Überblicksdarstellung vor. Sie konzentriert sich in ihrem ersten Teil unter dem Motto ›Von der Verhöhnung zur Anerkennung‹ auf Neuerer wie Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Edvard Munch, Käthe Kollwitz, Ottilie W. Roederstein (vergleiche dazu https://www.staedelmuseum.de/de/frei-schaffend), Max Beckmann, Egon Schiele, Frieda Kahlo und Pablo Picasso.
Im zweiten Teil „verlagert sich die Wiedergabe des Selbst im Zuge des gesteigerten künstlerischen Interesses an prozesshaften Kunstwerken – dem Happening, der Aktion, der Performance – hauptsächlich auf Fotografie und Video, die zu adäquaten Medien beim Festhalten des ephemeren Werks wurden … In den Aufnahmen, die hier als Selbstbildnisse erscheinen und behandelt werden, ist der Dargestellte identisch mit dem Autor, das Objekt mit dem Subjekt, der Fotografierte fungiert zugleich als Fotograf. Der Künstler oder die Künstlerin macht sich selbst zum Motiv des Kunstwerks … Um Selbstbildnisse im herkömmlichen Sinn handelt es sich jedoch nicht mehr. Denn es wird nicht das Ich – sei es auch im gesellschaftlichen oder zeitlichen Kontext – ausgelotet, vielmehr tritt der verwandelte eigene Körper als Träger der Bildidee auf. Die Selbstdarstellung, schrieb die Kunsthistorikerin Erika Billeter … 1985, habe nichts mehr zu tun mit Selbstanalyse und kritischer Begleitung des eigenen gelebten Lebens. Nicht mehr die Lebensumstände bewegten die Künstler, sich selbst zu porträtieren, vielmehr nähmen sie ›die eigene Person als Material, um Bilder zu machen‹“ (Uwe M. Schneede S. 149 f.).
Aus der Fülle möglicher Protagonisten werden herausgegriffen Arnulf Rainer und das katatonische Selbst (vergleiche dazu etwa Arnulf Rainer, Face Farce, 1969 und andere. In: https://artinwords.de/arnulf-rainer-retrospektive-in-albertina/), Günter Brus und der Körper als Werk (vergleiche dazu etwa Günter Brus, Selbstbemalung II, 1964. In: https://www.provinz.bz.it/katalog-kulturgueter/de/suche.asp?kks_priref=30002227), Bruce Nauman und seine Frage nach der Kunst als Tätigkeit und nicht als Objekt (vergleiche dazu Bruce Nauman, Biografie. In: https://artinwords.de/bruce-nauman-biografie/), Jürgen Klauke und die Geschlechterfrage (vergleiche dazu Jürgen Klauke, Rot, 1974. In: https://collection.mmk.art/de/nc/werkdetailseite/?werk=2002%2F135), Katharina Sieverding und das Selbstbildnis in endloser Reihung (vergleiche dazu etwa Katharina Sieverding, Die Sonne um Mitternacht schauen, 1972: In: http://www.artnet.de/künstler/katharina-sieverding/die-sonne-um-mitternacht-schauen-iii-a-okvhoYAV2gLGl0WYlyPocw2), Cindy Sherman und ihre kritischen Verkleidungen (vergleiche dazu etwa Cindy Sherman, Untitled 96, 1981. In: https://en.wikipedia.org/wiki/Untitled_96), Marina Abramović und ihre radikalen Performances als Lebensexperiment (vergleiche dazu Marina Abramović, Balkan Baroque. In: https://de.wikipedia.org/wiki/Balkan_Baroque und https://www.moma.org/audio/playlist/243/3126), Andy Warhol und seine perfektionierten Images (vergleiche dazu https://www.pinakothek.de/kunst/andy-warhol/selbstportraet) und schließlich Joseph Beuys und seine Vorstellung der geistigen und gesellschaftlichen Umwälzung durch die Kunst (vergleiche dazu Joseph Heinrich Beuys, La rivoluzione siamo noi, 1972 © VG Bild-Kunst, Bonn 2021: https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs/werk/einzelansicht/7820F7F77614431684B17E858A6AB38D.html).
Schneede fasst seine Übersicht über die Selbstbildnisse der Moderne so zusammen: „Von van Gogh bis Beuys und Sherman wird in den Selbstbildnissen stets nur vom ›willigsten Modell‹ (Corinth) und vom Naheliegendsten ausgegangen, dem eigenen Kopf oder Körper, ob vor dem Spiegel oder in medialer Aufnahme. Aber wie sich gezeigt hat, bekunden Künstler und Künstlerinnen in ihren Selbstentwürfen und Selbstdeutungen weit über die Wiedergabe des persönlichen Aussehens hinaus Leid, Triumph und Aufbegehren ebenso mit individuellem Autonomiebewusstsein wie sie ihr Selbstverständnis, den Kunstanspruch, die bevorzugten Bildmittel und bisweilen auch – wie im Fall Beuys – gesellschaftliche Veränderungsbedürfnisse offenlegen. Deshalb lassen sich die Selbstbilder durchgehend als Programmbilder der Moderne verstehen.
Breitet man dieses ganze Panorama … aus, zeigt sich ein grenzenloser Reichtum an ästhetischen Ausformungen wie an inhaltlichen Bedeutungen und Funktionen der Selbstbildnisse. In Zeiten der täglich millionenfach praktizierten Selfies tut sich um so deutlicher die starke Aussagekraft der in jedem Fall einzigartig verdichteten, individuellen künstlerischen Selbstentwürfe auf. Die … Aussage Max Beckmanns, das Bildnis und damit auch das Selbstbild sei wahrscheinlich die größte Herausforderung der Malerei, lässt sich wohl so deuten: Es handelt zwar ausschließlich vom Allernächsten, hat aber gerade deshalb etwas Unausweichliches, Zwingendes. Selbst wenn das Ich umgestaltet wird, muss das Bild doch stets dicht an der Person bleiben, keine Geschichtchen, keine Hilfsmittel, keine Umwege: Im Bild vom eigenen Kopf und allenfalls Körper muss alles enthalten und versammelt sein, was zur bedeutungsvollen Aussage eines programmatischen Selbstentwurfs vonnöten ist“ (Uwe M. Schneede S. 215).
ham, 4. April 2023