Eine Geschichte des Geschmacks
Verlag C. H. Beck, München 2025, ISBN 978 3 406 83730 2, 480 Seiten, 52 Abbildungen in Schwarz-Weiß und Farbe, Hardcover mit Schutzumschlag, Lesebändchen, Format 21,2 x 14,5 cm, € 36,00
Ulrich Raulff hat sich seinem Großthema einer Geschichte des Geschmacks unter anderem über seinen Vortrag „Mit Luhmann im Dschungelcamp. Über Theorie und Praxis des schlechten Geschmacks“ vom 10. Juni 2021 bei den Marburger Wissenschaftsgesprächen (vergleiche dazu den Link https://uni-marburg.de/zbAMi) und beim Sammeln von ganzen Klassen von schlechtem Geschmack angenähert, um ihm, wie von Niklas Luhmann empfohlen, über seinen Gegenspieler auf die Spur zu kommen (vergleiche dazu das Gespräch von Ulrich Raulff mit Stefan Schlack „Momentan sammle ich ganze Klassen von schlechtem Geschmack“ unter https://www.wiko-berlin.de/wikothek/koepfe-und-ideen/issue/16/momentan-sammle-ich-ganze-klassen-von-schlechtem-geschmack).
Luhmann zufolge hat die Lehre vom guten Geschmack ihre Evidenz nicht in ihren Kriterien, sondern darin, dass es klare Fälle von schlechtem Geschmack gibt. Zwar kann man, wenn man Luhmann folgt, nicht erklären, was Werte sind, „wohl aber verstehen, was sie leisten. Ähnlich verhält es sich mit dem Geschmack. Es ist schwer zu sagen, was er ist. Ja, ob es ihn überhaupt gibt, aber es lässt sich zeigen, was er bewirkt. Oder richtiger, welche Wirkungen ihm zugeschrieben werden. Dies sind fassbare Dinge. Follow the actor, beobachte den Beobachter, achte auf den Sinn der Worte. Notiere, was man zu bestimmten Zeiten dem Geschmack zugeschrieben hat. Was man ihm zutraute, was man ihm abverlangte, seine wahren oder vermeintlichen Leistungen. Auf diese Weise lässt sich das Geschmacksspiel historisch erfassen, vielleicht sogar verstehen. Situativ, materiell, konkret. Eingebettet in historische Lagen“ (Ulrich Raulff, S. 72).
Der 1950 geborene langjährige Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach und derzeitige Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen scheint seinen Geschmack schon in seinem William Shakespeare entlehnten Haupttitel „Wie es euch gefällt“ und im hochwertigen Hardcover und dem zitronengelben Leinen seiner Publikation zu zeigen, dann weiter in den treffend ausgewählten Abbildungen aus der Kunstgeschichte und ihren Erläuterungen, die seine Ausführungen begleiten und Ihnen einen visuellen Anker geben, und schließlich auch in den Vignetten, die die Argumentationsbögen seiner Geschmacksgeschichte eröffnen und einleiten. Raulff wäre nicht Raulff, wenn er in seinem Schlusskapitel nicht auf Audrey Hepburns sicheren Geschmack zurückkommen würde, mit dem er beginnt, und den er dann mit dem von Jackie Kennedy verglicht: Jackie Kennedy „hat am Vassar College Kunst, Literatur und Französisch studiert und war ein Jahr an der Sorbonne, sie ist keine Dilettantin, würde sich aber auch nicht als Kennerin beschreiben. Von Anfang an stützt sie sich auf den Rat und die Kompetenz, nicht zuletzt im Fundrising, des Fine Arts Comitee for the White House, das sie bald nach ihrem Einzug in das Haus einberufen hat. Was sie mitbringt, ist ein ausgeprägt sicherer Geschmack, der sich nicht nur in ihrer exklusiven Garderobe ausdrückt, bei der sie – ganz wie Audrey Hepburn – den Kreationen von Hubert de Givenchy den Vorzug gibt. Ihr Geschmack leitet sie auch bei der Rückverwandlung der Staatsräume der White House Mansion in den Stil eleganter Schlichtheit, der den heroischen Geist der frühen Präsidentschaften von Jefferson bis John Quincy Adams heraufbeschwört“ (Ulrich Raulff, S. 291 f.).
„Coffee to go. Eine Frau im Weggehen“, die Überschrift des ersten Kapitels von Raulffs Publikation, erinnert an den 1961 mit Audrey Hepburn verfilmten Kurzroman „Frühstück bei Tiffany“, der zwei Oscars erhielt. „Fünf Uhr morgens in New York. Alles noch still. Über der Fifth Avenue hängt grau der beginnende Tag. Ein gelber Farbfleck kommt ins Bild und wird größer. Das Taxi hält an, eine junge Frau steigt aus. Schmale Silhouette, hochgestecktes Haar, schwarzes Abendkleid. Handschuhe bis über den Ellbogen. Große Sonnenbrille, breites Perlencollier, ein Nichts von einer Clutch. Menschen auf dem Weg zur Arbeit sehen anders aus. Mit wenigen Schritten steht die Frau vor dem Schaufenster eines bekannten Unternehmens der Luxusbranche. Beiläufig greift sie in eine Papiertüte und entnimmt ihr ein Gebäck und einen Becher Kaffee, während sie gleichzeitig die Auslage des Juweliers studiert. Sie kaut, nimmt einen Schluck und schlendert weiter zum nächsten Fenster. Die Kamera folgt ihr, zeigt sie dann im Gegenschuss aus dem Inneren des Ladens. Weiter geschieht nichts. Eine Dame frühstückt.“
Raulff erläutert: „Ätherisch, wie die Szene ist, verfolgt sie doch einen praktischen Zweck. Sie dient der Abwehr einer aufsteigenden Depression. Immer wenn die Protagonistin spürt, wie das »rote Elend« nach ihr greift, steigt sie ins Taxi und fährt zu Tiffany’s. Vom Anblick der Juwelen und dem »wunderbaren Geruch nach Silber und Krokodillederbrieftaschen« geht eine heilsame Wirkung aus. Diamonds are a girl’s best friend. Luxus ist wie Höhenluft, er fördert die Gesundheit. Die berühmte erste Szene auf der Fifth Avenue zeigt eine therapeutische Séance“ (Ulrich Raulff, S. 7). „Blake Edwards’ Film von 1961 ist früh zum Inbegriff von Coolness und Eleganz geworden. Holly Golightly, gespielt von Audrey Hepburn, besteht vornehmlich aus Stilbewusstsein und einem rückhaltlosen, ihre Liebhaber werden sagen: rücksichtslosen Drang nach Freiheit. Sie hat das Weggehen zu einer Kunstform entwickelt. Ihre Nonchalance dem praktischen Leben gegenüber kennt keine Grenzen; materieller Besitz interessiert sie nur am Rande. Ein Plattenspieler, eine Handvoll Bücher, Orangenkisten als Möbel. Auf ihrer Visitenkarte steht, Berufsangabe und Adresse zugleich, »auf Reisen«. Holly Leichtfuß, the lady is a Tramp“ (Ulrich Raulff, S. 8).
„Zweifellos hat die Coolness der Zweiten Moderne, die nach dem Entfremdungshype der fünfziger Jahre alle existenziellen Probleme zu Designfragen erklärte, zu einer schweren Überforderung der Ästhetik geführt … Aber bis heute ist die Faszination ungebrochen, die von der wunderbaren Leichtigkeit einer reinen Stil- und Geschmackswelt ausgeht … Offenbar haben weder die Verlockungen der sozialen Sicherheit noch die Krisenkatarakte der Gegenwart es geschafft, den Zeitgenossen das intensive Verlangen nach Schönheit auszutreiben. Und damit verbunden das Streben nach ästhetischer Kompetenz. Wer alle Werbeslogans der Welt im Ohr hat, möchte sich doch durch einen individuellen Geschmack auszeichnen. Wer vom Vorübergehen an tausend Marken schon so müde ist, träumt von der Möglichkeit einer eigenen Wahl. Von schönen Dingen, Gärten, Kennerschaft. Schimmernden Perlen und Vinylscheiben auf Orangenkisten.
Was sich über den rätselhaften Komplex von Wissen und Können namens »Bildung« sagen lässt, gilt in ähnlicher Weise auch für das ästhetische Vermögen des Suchens und Findens, das man »Geschmack« nennt. Es ist eine Soft Power, über die zu verfügen sozial hilfreich, aber lebenspraktisch nicht unabdingbar ist. Man kommt auch ohne durch. Marken, Trends und Youtube-Tutorials befreien im Zweifel von den Mühen der Aktualisierung eigener Kompetenz. Wer trotzdem auf Eigenbesitz und Ausübung von Geschmack besteht, muss gute Gründe haben. In der Regel legen sie in sozialem Distinktionsgewinn. Aber auch die Anerkennung, die sich mit Geschmack erwirtschaften lässt, hat mit den Medien ihre Formen und Ausdrucksmittel gewechselt. Längst ist sie nicht mehr auf den Apparat der Sechziger, das Kleine Schwarze, Cocktails und Colliers angewiesen. Sie lässt sich mühelos auch über die Zahlen von Klicks, Followern und Likes realisieren. Der eigentliche Kern, die Ökonomie des Gefallens, bleibt davon unberührt. Erstaunlich ist allerdings, dass etwas gesellschaftlich so Unnötiges und technisch Überholtes wie der Besitz von gutem Geschmack gleichzeitig als erstrebenswert erscheint. Das unterscheidet den Geschmack von der Bildung, die weder unnötig noch überholt ist, aber nur noch selten erstrebt wird“ (Ulrich Raulff, S. 10 ff.).
Der eigentliche Gegensatz des guten Geschmacks ist nach Hans-Georg Gadamer „nicht der schlechte, sondern die völlige Abwesenheit des Geschmacks, die Geschmacklosigkeit. Sie bezeichnet etwas, das der Unterscheidung gut/schlecht vollständig den Boden entzieht, also buchstäblich die Bodenlosigkeit des Geschmacks, das ästhetische Chaos. Mit anderen Worten, Gadamer führt einen dritten Terminus ein, mit dem er einen Bereich benennt, der vollständig außerhalb liegt: die Geschmacklosigkeit als Abgrund des Geschmacks. Er vollzieht eine logische Operation, aber dem Begriff, den er benutzt, »Geschmacklosigkeit«, haften Konnotationen an. Er hat selbst einen Zeitgeschmack: den der fünfziger Jahre. Jahrzehnte später lässt sich daran der Druck des Zeitgeistes bilanzieren. Dank Künstlern und Künstlerinnen wie Jeff Koons und Tracey Emin oder Modeschöpferinnen wie Vivienne Westwood haben Kunst und Design das verfügbare Kapital an ästhetischer Geschmacklosigkeit weitgehend aufgebraucht und die moralischen Restbestände der Politik zur Bewirtschaftung überlassen“ (Ulrich Raulff, S. 13 f.).
In Kapiteln über Winckelmanns Rom, Jeffersons Washington, das Paris um 1800, das viktorianische England und große Tastemaker wie Madame Pompadour und Steve Jobs berichtet Raulff vom Wandel des Geschmacksempfindens bei der Kleidung, dem Wohnen, den Farben, den Blumen, dem Essen und dem Wein. Ein direkter Vergleich der Weine aus dem Nappa Vally mit den Premier Grands Crus Classés aus dem Bordelais am 2. Mai 1976 sah nach dem tasting die Amerikaner bei den Weißweinen und bei den Rotweinen im Vorteil und Frankreichs Presse nach Art einer gekränkten Diva ungläubig und indigniert. War dieses Urteil nicht allzu subjektiv gefärbt? Der Subjektivität der Geschmacksurteile hatten schon die Römer die Einsicht De gustibus non est disputandum entgegengestellt, über Geschmack lässt sich nicht streiten und damit zugleich zugestanden, dass der Streit über Geschmacksurteile nie aufhören wird. Es gibt viele Geschmäcker und möglicherweise hat jeder und jede einen anderen. Damit wird der Geschmack zur Verhandlungssache. Selbst das Auffinden der Geschmacksknospen auf der Zunge, im Gaumen, Rachen und in der oberen Speiseröhre und der Geschmackspapillen an Zungenspitze, Zungenrändern und Zungenrücken änderte nichts daran, dass es schwer bleibt, über Empfindungen des Geschmacks, des fünften der Sinne, vernünftig zu reden.
Erst der Streit über die Wertigkeit des wegen der hohen Temperaturen früh geernteten Jahrgangs 1982 setzte neue Maßstäbe: Die hohen Temperaturen hatten einen Wein entstehen lassen, der sich „durch ein ungewöhnlich hohes Maß an Fruchtzucker, Fülle und Körper auszeichnete. Sein Charakter war untypisch für das zwischen Atlantik und Gironde liegende Médoc und seine eher trockenen und klaren Rotweine mit ihrem höheren Cabernet- und geringeren Merlot-Anteil. Einhellig waren die Weinkenner der Ansicht, der Jahrgang werde schlecht altern und keinesfalls zu den großen zählen. Nur ein noch junger Weinkenner, der Amerikaner Robert Parker, Herausgeber des zweimonatlich erscheinenden »Wine Advocate«, scherte aus der Phalanx aus und bescheinigte dem Jahrgang ’82 überragende Qualität und beste Entwicklungschancen. Parker behielt Recht und stieg auf zum berühmtesten und einflussreichsten Weinkritiker der Welt. Die »Park-Punkte«, die er vergab – auf einer Skala von eins bis hundert –, setzten Qualitätsstandards und bestimmten Preise. Parkers Reputation als unbestechlicher Anwalt der Qualität ließ ihn zu einem tasting comitee in einer Person werden, einem Hegemon des Geschmacks, dessen Urteil bis heute über das Schicksal ganzer Jahrgänge und Weinbauregionen entscheidet“ (Ulrich Raulff, S. 323 f.).
Kant hat das Problem entsprechend seiner Zeit und der Tradition seines Faches als Logiker angegangen und nicht von Aussagen, sondern von Urteilen gesprochen. Urteilen meint bei ihm die Dezision. In seiner »Kritik der Urteilskraft« untersucht er Struktur und Genese des Geschmacksurteils, unabhängig von den Gegenständen und Substanzen, die es betrifft, unabhängig auch von den somatischen Rezeptoren des Geschmacks. „In seinem Empfinden ist jeder Mensch eine Insel. Nie ist er einsamer als in seinem Schmerz, nie solitärer als in seiner Lust und seinem Geschmack. Will er das Eiland, egal, wie öde oder glücklich, verlassen, muss er ins Boot der Sprache steigen und den Ozean der Kommunikation befahren. Robinson muss reden.
Es sei ein Zeichen von Humanität, erklärt Kant, dass wir ein »allgemeines Teilnehmungsgefühl« kennen, und dass wir, zweitens, die Fähigkeit besitzen, uns »innigst und allgemein mitteilen zu können«. Die Benutzer des Internets und des globalen, instantanen Austauschs, den es ermöglicht, haben ihre Lektion gut gelernt. Sie sind Kinder der Kommunikation, Schüler des nie endenden Gesprächs. Immer noch gilt es, Entscheidungen zu treffen, doch sie sind ephemer und passager geworden, kurzlebig in ihrer radikalen Subjektivität. Ihre Haltbarkeitsdauer ist gegen null gegangen und ebenso ihre Verbindlichkeit. Geschmacksurteile unterwerfen sich nicht einem logischen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern den Standards fluktuierender Geschmacksgemeinschaften. Diese können aus zwei Personen bestehen oder, wie bei Ikonen der Popwelt wie Lady Gaga und Taylor Swift, aus Hunderten Millionen von Followern. Sie entstehen nicht mehr nach logisch geregelten Wahrheitsverfahren, sondern aufgrund von Anschlüssen und Ausschüssen, über die Tech-Konzerne verfügen und denen Algorithmen zu Grunde legen. Sie erneuern sich, stabilisieren sich, zerfallen aufgrund von Teilungsprozessen, die Mitteilungsprozesse sind. Man teilt anderen mit, wofür man Sympathie oder worauf man Appetit verspürt; ein Klick genügt, um mitzuteilen, wozu man augenblicklich tendiert. Man hat mitgeteilt, was man mag. Das Mögen ist zur global konvertierbaren Währung geworden, Kleingeld des Netzes“ (Ulrich Raulff, S. 330 f.).
Nach Ulrich Raulff ist der Weg vom Geschmack ins Imaginäre „eine breite, von Versprechungen gepflasterte Straße, der Weg ins Reale ein schmaler Pfad, der abrupt an einer Klippe endet. In seiner »Soziologie der Mahlzeit« hat der Philosoph Georg Simmel die Absturzstelle deutlich markiert. Der Grund, sagt Simmel, weshalb man sich in den Geschmack eines anderen Menschen nicht hineinversetzen kann, ist einfach und krude. Gerade das, was allen Menschen gemeinsam ist, nämlich, dass sie essen und trinken müssen, liegt als unüberwindlicher Graben zwischen Ihnen. Alles lässt sich teilen, nur das Essen und Trinken nicht: »Was ich denke, kann ich andere wissen lassen; was ich sehe, kann ich sie sehen lassen; was ich rede, können Hunderte hören – aber was der einzelne ißt, kann unter keinen Umständen ein anderer essen. In keinem der höheren Gebiete findet dies statt, dass auf das, was der eine haben soll, der andere unbedingt verzichten muss.«
Diese rabiate Ausschließlichkeit hat dazu geführt, dass rund um den Akt des Essens und quer durch alle Kulturen eine Fülle von Riten der Tafel und der gemeinsamen Einnahme der Mahlzeit aufgeblüht ist. So dass das Miteinander-Essen zu einem elementaren und universalen Akt der Vergesellschaftung, der Bekräftigung der Freundschaft und Zusammengehörigkeit werden konnte. Über einem realen Minus-Pol, einem Moment radikaler Privation – jedes Reiskorn lässt sich nur einmal essen – ist eine positive Masse symbolischer Handlungen entstanden. Eine Pyramide kultureller Akte und Bedeutungen“ (Ulrich Raulff, S. 332 f.).
Beim Nachdenken über die Geste des Brotbrechens, an der die Emmausjünger ihren von den Toten auferstandenen Herrn erkennen, und bei der Erläuterung eines Stilllebens gemalter Speisen des Amsterdamer Malers Pieter Aertsen bemerkt ein scharfsinniger Kunsthistoriker, dass das Leben mehr ist als die Speise. „Das Brot lässt sich brechen, die Speise lässt sich teilen, aber was geschieht mit dem Leben. Dem Leben des Herrn, dem Geist der Gemeinde. Brot und Wein sind, was sie sind, Speise und Getränk, materielle Substanzen, aber sind sie auch, was sie bedeuten. Als solche sind sie der Leib Christi und sein Blut; der Moment der Wandlung lässt sie dazu werden. Doch was genau sagt dieses Werden? Bedeutet es, wie die Kirche des Hochmittelalters es wollte, dass sich Brot und Wein substanziell verändern? Oder werden sie, reformatorisch gedacht, im Abendmahl zu Zeichen für die reale, wenngleich sinnlich nicht wahrnehmbare Anwesenheit des Herrn? Dass das christliche Abendmahl die Gegenwart Christi erfahrbar macht, steht außer Frage, die Frage ist, wodurch es sie fühlbar, schmeckbar macht: durch Zähne, Mund und Lippen oder durch den Geist der Gläubigen.
Neben dem großen Gastmahl gibt es fünf weitere Gastmähler im Neuen Testament; es ist, als müsste die Vorstellung von einer »geistlichen Speise« (Luther), unsichtbar, wie sie ist, förmlich eingeübt werden. Als müssten die Adressaten der Evangelien eine Schule besuchen, die sie lehrt, die Symbole zu buchstabieren, auf dass sie erkennen, was dahinter liegt. Hinter der sichtbaren Welt. In Emmaus liegen die Dinge noch anders. Der Auferstandene selbst ist es, der das Brot bricht. Es ist eine Schlüsselszene, eigenhändig führt Jesus die symbolische Geste aus, die er ihnen beim Abendmahl aufgetragen hat: »Dies tut zu meinem Gedächtnis.« Die Geste wird zum Ausweis seiner Identität: »Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn.« Im nächsten Augenblick ist er verschwunden“ (Ulrich Raulff, S. 333 f.).
In seinem weiteren Durchgang durch die Geschichte des Geschmacks kommt Raulff noch einmal auf Kant zu sprechen, der durchaus kein Kostverächter war und weder den Wert guten Essens noch den des Weines unterschätzt hat. Im Gegenteil, der Wein löst die Zunge, er »öffnet … auch das Herz und ist ein materiales Vehikel einer moralischen Eigenschaft, nämlich der Offenherzigkeit«. Aber Kant will nicht bei dem Vehikel stehenbleiben. Der erste Zweck der Tafelrunde bleibt das Gespräch, die Konversation. „Deshalb schreibt Kant kein Kochbuch und gibt in seiner Vorlesung keine Weinempfehlungen. Wohl aber notiert er Rezepte für eine gelingende Kommunikation. Seine Ratschläge betreffen die Zahl der Kommensuralen (nicht unter drei, nicht über neun) und den Gesprächsverlauf. Man beginne mit dem Erzählen, gehe weiter zum »Räsonieren«, sprich Argumentieren, wenn nötig auch Streiten, und ende mit dem Scherzen und Lachen. So sind alle drei großen Funktionen der Rede, Ausdruck des Geschehenen, Formulierung eines Urteils und freies Spiel der Sprache, unter einem Hut. Die Themen des Gesprächs sollten alle interessieren, peinliche Pausen sind zu vermeiden, ebenso sprunghafte Themenwechsel oder Rechthaberei: All dies wären Geschmacklosigkeiten“ (Ulrich Raulff, S. 352).
Auf seinen letzten Seiten blättert Raulff Max Ernsts Karte „Europa nach dem Regen I“, 1933, Kunsthalle Karlsruhe, auf (vergleiche dazu https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Max-Ernst/Europa-nach-dem-Regen-I/CC26727040B68A537D91709DFB37B2A0/)und leitet aus ihr die These ab, dass die Fähigkeit, das Schöne im Fremden zu erkennen und sich anzuverwandeln, zu einem genetischen Merkmal des europäischen Geschmacks geworden ist. „Auf der surrealistischen Karte von Max Ernst erinnert die Gestalt des westlichen Europas an ein gekrümmtes, über seine Beute gekauertes Tier. Der europäische Geschmack erschien wie ein schönes Tier, in dem noch alte Raubtierinstinkte lebendig waren. Geschmack, wie die seefahrenden, welterobernden und ausbeutenden Europäer ihn entwickelt hatten, war ein bestimmter, entschiedener Zugriff gewesen, nicht vergleichbar der entspannten Auswahl an einer Kuchentheke. Die Entwicklung des europäischen Geschmacks hatte im Einklang mit seinem Weltverhalten gestanden, seinem Selbstverständnis als Kommissär des Weltgeists. Sein Geschmack war eine der steuernden Kräfte gewesen, die es auf diesem Weg gelenkt hatten, ein kybernetisches Implantat, ähnlich, stark oder schwach wie sein Verstand und seine Moral. Er hatte den Europäern geholfen, ihre ästhetischen Entscheidungen zu treffen: was ihnen gefiel, was sie ansprach, was sie haben wollten. Ein Räuberauge und ein Kaufmannsinstinkt. Eine Grubenlaterne in einer Welt dunkler Gefahren und ungekannter Schönheiten“ (Ulrich Raulff, S. 413 f.).
Der in der Mystik der frühen Koranschulen, namentlich des Sufismus, notierte Übersprung vom Schmecken einer Speise oder eines Getränks durch Zunge und Mund in den Innenraum des Körpers und damit zur spirituellen, zur Herzenserfahrung ging den Europäern verloren. „Die europäische Vorstellung. vom Geschmack war ein Geschöpf der Aufklärung; das Tor zur Transzendenz blieb ihr verschlossen. Ihre Kompetenz entfaltete sich auf säkularen Ebenen, der persönlichen wie der systemischen. Dem molekularen Niveau der Individuen und dem molaren der Gesellschaft und der Geschichte. Das spirituelle Niveau war ihr abhanden gekommen. In der Kommunion der christlichen Kirchen mochte Gottes Sohn noch ein Gegenstand des Schmeckens sein; einer des Geschmacks war er nicht mehr. Von einem süßen Jesus wusste nur noch die Volksfrömmigkeit“ (Ulrich Raulff, S. 415 f.).
An die Stelle der Menschen des 18. Jahrhunderts, die meinten, sie bräuchten so etwas wie einen Sinn oder Instinkt für die Schönheit und die Freiheit, traten „andere Subjekte, virtuelle Verführer, nicht-menschliche tastemaker. Rechner, Probabilisten und Künstliche Intelligenzen, die ihre Netze in die Zukunft auswarfen, um den Geschmack der kommenden Zeit einzufangen. Um ihn zu programmieren, vorauszuschreiben. Zunächst als bescheidene Analogiker auftretend – »wer dieses Produkt gekauft hat, interessiert sich auch für jenes« –, wurden sie mit der Zeit selbstbewusster und entwarfen neue, unwiderstehliche Muster, in die sich der Geschmack der erwarteten Kundschaft ergießen sollte. Präzise erfasst, nach Alters-, Einkommens- und Anspruchsniveau differenziert, zeichneten sich die nächsten Etappen des Geschmacks ab. Sämtliche Features des Glücks ließen sich rechnerisch ermitteln und im Angebot einpreisen. Der Geschmack von morgen, nichts als eine Frage von Daten … Die KI als Erzieherin, warum nicht? Noch denkt sie wie Sie, bald schon werden Sie denken wie sie“ (Ulrich Raulff, S. 416 f.).
Ist dann aber nicht das ganze Nachdenken über den Geschmack nutzlos? „Wie jetzt erklären, warum man nicht bereit war, den Geschmack ins Antiquariat zu tragen. Wie erklären, dass man, nach allem, was passiert war, den Geschmack immer noch für eine große Sache hielt. Eine unerledigte Affäre. Eine der besten Ideen, die die Europäer in den letzten drei Jahrhunderten gehabt hatten. Irgendwann sieht man ein, dass man den Standpunkt der Betrachtung wechseln muss. Den Geschmack nicht von irgendwelchen Objektlagen her beschreiben, von seiner Affinität zu bestimmten Stoffen und Artefakten, Kunst und Kunstgewerbe. Oder Luxusartikeln. Sondern von seiner Struktur her, seiner Herkunft und seinen Bewegungen. Seiner Topologie, seinem Aktionsraum“ (Ulrich Raulff, S. 419).
Zwar hatte der europäische Geschmack in der frühen Neuzeit seine Verbindung zur Mystik verloren. „Was er hingegen nicht verloren hatte, war sein Draht »nach unten«: seine Verbindungen in die dunkleren Zonen des Wissens, zu seinen Wurzeln im vorepistemischen Bereich. Sprich: vor dem Raum der deutlichen, artikulierten Vorstellungen, dem Raum dessen, was wir meinen, wenn wir von Denken sprechen. In diesem Bereich des tentativen Geistes, in dem die Trennung des Verstandes von den Sinnen und ihrem Gespür noch nicht vollzogen war, ist auch der Geschmack zu Hause – Teil unserer »erkennenden Begabung«, die nicht der Kontrolle des Verstandes unterliegt. Auslöser für Bewegungen in diesem Raum können … Stimmungen sein, die von unterschwelligen Momenten wie der Schrift auf einer Fensterscheibe ausgelöst wurden. Sie kommen »von außen« und entstammen, so der Philosoph, Wolfram Hogrebe, »nicht unserer eigenen Fabrikation«. Peter Handke pflegt in diesem Zusammenhang von seinen »Anflügen« zu sprechen …
Der erkennende Geschmack operiert in einer Zone vor der Schrift. Er verlässt sich auf seine Witterung, sein Flair. Daher seine schon früh bemerkte Wendigkeit und das nicht selten Erratische seiner Wahlen: »kann dunkel und ohne Gründe seyn, wie mit allen ersten und schnellen Eindrücken zu geschehen pfleget.« Daher auch seine Sicherheit, seine absolute Bestimmtheit: das da und nichts anderes. Wer den Geschmack nicht von den Objekten seines Begehrens her auffasst, sondern von seiner epistemischen Natur, gewinnt ein neues Bild von ihm. Es ist das eines zärtlichen und leichtfüßigen Empirikers, begabt mit dem diskriminierenden Sinn für die Nuance. So hat schon Edmund Burke ihn geschildert, so Winckelmann. Es ist daher nur ein Schritt, die Urteilsfunktion, ohne die der Geschmack nicht zu haben scheint, ganz zu suspendieren … Der Geschmack ist ein Aufsteiger, kein Zweifel. Aber er ist es nicht im Sinn der Klassensoziologie. Er ist ein aufsteigendes Wissen, auftauchend aus den dämmrigen Tälern der Seele, von denen nur die Musik spricht und die Mantik einige Erkenntnis hat“ (Ulrich Raulff, S. 419 ff.).
ham, 31. Oktober 2025.